Anspruch auf rückwirkende Feststellung eines GdB von 80 und Zuerkennung des Merkzeichens "G" bei Intersexualität
Tatbestand
Der 1974 geborene intersexuelle Mensch A. (nachstehend: M.R.) ist schwerbehindert im Sinne von §§
2 Abs.
2,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX). Begehrt wird die rückwirkende Feststellung eines GdB von 80 ab dem 01.08.1994 sowie im Wege einer Klageerweiterung die
Zuerkennung des Merkzeichens "G" im Sinne von §
146 Abs.
1 SGB IX.
M.R. machte mit Erstantrag vom 25.04.2008 das Vorliegen einer Gonadendysgenesie bei Karyotyp 46 XY, eine Wesensveränderung,
ein chronisches Erschöpfungssyndrom, Arthralgien, Myalgien, eine Borreliose, Osteoporose, Asthma und Hashimoto-Thyreoiditis
geltend. Entsprechend den vorgelegten Unterlagen vor allem des Universitätsklinikums M., des Universitätsklinikums E. und
des Klinikums M. in T. ist M.R. nach dem Geschlechtschromosomensatz männlich. Nach dem Phänotyp ist M.R. bei unauffälliger
Maskulinisierung jedoch weiblich. Psychosexuell ist M.R. ebenfalls weiblicher Ausprägung.
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 08.05.2008 einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest und berücksichtigte nachstehende
Gesundheitsstörungen:
1. Seelische Störung, Somatisierungsstörung (Einzel-GdB 30),
2. Gonadendysgenesie (Einzel-GdB 20).
Die mit den Gesundheitsstörungen Borreliose, Hashimoto-Thyreoiditis, Asthma und Osteopenie verbundenen Einschränkungen würden
keinen GdB von wenigstens 10 bedingen.
M.R. hob mit Widerspruchsbegründung vom 08.07.2008 hervor, ab der Pubertät, die nicht eingesetzt habe, seien verstärkt Probleme
aufgetreten. Fehlende weibliche Hormone hätten eine Brustentwicklung nicht ermöglicht mit der Folge erheblicher sozialer Schwierigkeiten
mit starken Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl. Nach Gabe von Östrogen ab dem 19. Lebensjahr habe sich eine rudimentäre
Brust in Form einer Mikromastie entwickelt. Dies bereite auch heute noch große Probleme im Hinblick auf das Selbstverständnis
als weibliches Wesen.
Der Beklagte hat mit Abhilfe-Bescheid vom 23.07.2008 ab dem 25.04.2008 einen GdB von 50 festgestellt, weil die Folgen von
Hormonmangel bei Gonadendysgenesie die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft rechtfertigten.
Auf den weiteren Widerspruch vom 19.08.2008 stellte der Beklagte mit Teilabhilfe-Bescheid vom 04.12.2008 einen GdB von 50
rückwirkend ab 01.08.1994 fest, weil zu diesem Zeitpunkt die Erstdiagnose getroffen wurde. Im Übrigen wurde der Widerspruch
mit Widerspruchsbescheid vom 02.01.2009 zurückgewiesen. Die Feststellung eines GdB von 80 ab Geburt (06.09.1974) sei nicht
möglich. M.R. sei ausweislich der vorgelegten Unterlagen annähernd wie ein normales Mädchen aufgewachsen. Erst ab dem Jahr
1994 seien schwerwiegendere gesundheitliche Auswirkungen nachweisbar.
Mit Klage vom 03.02.2009 zum Sozialgericht Bayreuth (SG) ist beantragt worden, einen GdB von 80 rückwirkend zum 01.08.1994 festzustellen. Die Gynäkologin Dr. W. habe 06/1994 bis
Ende 1996 eine Amenorrhoe festgestellt. Prof. Dr. W. habe 08/1994 eine Gonadendysgenesie endokrinologisch nachgewiesen. Ab
06/1998 sei man von Dr. K., Dr. S. und Dr. K. wegen Depressionen und einer Angststörung behandelt worden. Nachweisend seien
multiple Behandlungen wegen der Gonadendysgenesie, der Hashimoto-Thyreoiditis, einem chronischen Erschöpfungssyndrom, Hauterkrankungen
und Hormonmangel erfolgt.
Das SG hat die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten, die Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung Niederbayern mit den zugehörigen
Streitakten S 2 R 4165/07 und entsprechende ärztliche Unterlagen beigezogen.
M.R. hat gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. G. angegeben, dass sich sukzessive eine Verschlechterung
des Gesundheitszustandes und des Befindens eingestellt habe, wobei es sich zunächst um einen schleichenden Prozess gehandelt
habe. Ab Ende 2003 sei es dann zu einer starken Verschlechterung gekommen. Im Jahr 2005 habe die Berufstätigkeit als Bürokaufmann/frau
aufgeben werden müssen. Seit Anfang 2008 werde eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezogen. Der Sachverständige Dr. G.
ist im Folgenden mit Gutachten vom 04.02.2010 zu dem Ergebnis gekommen, dass aufgrund der bestehenden Gesundheitsstörungen
ab 01.08.1994 ein GdB von 50 bestehe und ab Dezember 2007 ein GdB von 80.
Vorgelegt worden ist die Stellungnahme der Schwerbehindertenbeauftragten des Bundesverbandes intersexueller Menschen e. V.
K. vom 26.04.2010. Diese hat darauf hingewiesen, dass naheliegende erhebliche psychische Gesichtspunkte nicht ausreichend
berücksichtigt worden seien.
Gestützt auf die nervenärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. vom 18.07.2011 hat der Beklagte
ein Vergleichsangebot dahingehend unterbreitet, ab 01.08.2006 einen GdB von 60 und ab 01.12.2007 einen GdB von 70 festzustellen.
Nach Anhörung, es sei beabsichtigt, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hat der ehemalige Bevollmächtigte
von M.R. mit Schreiben vom 08.11.2013 das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung geltend gemacht und das Attest des Dr.
W. vom 22.11.2012 vorgelegt. Die Gonadenanlage sei nicht deszendiert. Das heiße, dass die Hoden- bzw. Ovarienanlage in der
Leiste liege. Durch die Enge des Leistenkanals könne es zu Quetschungen kommen, die äußerst schmerzhaft seien. In Abhängigkeit
von der jeweiligen sich verändernden Lage der Hoden/Ovarien könne es immer wieder zu Schmerzepisoden kommen, die unterschiedlich
lange andauern könnten.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 28.11.2013 ausgesprochen: Unter Abänderung des Bescheides vom 04.12.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.01.2009 wird der Beklagte verurteilt, den GdB ab 01.08.2006 mit 60 und ab 01.06.2007 mit 80
zu bemessen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Hierbei hat das SG das Gutachten des Dr. G. vom 04.02.2010 sowie die nervenärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie
B. vom 18.07.2011 kritisch gewürdigt und die jeweiligen anspruchsbegründenden Gesichtspunkte positiv gewichtet. Eine Verschlechterung
im psychopathologischen Befund sei etwa ab Anfang 2006 festzustellen, so dass unter Berücksichtigung des für das Vorliegen
einer Behinderung maßgeblichen Zeitraums von wenigstens sechs Monaten ab 01.08.2006 eine Höherbewertung auf einen GdB von
60 gerechtfertigt sei. Die psychischen Beschwerden hätten sich nach 2006 verstärkt. Bei der Untersuchung durch Dr. T. in dem
Rentenstreitverfahren S 2 R 4165/07 sei die Stimmungslage depressiv gewesen. Die Verschlechterung im psychischen Befund rechtfertige daher die Anhebung des GdB
und dessen Bewertung mit 80 ab dem 01.06.2007. Das weitergehende Begehren sei unbegründet.
Die hiergegen gerichtete Berufung von M.R. geht am 28.12.2013 bei dem Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein. Von Seiten
des Senats werden die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten und die erstinstanzlichen Streitakten beigezogen. Dies gilt auch
für den Rentenrechtsstreit S 2 R 4165/07 und eine Heftung "Kopien der gesamten Patientenakte".
Der Senat überträgt mit Beschluss vom 25.02.2014 die Berufung dem Berichterstatter, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern
über die Berufung zu entscheiden hat.
M.R. hält mit Schriftsatz vom 23.02.2014 an ihrem Begehren fest, einen GdB von 80 ab dem Jahr 1994 festzustellen. Dies ermögliche
die Inanspruchnahme höherer Steuerfreibeträge in der Vergangenheit. Die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung ab September
1994 habe zu einem schleichenden und immer stärker manifest werdenden Libidoverlust geführt, die Entfernung des Penis im Jahr
1995 zu Gefühlsirritationen und zu Störungen im Genitalbereich und bei der sexuellen Empfindungsfähigkeit. Die Verschlechterung
des psychischen Zustandes seit 1994 habe bereits im Juni 1998 zu einer ersten Konsultation von Psychiatern und zu einer ersten
Psychotherapie geführt. Im Übrigen leide man seit Januar 1995 an einer Osteopenie bzw. Osteoporose mit starken Schmerzen im
Brustbein.
M.R. legt die Schreiben des Finanzamtes B. vom 04.03.2010 und vom 20.03.2014 vor. Danach könnte beginnend ab dem Jahr 1999
eine (weitere) Erstattung der Lohn-/Einkommensteuer in Betracht kommen.
Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 30.05.2014 der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. unterbreitet
der Beklagte am 05.06.2014 ein Vergleichsangebot dahingehend, ab 01.01.1999 einen GdB von 60 festzustellen. Ab 01.08.2006
verbleibe es jedoch bei den im Gerichtsbescheid vom 28.11.2013 getroffenen GdB-Feststellungen. Die Fachärztin für Neurologie
und Psychiatrie B. hat auch darauf hingewiesen, dass eine erhebliche Gehbehinderung nicht vorliege.
Entsprechend dem Schreiben vom 27.07.2014 wird das Vergleichsangebot des Beklagten vom 05.06.2014 nicht angenommen, weil das
Merkzeichen "G" nicht angeboten worden ist. Des Weiteren wird auf einen Zivilprozess gegen die Universitätsklinik E. und eine
Klage nach dem
Opferentschädigungsgesetz (
OEG) verwiesen. Vorgelegt wird erneut das Attest des Dr. W. vom 22.11.2012, der die Problematik der Enge des Leistenkanals und
hieraus resultierender Quetschungen beschrieben hat.
In der mündlichen Verhandlung vom 10.09.2014 trägt M.R. ergänzend vor, dass es mit Entdeckung des Hodens im Jahr 2010 immer
wieder zu Schmerzzuständen bis zu drei Tagen komme, in denen das Gehvermögen so gut wie vollständig eingeschränkt sei. In
der Zeit solle man sich auch nicht bewegen, weil der Hoden herabdränge. Dann seien wieder Zeiten von ein paar Tagen, in denen
die Gehfähigkeit wegen dieser Problematik nicht beeinträchtigt sei. Im Übrigen würden nunmehr männliche Hormone eingenommen,
so dass mit einer Veränderung des Körpers und einer Verstärkung der diesbezüglichen Problematik zu rechnen sei. Außerdem wachse
der Penisstumpf derzeit wieder und bereite auch zusätzliche Schmerzen.
Beantragt wird,
einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 bereits ab dem 01.08.1994 festzustellen sowie das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.
Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,
die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 28.11.2013 zurückzuweisen, soweit sie über das Vergleichsangebot
vom 05.06.2014 hinausgeht.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Schwerbehinderten-Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten
erster und zweiter Instanz Bezug genommen. Dies gilt auch für die Rentenstreitakte S 2 R 4165/07 und das Geheft "Kopien der Patientenakte".
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des intersexuellen Menschen M.R. ist gemäß §§
143,
144 und
151 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig und teilweise begründet. Entsprechend dem Beschluss vom 25.02.2014 hat die Entscheidung dem Berichterstatter zusammen
mit den ehrenamtlichen Richtern oblegen (§§
105 Abs.
1,
153 Abs.
5 SGG).
Bei M.R. ist bereits ab dem Jahr 1999 ein GdB von 60 festzustellen (und nicht erst ab 01.08.2006). Das weitergehende Begehren
ist unbegründet. Ein GdB von 80 kann für die Vergangenheit (streitig ist der Zeitraum 01.08.1994 - 31.05.2007) nicht festgestellt
werden. Mangels einer erheblichen Gehbehinderung steht das Merkzeichen "G" nicht zu.
Bis zum Inkrafttreten des
SGB IX am 01.07.2001 (Gesetz vom 19.06.2001, BGBl. I S. 1046 ff.) ist das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft - Schwerbehindertengesetz (SchwbG) maßgeblich gewesen. Seitdem werden im Ergebnis inhaltsgleich nach §
69 Abs.
1 Satz 4
SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft
festgestellt. Gemäß §
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX i. V. m. § 30 Abs. 1 und 16 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sind zur Beurteilung der jeweiligen Funktionsstörungen und -beeinträchtigungen die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze"
(Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung in der jeweiligen Fassung) zugrunde zu legen. Diese haben die vormals geltenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit
im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996 ff., 2008" mit Wirkung zum 01.01.2009 abgelöst. Nachdem
hier der Zeitraum ab 01.08.1994 streitbefangen ist, sind für die Vergangenheit einschließlich 31.12.2008 die "Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996 ff., 2008 heranzuziehen.
Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht
nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen.
Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in Art.
3 Abs.
1 des
Grundgesetzes (
GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (Bundessozialgericht
- BSG - mit Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1991, S. 227 ff. zu den "Anhaltspunkten 1983"). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 - BvR 60/95 (in NJW 1995, S. 3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz 1983" in verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten" bestätigt. Entsprechendes
gilt auch für die jeweiligen Neufassungen der "Anhaltspunkte", die die zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse und Fortschritte
in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des BSG, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen "Anhaltspunkte" eingearbeitet
haben (BSG mit Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/03 R in SGb 2004, S. 378).
Es gilt das Antragsprinzip (§
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX). Hier hat M.R. am 25.04.2008 einen Erstantrag verwaltungsseitig eingereicht. Für eine rückwirkende GdB-Feststellung vor
Eingang des Erstantrages vom 25.04.2008 bedarf es eines besonderen Interesses (BSG mit Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 1/11 R in SozR 4/3250 §
69 Nr. 15). Hierzu zählen auch Nachteilsausgleiche, die sich aus §
33b Einkommensteuergesetz (
EStG) ergeben. Insoweit ergibt sich aus den Schreiben des Finanzamtes B. vom 04.03.2010 und vom 20.03.2014, dass beginnend ab
dem Jahr 1999 bei der Klägerin eine (weitere) Erstattung an Lohn-/Einkommensteuer in Betracht kommt. Dementsprechend ist im
Falle der Klägerin ein "besonderes Interesse" an einer rückwirkenden GdB-Feststellung ab dem 01.01.1999 gegeben.
Das Feststellungsverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht (SchwbG bzw. nunmehr
SGB IX) dient jedoch nicht der mittelbaren Beweissicherung hinsichtlich des Zivilrechtsstreits, der gegen die Universitätsklinik
E. geführt wird. Auch das Verfahren nach dem
Opferentschädigungsgesetz (
OEG) ist unabhängig von dem hiesigen Feststellungsverfahren. Insoweit ist es nicht ausreichend, dass gegebenenfalls die nämlichen
medizinischen Bewertungsgrundlagen heranzuziehen sind. Denn nach dem
OEG sind unabhängig von dort zu beachtenden weiteren rechtlichen Vorgaben aus medizinischer Sicht auch Kausalitätsfragen entscheidungserheblich.
Soweit das SG mit Gerichtsbescheid vom 28.11.2013 ausgesprochen hat, unter Abänderung des Bescheides vom 04.12.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.01.2009 wird der Beklagte verurteilt, den GdB ab 01.08.2006 mit 60 und ab 01.06.2007 mit 80
zu bemessen, entspricht dies der Sach- und Rechtslage ab dem genannten Zeitpunkt 01.08.2006. Der Senat sieht insoweit von
einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er entsprechend §
153 Abs.
2 SGG insoweit den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung folgt.
Der Gerichtsbescheid des SG vom 28.11.2013 erweist sich jedoch in zeitlicher Hinsicht als ungenügend. Auch für den Zeitraum beginnend ab 01.01.1999 bis
einschließlich 31.07.2006 ist ein GdB von 60 festzustellen und eine entsprechende Bescheinigung zur Vorlage bei den Steuerbehörden
auszuhändigen. Dies ergibt sich aus der nervenärztlichen Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. vom
30.05.2014 in Auswertung der Rentenstreitakte S 2 R 4165/07 und des Geheftes "Kopien der Patientenakte". Frau B. hat ausgeführt: Aus der Akte des Streitverfahrens in der Rentensache
ist dem Rentenverlauf zu entnehmen, dass bis 2007 Pflichtbeiträge entrichtet wurden. Die Höherbewertung im Gerichtsbescheid
des SG ist auf das Gutachten des Dr. T. gestützt, das ab 01.06.2007 eine deutliche depressive Störung bescheinigte. M.R. habe angegeben,
die Problematik nicht mit den Eltern besprochen zu haben, da man mit Unverständnis gerechnet habe. Diesbezüglich sei eine
Verschlechterung seit etwa einem halben Jahr angegeben worden, eine aktuelle psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung
wurde aber nicht angegeben, die frühere Psychotherapie habe nicht viel gebracht. Die Rentenakte enthält auch noch ein MDK-Gutachten
von 2006, in dem eine aktuelle Arbeitsunfähigkeit bestätigt wurde bei Verneinung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
M.R. berichte aber auch über Ermüdungserscheinungen, so dass der Lebensgefährte im Haushalt viel erledige. Zusammenfassend
lasse sich eine Begründung für einen GdB von 80 ab 1999 nicht finden; eine Verschlechterung im Jahr 2006 ist auch der Rentenakte
zu entnehmen. Ein vorübergehender Behandlungsbedarf durch Psychotherapie bei Dr. K. ist für das Jahr 1998 dokumentiert, danach
offenbar längere Zeit keine nervenärztliche Mitbehandlung. Somit kann aus der Sicht von Frau B. grenzwertig bereits ab dem
Jahr 1999 ein GdB von 60 vertreten werden unter Berücksichtigung einer seelischen Störung mit einem Einzel-GdB von 20. Dabei
wird auch eine gewisse Somatisierungsneigung mitberücksichtigt; medizinische Vorstellungen erfolgten wegen diffuser körperlicher
Beschwerden unter dem Verdacht von Nebenwirkungen der Hormontherapie. Frau B. begründet im Folgenden die Feststellung eines
Gesamt-GdB von 60 ab 1999 mit den Folgen von Hormonmangel bei Gonadendysgenesie (Einzel-GdB 50) und einer seelischen Störung
(Einzel-GdB von 20).
Dem ist aus der Sicht des erkennenden Senats vollinhaltlich beizupflichten (§
128 Abs.
1 SGG). Denn ausgehend von zwei wesentlichen Beschwerdekomplexen ab 1999 mit Einzel-GdB-Werten von 50 und 20 hat zum damaligen
Zeitpunkt ein Gesamt-GdB von 60 bestanden: Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung
auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen,
ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen
dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen
(z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, führen
zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung,
die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen
nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt,
auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Rdz. 19 Abs. 3 und 4 der "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit").
Als Zwischenergebnis ist daher festzustellen, dass sich die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth
vom 28.11.2013 insoweit als begründet erweist, als der Beklagte mit Vergleichsangebot vom 05.06.2014 sich bereit erklärt hat,
für die in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 30.05.2014 genannten Gesundheitsstörungen ab 01.01.1999 einen Grad
der Behinderung (GdB) von 60 festzustellen (und es im Übrigen bei dem Gerichtsbescheid des SG vom 28.11.2013 verbleibt).
M.R. begehrt weiterhin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Der
Senat hält insoweit eine Erweiterung des Streitgegenstandes für sachdienlich (§
99 Abs.
1 SGG). Denn der Rechtsstreit ist auch insoweit entscheidungsreif. Auch hat sich die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie
B. mit versorgungsärztlicher Stellung vom 30.05.2014 hierzu geäußert.
Nach dem Bekunden von M.R. in der mündlichen Verhandlung vom 10.09.2014 hat sich die Problematik des immer wieder deszendierenden
Hodens erst nach dessen Entdeckung im Jahr 2010 entwickelt. Ausweislich des Attestes des Dr. W. vom 22.11.2012 ist M.R. deswegen
jedoch nicht erheblich gehbehindert im Sinne von §
146 Abs.
1 SGB IX. Die Gonadenanlage ist nicht deszendiert. Der Hoden bzw. Ovarialanlage liegen in der Leiste. Durch die Enge des Leistenkanals
kann es zu Quetschungen kommen, die äußerst schmerzhaft sein können. In Abhängigkeit von der jeweiligen (sich verändernden)
Lage des Hodens / der Ovarien kann es immer wieder zu Schmerzepisoden kommen, die unterschiedlich lang andauern können. Dr.
W. hat abschließend die Angaben von M.R. bestätigt, dass es dann zu starken Schmerzen kommt und M.R. nur sehr kurze Strecken
unter Schmerzen gehen kann.
Dies ist jedoch nicht ausreichend, um das Merkzeichen "G" zuzuerkennen können. Inhaltsgleich mit den vormals maßgeblichen
"Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht"
bestimmen die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Teil D Rdz. 1d: Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens
sind als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder
der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen
bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit
besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung,
arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend
auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor
allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder
Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren
Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die
Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.
Ein Leidenszustand, vergleichbar den vorstehend genannten Regelbeispielen, ist jedoch nicht dauerhaft gegeben. Der Senat verkennt
nicht, dass im Akutfall aufgrund der hieraus resultierenden Schmerzen ein weiteres Fortbewegen so gut wie unmöglich ist. Der
Hoden ist jedoch nicht ständig verlagert bzw. eingeklemmt. Dr. W. hat mit Attest vom 22.11.2012 zutreffend darauf hingewiesen,
dass es immer wieder zu Schmerzepisoden kommen kann, die unterschiedlich lange andauern können. Intermittierend auftretende
Schmerzzustande begründen jedoch keine dauerhaft erhebliche Gehbehinderung im Sinne von §
146 Abs.
1 SGB IX.
Es besteht auch keine Vergleichbarkeit zum Beispiel mit Epileptikern, bei denen gehäuft überwiegend am Tage eine mittlere
Anfallshäufigkeit vorliegt, oder mit Diabetikern, die tagsüber unter häufigen nicht vermeidbaren hypoglykämischen Schocks
leiden. Diesem Personenkreis kann im Einzelfall das Merkzeichen "G" zuerkannt werden ("Versorgungsmedizinische Grundsätze
in Teil D Rdz 1e). Im diesem Zusammenhang ist für den Senat aufgrund des persönlichen Eindrucks, der sich in der mündlichen
Verhandlung vom 10.09.2014 ergeben hat, auch kein Hinweis für das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung im Sinne des
Gesetzes erkennbar geworden.
Auch aufgrund des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung - UN-Behindertenrechtskonvention (BGBl. 2008
Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008) ergeben sich keine weitergehenden Ansprüche. Vielmehr genügen die Vorschriften des Schwerbehindertenrechts
insbesondere in §
146 Abs.
1 SGB IX, der einen Nachteilsausgleich in Form des Merkzeichens "G" vorsieht, höherrangigem Recht, wenn als Vergleichsmaßstab ein
Behinderter heranzuziehen ist, der einseitig im Unterschenkel amputiert ist (Einzel-GdB von 50) oder an einem sogenannten
Klumpfuß (Einzel-GdB von 40) leidet, der die Gehfähigkeit ständig und nicht nur wie im Falle von M.R. im Akutfall erheblich
beeinträchtigt.
Die von M.R. in der mündlichen Verhandlung vom 10.09.2014 vorgetragene zu befürchtende Progredienz des Beschwerdebildes in
der Zukunft kann hier nicht berücksichtigt werden. Insoweit wird M.R. anheimgestellt, zu gegebener Zeit verwaltungsseitig
einen Neufeststellungsantrag gemäß § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) einzureichen.
Nach alledem war die Berufung des intersexuellen Menschen M.R. gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom
28.11.2013 im Übrigen abzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG).