Kassenarztvergütung
Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnung von Arzneimitteln
Erstmalige Überschreitung der Richtgrößen
Kein regressfreier Zeitraum
Auslegung eines Vergleichsvertrags
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Festsetzung eines Regresses wegen unwirtschaftlicher Verordnung von Arzneimitteln auf der
Grundlage der Richtgrößenprüfung für 2004. Dabei wenden sich die klagenden Krankenkassen dagegen, dass der Beklagte gegenüber
dem zu 1. beigeladenen Vertragsarzt lediglich eine Beratung festgesetzt hat.
Der Beigeladene zu 1. nimmt als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Praxissitz in G. (H.) an der vertragsärztlichen
Versorgung teil. Im Rahmen von Richtgrößenprüfungen für die Jahre 2002 und 2003 stellte der Beklagte fest, dass der Beigeladene
zu 1. das Richtgrößenvolumen um jeweils mehr als 25 % überschritten hat, ohne dass dies durch Praxisbesonderheiten begründet
gewesen ist. Er setzte einen Regress iHv 8.490,07 Euro für 2002 (Bescheid vom 10. Dezember 2009) und iHv von 2.335,61 Euro
für 2003 fest (Bescheid vom 19. Mai 2011). Der Beigeladene zu 1. erhob gegen beide Bescheide Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover (Az S 24 KA 719/09 und Berufungs-Az L 3 KA 27/11 (2002) bzw S 65 KA 368/11 (2003)).
Im Jahr 2004 verordnete der Beigeladene zu 1. bei insgesamt 6.503 Patienten Arzneimittel im Gesamtwert von (brutto) 149.577,52
Euro. Wegen einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens von 193,23 % leitete der Prüfungsausschuss Niedersachsen gegen ihn
eine Richtgrößenprüfung ein, die zum Bescheid des Prüfungsausschusses Niedersachsen vom 22. November 2007 führte. Dort wurde
zu Lasten des Beigeladenen zu 1. ein Regress in Höhe von 14.442,17 Euro festgesetzt, wobei anerkannte Praxisbesonderheiten
iHv 61.601,03 Euro berücksichtigt worden waren.
Gegen diesen Bescheid legte der Beigeladene zu 1. am 27. November 2007 Widerspruch ein. Mit Schreiben des Beklagten vom 8.
August 2013 wurde der Prozessbevollmächtigte des Beigeladenen zu 1. über die Anforderungen der Rechtsprechung zur Geltendmachung
von Praxisbesonderheiten informiert und ihm Gelegenheit gegeben, den bisherigen Vortrag angesichts dessen noch einmal zu überprüfen
und ggf zu ergänzen. Außerdem wurde mitgeteilt, dass sich der Beklagte in seiner Sitzung vom 14. Dezember 2012 mit der Änderung
des §
106 Abs
5e Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) - "Beratung vor Regress bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens auch für Verfahren, die am 31. 12. 2011 noch
nicht abgeschlossen waren" - befasst habe. Er sei zu dem Ergebnis gelangt, dass nach der Durchführung der Richtgrößenprüfung
2004 maximal eine Beratung iS des §§
106 Abs
5e SGB V als Maßnahme festzusetzen sei.
Der Beigeladene zu 1. machte daraufhin Praxisbesonderheiten (schmerztherapeutische Ausrichtung, Behandlung von Osteoporose-
und rheumatologischen Patienten, überdurchschnittlich häufige Teilnahme am Bereitschaftsdienst, besonders kostenintensive
Patienten und Verordnung von Antiepileptika) sowie Mängel des der Prüfung zugrunde liegenden Datenmaterials geltend; außerdem
seien die freiwillig versicherten Rentner gesondert zu berücksichtigen.
Im Verlauf des Widerspruchsverfahrens schlossen der Beigeladene zu 1. und der Beklagte in der im Verfahren S 65 KA 368/11 anberaumten mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 22. Januar 2014 folgenden Vergleich:
"1. Der Beklagte reduziert den Regress in diesem Verfahren betreffend die Richtgrößenprüfung für das Jahr 2003 auf den Betrag
in Höhe von 1.167,80 EUR und im Verfahren L 3 KA 27/11 betreffend die Richtgrößenprüfung für das Jahr 2002 auf den Betrag in Höhe von 4.245,03 EUR. 2. Der Kläger und der Beklagte
tragen die Kosten dieses Verfahrens je zur Hälfte mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen; diese tragen die Beigeladenen
selbst. 3. Der Kläger kündigt an, die Berufung zum Aktenzeichen L 3 KA 27/11 beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen betreffend die Richtgrößenprüfung für das Jahre 2002 im Falle der Wirksamkeit
dieses Vergleichs zurückzunehmen. 4. Die Beteiligten behalten sich den schriftlichen Widerruf dieses Vergleichs bis zum 5.
Februar 2014, Eingang bei Gericht, vor."
Der Vergleich wurde wirksam. Der Beigeladene zu 1. nahm daraufhin seine Berufung im Ver-fahren L 3 KA 27/11 zurück.
Mit Bescheid vom 24. Juni 2014 gab der Beklagte dem Widerspruch zum Jahr 2004 insoweit statt, als eine Beratung gem §
106 Abs
5e SGB V festgesetzt wurde; im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Anzuerkennen seien lediglich Abzüge wegen Datenfehler
in Höhe von 2.671,52 Euro und Praxisbesonderheiten nach Anl 3.1 der Richtgrößenvereinbarung (RGV) iHv 448,34 Euro. Weitere
Praxisbesonderheiten seien nicht substantiiert vorgetragen worden. Wegen des Verböserungsverbots müsste ein an sich festzusetzender
Regress in Höhe von 55.438,18 Euro auf 14.442,17 Euro begrenzt werden. Da es sich nach der Änderung des §
106 Abs
5e SGB V zum 26. Oktober 2012 um eine erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens handele, setze der Beklagte im Hinblick auf
die Rechtsprechung des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg (Hinweis auf den Beschluss vom 19. Februar 2013 - L 5 KA 222/13 ER-B) eine Beratung fest.
Hiergegen haben die Kläger am 10. Juli 2014 Klage zum SG Hannover erhoben, mit der sie gerügt haben, dass der Beklagte unter
Zugrundelegung der Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg zu Unrecht eine "Nullstellung" in der Weise vorgenommen habe,
dass die unwirtschaftlichen Richtgrößenüberschreitungen nach dem 25. Oktober 2012 nur zu einer Beratung führen könnten. Das
Schreiben des Beklagten vom 8. August 2013, in dem dementsprechend die Beschränkung auf Beratungen angekündigt worden sei,
könne auch nicht als Zusicherung iSd § 34 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ausgelegt werden. Der Abschluss eines Vergleichs im Vorjahr stehe der Annahme einer erstmaligen Überschreitung der Grenze
von 25 % über der Richtgröße nur dann nicht entgegen, wenn Inhalt des Vergleiches die Anerkennung von Praxisbesonderheiten
mit der Folge sei, dass die danach verbleibende Überschreitung weniger als 25 % betrage. Daraus folge, dass in dem geschlossenen
Vergleich aufgeführt und somit positiv hätte festgestellt werden müssen, dass die Reduzierung des Regressbetrags Folge der
Anerkennung von Praxisbesonderheiten gewesen sei und die danach verbleibende Überschreitung weniger als 25 % betragen habe.
Die Beigeladenen haben erstinstanzlich keinen Antrag gestellt, in der Sache aber die Auffassung vertreten, dass das Schreiben
vom 8. August 2013 eine Zusicherung oder sogar die eigentliche Entscheidung über die Festsetzung einer Beratung gewesen sei.
Die Feststellung einer tatsächlichen Überschreitung der Richtgrößen über 25 % sei dem Wortlaut des Vergleichs vom 22. Januar
2014 eindeutig nicht zu entnehmen. Vielmehr sprächen sämtliche Umstände dafür, dass Inhalt des Vergleiches die Anerkennung
von Praxisbesonderheiten mit der Folge gewesen sei, dass die danach verbleibende Überschreitung weniger als 25 % betrage.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 3. Februar 2016 abgewiesen. Der Beklagte habe im Ergebnis zu Recht nur eine Beratung festgesetzt.
Denn §
106 Abs
5e S 1
SGB V sehe für die erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % zwingend eine solche Festsetzung vor. Allerdings
stehe eine vorangegangene Überschreitung iS dieser Vorschrift nach der Rspr des Bundessozialgerichts (BSG) nicht entgegen, wenn das Verfahren durch eine vergleichsweise Regelung beendet worden sei, sofern dies die Tatsache einer
Überschreitung des Regelleistungsvolumens nach Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten um mehr als 25 % als solche unangetastet
lasse. Dem Vergleich vom 22. Januar 2014 könne jedoch keine entsprechende Feststellung entnommen werden. Dies ergebe die Auslegung
des Vergleiches unter Berücksichtigung des tatsächlichen (übereinstimmenden) Willens der beteiligten Akteure. Dabei sei erfahrungsgemäß
der ausdrücklichen Feststellung einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens von 25 % bei Vergleichsabschlüssen keine besondere
Bedeutung zuzumessen. Die Umstände sprächen vielmehr dafür, dass ein maßgebliches Interesse des Beklagten bei Vergleichsschluss
die Vermeidung einer erneuten Prüfung der Wirtschaftlichkeit gewesen sei. Im Hinblick auf die Charakteristik eines Prozessvergleichs
sei davon auszugehen, dass die zwischen den Beteiligten bestehende Ungewissheit über das Vorliegen einer Unwirtschaftlichkeit
auch nicht habe beseitigt werden sollen. Im Übrigen komme dem Schreiben vom 8. August 2013 bzw der dem zugrunde liegenden
Beschlussfassung des Beklagten vom 14. Dezember 2012 keine bindende Wirkung zu.
Gegen das ihnen am 15. Februar 2016 zugestellte Urteil haben die Kläger am 14. März 2016 Berufung vor dem Landessozialgericht
(LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Das SG habe aus dem Wortlaut des für 2002 und 2003 abgeschlossenen Vergleichs zu Unrecht den Schluss gezogen, dass eine bisher zwischen
den Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Sach- und/oder Rechtslage auch nicht habe beseitigt werden sollen bzw nicht
beseitigt worden sei. Denn diese Schlussfolgerung bedeute im Ergebnis, dass nunmehr doch eine Gewissheit über die Rechtslage
geschaffen worden sei, indem nun keine Erstüberschreitung vorliegen solle und dies Auswirkungen auf Überschreitungen des Richtgrößenvolumens
für die Folgejahre haben würde. Da die Frage, inwieweit die 25%ige Überschreitung des Richtgrößenvolumens weiterhin besteht,
in der damaligen mündlichen Verhandlung nicht besprochen worden sei, sei sie iS der BSG-Rspr "unangetastet" geblieben.
Die Kläger beantragen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. Februar 2016 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 24. Juni 2014
abzuändern,
2. den Beklagten zu verurteilen, den Widerspruch des Beigeladenen zu 1. auch im Übrigen zurückzuweisen und einen Regress in
Höhe von 14.442,17 Euro festzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Entgegen der Auffassung des SG sei allerdings dadurch, dass in dem Vergleich für 2002 und 2003 an einem - reduzierten - Regress festgehalten worden sei,
konkludent auch die Feststellung erfolgt, dass die Überschreitung des Richtgrößenvolumens immer noch bei mehr als 25 % liege.
In dem Verfahren der Richtgrößenprüfung 2002 und 2003 sei lediglich noch die Quantifizierung der anerkannten Praxisbesonderheiten
der Höhe nach streitgegenständlich gewesen.
Der Beigeladene zu 1. beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 2. stellt keinen Antrag. Sie weist darauf hin, dass es sich bei dem 2014 abgeschlossenen Vergleich nicht
um eine Regelung iSv §
106 Abs
5a S 4
SGB V handele. Eine förmliche Feststellung darüber, ob die Überschreitung der Richtgrößenvolumen nach Reduzierung der Regresse
für 2002 und 2003 noch mehr als 25 % betragen habe, gebe es nicht. Im Übrigen hätten die betroffenen Ärzte auf die Mitteilung
des Beklagten vertrauen können, dass im Rahmen der Richtgrößenprüfung für 2004 allenfalls Beratungen anzusetzen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten
des Beklagten sowie der ebenfalls beigezogenen Archivakten des SG Hannover S 24 KA 719/09 und S 65 KA 368/11 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Kläger ist zulässig, aber unbegründet. Das SG Hannover hat ihre im Juli 2014 erhobene Klage zu Recht abgewiesen.
1. Die Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)) statthaft. Regelmäßig sind Bescheide im Verfahren der Richtgrößenprüfung nach §
106 Abs
2 S 1 Nr
1, Abs
5a ff
SGB V zwar mit der Anfechtungs- und Bescheidungsklage (§
54 Abs
1 SGG iVm §
131 Abs
3 SGG analog) anzugreifen, weil dem beklagten Beschwerdeausschuss bei der Erteilung eines neuen Bescheids Beurteilungsspielräume
im Hinblick auf die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten zustehen (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 11 und Nr 41). Vorliegend haben die Kläger ihr Klageziel aber ausdrücklich darauf beschränkt, anstelle der im Bescheid
vom 24. Juni 2014 als Rechtsfolge festgesetzten Beratung die Feststellung eines Regresses in Höhe von 14.442,17 Euro zu erwirken,
der angesichts der festgestellten Überschreitung der Richtgröße für 2004 um 187,12 % (und unter Berücksichtigung des Verbots
der reformatio in peius) an sich als gegeben angesehen worden ist. Der hierfür maßgliche Rechtssatz - §
106 Abs
5e S 1
SGB V - räumt den Prüfgremien bei der Entscheidung, ob ein Regress festzusetzen ist oder eine individuelle Beratung erfolgt, aber
weder einen Beurteilungs- noch einen Ermessensspielraum ein. Angesichts der somit rechtlich gebundenen Entscheidung scheidet
im vorliegenden Fall eine bloße (Neu-)Bescheidung aus.
Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere sind die Kläger nach st Rspr als Krankenkassen (vgl hierzu BSGE 55, 110 (111)) bzw als Verbände von Krankenkassen (BSGE 60, 69 (71)) klagebefugt iSv 54 Abs 1 S 2
SGG.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte im Bescheid vom 24. Juni 2014 eine Beratung
festgesetzt hat.
a) Dies ergibt sich aus der Vorschrift des §
106 Abs
5e SGB V, die durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) vom 22. November 2011 (BGBl I 2983) eingeführt worden ist. Abweichend von §
106 Abs
5a S 3
SGB V - wonach der Vertragsarzt bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % den sich daraus ergebenden Mehraufwand
den Krankenkassen zu erstatten hat, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist - erfolgt danach bei einer
erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % eine individuelle Beratung nach §
106 Abs
5a S 1
SGB V. Wie das BSG (SozR 4-2500 § 106 Nr 48) in Hinblick auf S 7 der Vorschrift - eingeführt mit Wirkung vom 26. Oktober 2012 durch das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften vom 19. Oktober 2012 (BGBl I 2192) - entschieden hat, gilt §
106 Abs
5e SGB V für alle Prüfverfahren, in denen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses nach dem 25. Oktober 2012 ergangen ist. Damit
findet die Norm auch im vorliegenden Fall Anwendung.
Anders als der Beklagte im angefochtenen Bescheid angenommen hat, meint die Formulierung "erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens"
in §
106 Abs
5e S 1
SGB V nicht alle Richtgrößenprüfungen, die erstmals nach Inkrafttreten der Vorschrift durchgeführt werden. Wie das BSG (aaO.) überzeugend dargelegt hat, war es nicht die Absicht des Gesetzgebers, eine vollständige "Nullstellung" der Wirtschaftlichkeitsprüfung
nach Richtgrößen zu bewirken und allen Ärzten ungeachtet ihres bisherigen Verordnungsverhaltens einen regressfreien Zeitraum
zu verschaffen. Das Tatbestandsmerkmal einer "erstmaligen" Überschreitung ist vielmehr nur dann gegeben, wenn der Vertragsarzt
sein Richtgrößenvolumen nicht bereits in vorangegangenen Prüfungszeiträumen überschritten hat. Wenn der Beklagte in seinem
Schreiben vom 8. August 2013 mitgeteilt hat, er sei auf der Grundlage der am 26. Oktober 2012 in Kraft getretenen Änderung
des §
106 Abs
5e SGB V zu dem Ergebnis gelangt, "dass nach der Durchführung der Richtgrößenprüfung 2004 maximal eine Beratung iSd §
106 Abs
5e SGB V als Maßnahme festzusetzen" sei, trifft dies deshalb nicht zu.
b) In dem Schreiben vom 8. August 2013 liegt auch keine entsprechende Zusicherung des Beklagten, die zur Folge hätte, dass
er verpflichtet gewesen wäre, in dem das Prüfverfahren 2004 abschließenden Bescheid (nur) eine Beratung festzusetzen. Eine
Zusicherung iSv § 34 Abs 1 S 1 SGB X setzt eine in schriftlicher Form erteilte Zusage voraus, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen oder zu unterlassen.
Ob eine Erklärung als Zusage mit Verpflichtungswillen oder als bloße unverbindliche Wissenserklärung iS einer Auskunft auszulegen
ist, beurteilt sich in entsprechender Anwendung des §
133 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) nach dem Erklärungswortlaut und nach den Begleitumständen der Erklärung, insbesondere nach dem mit ihr verfolgten Zweck.
Maßgeblich ist dabei, wie ein verständiger Empfänger die Erklärung unter Berücksichtigung aller Umstände verstehen durfte
(zur alledem BSG SozR 3-1300 § 34 Nr 2).
Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann der letzte Absatz des Schreibens vom 8. August 2013 nur als unverbindliche Auskunft
ausgelegt werden. Hierfür spricht bereits dessen Wortlaut, wonach der Adressat über das Ergebnis der Sitzung des Beschwerdeausschusses
vom 14. Dezember 2012 "informiert" worden ist, dass für 2004 maximal eine Beratung festzusetzen ist. Damit ist eine bloße
rechtliche Einschätzung dargelegt worden, sodass die verbindliche Ankündigung einer entsprechenden Entscheidung im Einzelfall
der Klägerin (zur Notwendigkeit der Regelung eines konkreten Einzelfalls auch bei der Zusicherung vgl Engelmann in: von Wulffen/Schütze,
SGB X, 8. Aufl, § 34 Rn 3b) hierin nicht gesehen werden kann. Daneben lässt sich aus dem Kontext des Schreibens auch entnehmen, dass dem Prozessbevollmächtigten
der Klägerin mit dem Schreiben nur in allgemeiner Form mitgeteilt werden sollte, nach welchen rechtlichen Vorgaben deren Widerspruch
zu bearbeiten ist. Zentrale Bedeutung kam hierbei der Darlegung der Maßstäbe zu, nach denen Praxisbesonderheiten anerkannt
werden konnten und die dementsprechend auch bei der Darlegung entsprechender Umstände von den Ärzten zu beachten waren. Auf
diese - ergebnisoffenen - Auskünfte entfielen ca 4/5 des Schreibens vom 8. August 2013. Wenn dem zum Schluss die "Information"
über die Beratung angefügt worden ist, konnte ein verständiger Erklärungsempfänger nicht damit rechnen, dass in diesen beiden
letzten Sätzen - anders als im restlichen Schreiben - nicht nur eine Auskunft, sondern eine verbindliche Zusage liegen soll.
c) Der Beklagte hat §
106 Abs
5e S 1
SGB V aber im Ergebnis zutreffend angewandt, weil die Richtgrößenprüfung der Klägerin für 2004 zur "erstmaligen Überschreitung
des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 %" geführt hat.
Im Ausgangspunkt hatte die Klägerin allerdings sowohl im Jahr 2002 als auch 2003 die Richtgrößen für Arznei- und Verbandmittel
um mehr als 25 % überschritten (im Jahr 2002 um 217,30 %, im Jahr 2003 um 198 %). Die weiteren Voraussetzungen, die nach der
Rechtsprechung des BSG (SozR 4-2500 §
106 Nr 48) vorliegen müssen, um §
106 Abs
5e S 1
SGB V auszuschließen, haben ebenfalls vorgelegen: Die Überschreitungen von mehr als 25 % verblieben auch, nachdem Praxisbesonderheiten
(zB nach den Anl 3.1 und 3.2 der jeweiligen RGV und wegen der Behandlung von Schmerz- und Osteoporosepatienten) in Abzug gebracht
worden waren. Dies ist auch vom Beklagten jeweils förmlich festgestellt worden (durch Bescheide vom 10. Dezember 2009 bzw
vom 19. Mai 2011) und führte ursprünglich zu Regressen iHv 8.490,07 Euro und 2.335,61 Euro.
Die genannten Überschreitungen der Richtgrößenvolumen können der Klägerin aber nicht mehr entgegengehalten werden, nachdem
diese sich mit dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 22. Januar 2014 vor dem SG Hannover über die Richtgrößenprüfungen
2002 und 2003 verglichen hat. Das BSG hat (aaO.) hierzu ausgeführt, dass es der Annahme einer vorangegangenen Überschreitung iSd §
106 Abs
5e S 1
SGB V nicht entgegensteht, wenn das Verfahren durch eine vergleichsweise Regelung beendet worden ist, sofern dies die Tatsache
einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens (nach Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten) um mehr als 25 % als solche
unangetastet lässt. Ob dies vorliegend der Fall war, ist durch Auslegung des Vergleichs vom 22. Januar 2014 zu klären. Wie
bereits das SG angenommen hat, ergibt diese Auslegung, dass von der weiter bestehenden Feststellung einer Richtgrößenüberschreitung um mehr
als 25 % nicht mehr ausgegangen werden kann.
aa) Ein Vergleich, der - wie der vorliegende - gem §
101 Abs
1 S 1
SGG geschlossen worden ist, um den geltend gemachten Anspruch vollständig zu erledigen, beinhaltet materiell-rechtlich einen
öffentlich-rechtlichen Vergleichsvertrag nach § 54 Abs 1 SGB X (BSG SozR 4-1100 Art 85 Nr
1; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl, §
101 Rn 12). Für dessen Auslegung gelten die gleichen Regeln wie für die Auslegung jedes anderen Vertrags (BSG aaO.; SozR 3-4100 § 141b Nr 10), sodass auf die §§
153,
157 BGB zurückzugreifen ist. Nach §
157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Dabei ist gemäß §
133 BGB ausgehend vom objektiven Wortlaut der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des
Ausdrucks zu haften. Bei der Willenserforschung sind insbesondere der mit der Absprache verfolgte Zweck und die Interessenlage
der Parteien zu berücksichtigen (Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 13. März 2003 - IX ZR 199/00; Beschluss vom 7. September 2011 - XII ZR 114/10; beide juris). Dabei können auch Umstände außerhalb der eigentlichen Vertragsurkunde für die Auslegung zu berücksichtigen
sein (BGH, Urteil vom 7. Februar 2002 - I ZR 304/99 - juris).
Die Auslegung eines Vergleichsvertrags, mit dem eine im Prüfbescheid festgesetzte Honorarkürzung reduziert worden ist, konnte
auch schon vor Einführung des §
106 Abs
5e SGB V problematisch sein, wenn zu klären war, ob trotz des Vergleichsschlusses weiter von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise
im geprüften Zeitraum auszugehen ist, sodass sich hieran Disziplinarmaßnahmen oder ein Zulassungsentziehungsverfahren wegen
(uU fortgesetzter) Verstöße gegen das Wirtschaftlichkeitsverbot anschließen konnten. Denn an einer ausdrücklichen Regelung
dieser Frage im Vergleich fehlt es zumeist. Das BSG (Beschlüsse vom 28. August 1996 - 6 BKa 22/96 - und vom 9. Dezember 2004 - B 6 KA 70/04 B - beide juris) hat hierzu ausgeführt, dass ein derartiger gerichtlicher Vergleich geschlossen worden sein könne, um Unsicherheiten
darüber Rechnung zu tragen, ob angesichts bestimmter Praxisbesonderheiten überhaupt noch eine Unwirtschaftlichkeit der (zahn-)ärztlichen
Behandlungsweise feststellbar ist (Alternative 1). Ebenso möglich ist aber auch, dass im Vergleichswege lediglich geringfügige
Korrekturen der Kürzungshöhe vorgenommen werden oder die Grenze der Überschreitung der Durchschnittswerte, auf die die Honorarforderung
des betreffenden Arztes zurückgeführt werden soll, für mehrere Quartale hinweg einheitlich bestimmt wird (Alternative 2).
In der zuletzt geschilderten Situation unterliege es keinem Zweifel, dass allein daraus, dass die Bestandskraft der Honorarkürzungen
im Wege eines gerichtlichen Vergleichs herbeigeführt worden ist, nicht der Schluss gezogen werden könne, eine Unwirtschaftlichkeit
hinsichtlich der Behandlungsweise sei nicht verbindlich festgestellt worden (BSG aaO.). In vergleichbarer Weise hat das BSG für die Richtgrößenprüfung im Zusammenhang mit §
106 Abs
5e S 1
SGB V dargelegt, dass etwa Vereinbarungen auf der Grundlage von §
106 Abs
5a S 4
SGB V, welche lediglich eine Verringerung des an sich festzusetzenden Regressbetrags um maximal 1/5 beinhalten, die Überschreitung
des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % als solche unangetastet lässt (SozR 4-2500 § 106 Nr 48).
bb) Im vorliegenden Fall enthält der vor dem SG am 22. Januar 2014 geschlossene Vergleich ebenfalls keine ausdrückliche Regelung der Frage, ob trotz der Reduzierung der
Regresse 2002 und 2003 für spätere Prüfverfahren weiter davon ausgegangen werden soll, dass in diesen beiden Jahren jeweils
eine unwirtschaftliche Überschreitung des jeweiligen Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % bestanden hat. Damit unterscheidet
sich der Vertrag von den im größeren Umfang vom Beklagten (auch im vorliegenden Verfahren) gemachten Vergleichsvorschlägen,
mit denen die Regresse bis 2006 um 60 % reduziert werden sollten, wobei aber ausdrücklich vereinbart werden sollte, dass der
Vergleich die festgestellte Tatsache einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens nach der Berücksichtigung der anerkannten
Praxisbesonderheiten um mehr als 25 % als solche unangetastet sein lässt. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Abrede im
Vergleich vom 22. Januar 2014 und der Umstand, dass nach der Berufungsbegründung der Kläger in der mündlichen Verhandlung
hierüber auch nicht gesprochen worden ist, spricht jedoch entgegen der Auffassung der Hauptbeteiligten nicht ohne weiteres
dafür, dass die Feststellung der 25%igen Überschreitung des Richtgrößenvolumens unangetastet bleiben sollte. Vielmehr sind
ergänzend nach den og Vorgaben die seinerzeitige Interessenlage und der mutmaßliche Zweck der Vereinbarung zu untersuchen.
Vorliegend war dabei entscheidend, dass der Beigeladene zu 1. in den vorangegangenen Gerichtsverfahren S 24 KA 719/09 bzw L 3 KA 27/11 (2002) und S 65 KA 368/11 (2003) die Auffassung vertreten hatte, seine Praxisbesonderheiten - zB in Hinblick auf Schmerz-, Osteoporose- und Rheumapatienten
- seien nicht in ausreichendem Umfang berücksichtigt worden und bei zutreffender Anerkennung entsprechender Besonderheiten
müssten die Regresse entfallen. Dem war der Beklagte mit dem Hinweis darauf entgegengetreten, dass entsprechende Praxisbesonderheiten
nicht substantiiert dargelegt worden seien, sodass die Regresse in vollem Umfang aufrechterhalten werden müssten. Wenn der
Beigeladene zu 1. und der Beklagte sich vor dem Hintergrund dieses Streites schließlich vergleichsweise darauf geeinigt haben,
die festgesetzten Regresse um jeweils 50 % zu reduzieren kommt damit mangels entgegenstehender Anhaltspunkte - zu insoweit
denkbaren Aspekten vgl sogleich - zum Ausdruck, dass die Parteien es letztlich für ebenso wahrscheinlich gehalten haben, dass
die geltend gemachten Praxisbesonderheiten anzuerkennen sind und zur Unterschreitung der 25%-Grenze führen, wie dass es bei
den festgesetzten Regressen bleibt. Dem ungewissen Ausgang der gerichtlichen Verfahren und dem damit verbundenen wechselseitigen
Prozessrisiko haben die damaligen Hauptbeteiligten Rechnung getragen, indem sie sich im Rahmen gegenseitigen Nachgebens in
der Mitte getroffen bzw sich prozessual auf ein "Unentschieden" verständigt haben: der Beigeladene zu 1. hat seine Auffassung
nicht aufgegeben, er habe in beiden Jahren wirtschaftlich verordnet, der Beklagte hat an der Festsetzung eines Regresses festgehalten.
Auch nach der Erfahrung des Senats ist der Abschluss eines Vergleichs mit hälftiger Reduzierung der Regresssumme bisher ein
häufig eingesetztes Mittel zur unstreitigen Erledigung des Gerichtsverfahrens gewesen, wenn ernsthafte Zweifel bestehen, ob
nach einer Verurteilung zur Neubescheidung und anschließender erneuten Prüfung durch den Beschwerdeausschuss noch eine Überschreitung
der Richtgröße um mehr als 25 % verbleiben wird.
Die Frage, ob der Beigeladene zu 1. in den Jahren 2002 und 2003 unwirtschaftlich verordnet hat, ist damit (im Sinne der Alternative
1 nach der oa BSG-Rspr) vorliegend in der Schwebe geblieben. Damit wird auch die Prämisse der seinerzeit angefochtenen Bescheide nicht mehr
aufrechterhalten, dass nach Anerkennung von Praxisbesonderheiten eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens von mehr als
25 % verbleibt. Insoweit gilt hier etwas anderes als in Konstellationen, bei denen Vertragsarzt und Beschwerdeausschuss in
Hinblick darauf geringfügigere Korrekturen der Kürzungshöhe vornehmen, dass nur zu einzelnen Punkten des Bescheids rechtliche
Bedenken bestehen, ohne dass die Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise grundsätzlich in Frage gestellt wird. In derartigen
Fällen besteht der Zweck einer vergleichsweisen Einigung (mit der zB die Regresssumme um 30 oder 40 % reduziert wird) in erster
Linie darin, eine "Zurückverweisung an die Verwaltung" zu vermeiden und das Verfahren bis zur Festsetzung der endgültigen
Regressfestsetzung zu verkürzen. Nur ergänzend weist der Senat allerdings darauf hin, dass es im Einzelfall auch bei einer
Reduzierung des Regresses um 50 % oder mehr bei der festgestellten Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise bleiben kann.
Dies kann zB anzunehmen sein, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass die Regressforderung in gravierendem Umfang reduziert
worden ist, weil der Vertragsarzt ansonsten in existenzielle finanzielle Schwierigkeiten geraten wäre und/oder wenn ersichtlich
ist, dass die geltend gemachten Praxisbesonderheiten quantitativ nur von relativ geringer Bedeutung sein konnten. Für Vergleiche,
die nach Bekanntwerden der Urteilsgründe der BSG-Entscheidung vom 22. Oktober 2014 (SozR 4-2500 § 106 Nr 48) abgeschlossen worden sind, kann ohnehin eine abweichende Beurteilung erforderlich sein, weil sich den Vergleichsparteien
im Anschluss hieran die Klärungsbedürftigkeit der Richtgrößenüberschreitung in Hinblick auf Folgejahre aufdrängen musste.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs
2 SGG), liegen nicht vor. Wie das BSG (Beschlüsse vom 28. August 1996 und vom 9. Dezember 2004 (aaO.)) wiederholt dargelegt hat, fehlt es insbesondere an einer
grundsätzlichen Klärungsbedürftigkeit, weil sich die Auslegung von Prozessvergleichen nach den Umständen des Einzelfalls richtet.
Die Bemessung des Streitwerts folgt aus der Anwendung des §
197a Abs
1 S 1 Halbs 1
SGG iVm §§ 47 Abs 1 S 1, 52 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG).