Verwirkung des Anspruchs auf Elternunterhalt wegen Zurücklassens des Kindes im Kleinkindalter bei den Großeltern
Tatbestand:
Die Klägerin macht als Trägerin der Sozialhilfe aus übergegangenem Recht Ansprüche auf Elternunterhalt geltend.
Die 1934 geborene Mutter der Beklagten bezog seit November 1998 Sozialhilfe in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt, da sie
mit ihren geringen Renteneinkünften nicht in der Lage war, ihre Lebensführung zu bestreiten. In der Zeit von November 1998
bis August 2000 gewährte ihr die Klägerin Leistungen in Höhe von insgesamt 6.512,01 DM.
Die 1956 geborene Beklagte ist das älteste von insgesamt fünf Kindern ihrer Mutter. Sie lebte bis zum Alter von 1 bis 1 1/2
Jahren zusammen mit ihrer Mutter bei deren Eltern und wurde in deren Obhut zurückgelassen, als die Mutter zu ihrem Ehemann,
dem Vater der Beklagten, zog. Zu persönlichen Kontakten zwischen der Mutter und der Beklagten kam es in der Folgezeit kaum
noch. Die Ehe der Eltern wurde etwa im Jahre 1959 geschieden. In der Zeit von 1963 bis 1966 gebar die Mutter drei weitere
Kinder, die bei ihr lebten. Im August 1966 wanderte sie - zusammen mit diesen Kindern - in die USA aus und heiratete erneut.
1968 wurde das fünfte Kind geboren. Im Jahre 1974 kehrte die Mutter - nach der Scheidung ihrer zweiten Ehe - mit den Kindern
nach Deutschland zurück; zwei Kinder übersiedelten später jedoch wieder zu ihrem - inzwischen verstorbenen - Vater in die
USA und leben heute noch dort. Die in Deutschland lebenden Kinder der Mutter sind zur Zahlung von Elternunterhalt finanziell
nicht in der Lage.
Die Beklagte, für die die Mutter zu keiner Zeit Unterhaltsleistungen erbracht hat, verblieb bei ihren Großeltern mütterlicherseits.
Sie absolvierte eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester und ist in diesem Beruf tätig. Ihr durchschnittliches monatliches
Nettoeinkommen beläuft sich auf ca. 3.486 DM; bereinigt um berufsbedingte Aufwendungen, Lebensversicherungsprämie und eine
Darlehensrate verbleiben monatlich rund 2.700 DM.
Mit Rechtswahrungsanzeige vom 2. November 1998 teilte die Klägerin der Beklagten die Gewährung von Sozialhilfeleistungen für
ihre Mutter mit und forderte sie zur Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf. Mit ihrer Klage machte
die Klägerin übergegangene Unterhaltsansprüche der Mutter für die Zeit von November 1998 bis August 2000 in Höhe ihrer Gesamtaufwendungen
von 6.512,01 DM zuzüglich Zinsen geltend.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Mit der - zugelassenen - Revision verfolgt
die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
1. Das Berufungsgericht hat angenommen, daß ein Unterhaltsanspruch der Mutter gegen die Beklagte nicht bestehe, weil deren
Inanspruchnahme grob unbillig sei. Dazu hat es ausgeführt: Der Mutter könne zwar nicht vorgeworfen werden, durch ein sittliches
Verschulden unterhaltsbedürftig geworden zu sein. Daß sie sich vor ihrer Übersiedlung in die USA ihre in Deutschland erworbenen
Rentenanwartschaften habe auszahlen lassen, erfülle nicht die Voraussetzungen des §
1611 Abs.
1 Satz 1 1. Alt.
BGB. Auch von einer gröblichen Vernachlässigung der Barunterhaltspflicht seitens der Mutter im Sinne der 2. Alt. der genannten
Bestimmung könne nicht ausgegangen werden. Da sie noch vier weitere Kinder habe betreuen müssen, könne nicht angenommen werden,
daß sie zur Zahlung von Unterhalt für die Beklagte in der Lage gewesen sei. Die Mutter habe sich jedoch einer schweren Verfehlung
gegen die Beklagte schuldig gemacht (§
1611 Abs.
1 Satz 1 3. Alt.
BGB). Wie von der Mutter bei ihrer Vernehmung selbst eingeräumt worden sei, habe über viele Jahre kein Kontakt zwischen ihr und
der Beklagten bestanden. Zwar habe sie letztere vor ihrer ersten Scheidung einmal für einige Monate in ihren Haushalt geholt.
Dort habe die Großmutter das Kind aber wieder herausnehmen müssen, weil der Aufenthalt dessen Entwicklung abträglich gewesen
sei. Die Beklagte habe gestottert, weshalb die Mutter selbst eingesehen habe, daß es besser sei, wenn die Tochter bei der
Großmutter lebe. Im Zuge der Scheidung sei schließlich die elterliche Sorge für die Beklagte den - als nicht erziehungsgeeignet
angesehenen - Eltern entzogen und den Großeltern übertragen worden. Danach habe sich die Mutter nicht mehr um die Beklagte
gekümmert. Von einem Aufenthalt der Beklagten in den USA abgesehen, der zu einer Zeit stattgefunden habe, als die Mutter an
Krebs erkrankt gewesen sei, habe letztere von Anfang der 60er Jahre an von sich aus den Kontakt zur Beklagten nicht nachdrücklich
gesucht. Sofern es hierzu gleichwohl gekommen sei, habe dies auf den Bemühungen der Großeltern beruht. Auch heute noch ergäben
sich Kontakte eher zufällig, wenn die Beklagte ihre Schwester besuche. Insgesamt werde in dem Verhalten der Mutter ein so
grober Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme deutlich, daß von einer vollständigen Verwirkung
der Unterhaltsansprüche gegen die Beklagte auszugehen sei.
Diese Beurteilung begegnet im Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken.
2. a) Nach §
1611 Abs.
1 Satz 1
BGB braucht der Unterhaltspflichtige nur einen Beitrag in der der Billigkeit entsprechenden Höhe zum Unterhalt des Berechtigten
zu leisten, wenn dieser unter anderem seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt
(2. Alt.) oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat (3. Alt.).
Die Verpflichtung fällt ganz weg, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre (§
1611 Abs.
1 Satz 2
BGB).
aa) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann bereits nicht ausgeschlossen werden, daß die Voraussetzungen der 2.
Alt. des §
1611 Abs.
1 Satz 1
BGB erfüllt sein können. Das Berufungsgericht hat insofern allein auf eine Verletzung der Barunterhaltspflicht abgestellt und
eine solche mangels Leistungsfähigkeit der Mutter verneint. Eltern schulden ihren Kindern indessen entweder Bar- oder Naturalunterhalt
(§
1612 Abs.
2 BGB), zu dem - als Teil der Unterhaltspflicht - auch die Betreuung gehört (§
1606 Abs.
3 Satz 2
BGB). Eine Vernachlässigung der Betreuung ist grundsätzlich ebenfalls geeignet, die Rechtswirkungen des §
1611 Abs.
1 BGB auszulösen (ebenso Staudinger/Engler
BGB - 2000 - §
1611 Rdn. 18; Günther Münchner Anwaltshandbuch §
12 Rdn. 111; a.A. MünchKomm/Born 4. Aufl. § 1611 Rdn. 14), auch wenn die Betreuung nicht in vollem Umfang persönlich erbracht
werden muß. Für eine Beschränkung des §
1611 Abs.
1 Satz 1 2. Alt.
BGB auf eine Verletzung der Barunterhaltspflicht sind dem Gesetz keine Anhaltspunkte zu entnehmen. Im vorliegenden Fall kommt
eine Verletzung der Naturalunterhaltspflicht in der Zeit bis zur Übertragung der elterlichen Sorge für die Beklagte auf die
Großeltern in Betracht. Zwar brauchte die Mutter die Betreuung nicht uneingeschränkt selbst zu übernehmen, sondern durfte
sich hierbei auch der Mithilfe anderer bedienen. Das ändert aber nichts daran, daß die Verantwortung für das Kind in erster
Linie bei den Eltern, und damit auch bei der Mutter, lag. Diese Aufgabe durfte sie nicht in vollem Umfang delegieren, indem
sie die Betreuung ohne jedweden eigenen Einsatz allein den Großeltern überließ. Ob insoweit bereits von einer gröblichen Vernachlässigung
der Unterhaltspflicht ausgegangen werden kann, bedarf indessen keiner Entscheidung. In jedem Fall hat das Berufungsgericht
nämlich die Voraussetzungen des §
1611 Abs.
1 Satz 1 3. Alt.
BGB rechtsfehlerfrei bejaht.
bb) Eine schwere Verfehlung im Sinne der vorgenannten Bestimmung kann regelmäßig nur bei einer tiefgreifenden Beeinträchtigung
schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen angenommen werden (MünchKomm/Born aaO.
§ 1611 Rdn. 23; Luthin/Schumacher Handbuch des Unterhaltsrechts 9. Aufl. Rdn. 3234; OLG Celle FamRZ 1993, 1235, 1236; OLG München FamRZ 1992, 595, 597). Als Begehungsformen kommen aktives Tun und Unterlassen in Betracht, letzteres allerdings nur, wenn der Berechtigte
dadurch eine Rechtspflicht zum Handeln verletzt (MünchKomm/Born aaO. § 1611 Rdn. 23). Mit Rücksicht darauf kann sich auch
eine Verletzung elterlicher Pflichten durch Unterlassen als Verfehlung gegen das Kind darstellen. Das gilt nicht nur für die
besonders geregelte Vernachlässigung der Unterhaltspflicht, sondern etwa auch für die dauernde grobe Vernachlässigung und
Verletzung der Aufsichtspflicht und für die Verletzung der Pflicht zu Beistand und Rücksicht, die in der durch das Sorgerechtsgesetz
von 1979 eingefügten Vorschrift des §
1618 a BGB auch zum Ausdruck gebracht worden ist (Staudinger/Engler aaO. §
1611 Rdn. 29). Hierbei handelt es sich um das Eltern-Kind-Verhältnis prägende Rechtspflichten, deren Verletzung unter den Voraussetzungen
des §
1611 Abs.
1 Satz 1 3. Alt.
BGB Bedeutung zukommen kann.
cc) Danach hat sich die Mutter nach den getroffenen Feststellungen auch nach Auffassung des Senats einer schweren Verfehlung
gegen die Beklagte schuldig gemacht. Dies ergibt die gebotene umfassende Abwägung aller maßgeblichen Umstände (vgl. hierzu
Senatsurteil vom 25. Januar 1995 - XII ZR 240/93 - FamRZ 1995, 475, 476). Auch wenn ihr die elterliche Sorge nicht mehr zustand und ihr deshalb nicht mehr die Pflege und Erziehung der Beklagten
oblag, gehörte es zu den Pflichten der Mutter, sich weiterhin um ihr Kind zu kümmern, Anteil an seinem Leben und seiner Entwicklung
zu nehmen, ihm bei auftretenden Problemen und Schwierigkeiten zur Seite zu stehen und ihm insgesamt die Gewißheit zu vermitteln,
daß ein ihm in Liebe und Zuneigung verbundener Elternteil für es da ist. Daran hat es die Mutter jedenfalls von der Zeit an,
in der sie die Beklagte im Alter von 1 bis 1 1/2 Jahren in der Obhut der Großeltern zurückgelassen hat, fast durchgehend fehlen
lassen. Sie hat sich trotz der Fürsorgebedürftigkeit des Kindes - mit Ausnahme von dessen kurzfristiger Aufnahme in den elterlichen
Haushalt - nicht mehr persönlich um dieses gekümmert und - von der Ermöglichung eines Besuches des Kindes in den USA abgesehen
- von sich aus noch nicht einmal versucht, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus hat sie die Beklagte - im Gegensatz
zu ihren anderen Kindern - bei ihrer Auswanderung in die USA in Deutschland zurückgelassen und dem Kind so den Eindruck der
Zurücksetzung durch die Mutter und deren Interessenlosigkeit an seiner Person vermittelt. Dem steht - entgegen der Auffassung
der Revision - nicht entgegen, daß die Mutter das Kind bei ihren Eltern gut versorgt wußte und die Beklagte sich im Haushalt
der Großeltern gut entwickelt hat. Dadurch war die Mutter nicht der Pflicht enthoben, sich weiterhin um ihr Kind zu kümmern,
mit ihm brieflich oder telefonisch Kontakt zu halten und an seiner Entwicklung und an seinem Leben Anteil zu nehmen. Daß entsprechende
Bemühungen dem Kindeswohl ausnahmsweise geschadet hätten, hätte die Klägerin darlegen müssen. Das hat sie nicht getan. Das
Unterlassen der Mutter, an dem sich in der Folgezeit nichts geändert hat, offenbart einen so groben Mangel an elterlicher
Verantwortung und menschlicher Rücksichtnahme, daß nach Abwägung aller Umstände in diesem besonders gelagerten Fall von einer
schweren Verfehlung gegen die Beklagte auszugehen ist (vgl. insofern auch Staudinger/Engler aaO. §
1611 Rdn. 29; Erman/Holzhauer
BGB 10. Aufl. §
1611 Rdn. 5; Palandt/Diederichsen
BGB 63. Aufl. §
1611 Rdn. 5; Kalthoener/Büttner/Niepmann Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts 8. Aufl. Rdn. 1053 b; Wendl/Pauling Das Unterhaltsrecht
in der familienrichterlichen Praxis 6. Aufl. § 2 Rdn. 626; Günther aaO. § 12 Rdn. 113; LG Hannover FamRZ 1991, 1094, 1095; AG Helmstedt FamRZ 2001, 1395; AG Leipzig FamRZ 1997, 965). Nach der Lebenswirklichkeit war der Mutter ihr Verhalten auch bewußt, so daß sie vorsätzlich gehandelt hat.
dd) Bei der gegebenen Sachlage erscheint es auch rechtsbedenkenfrei, daß das Berufungsgericht den Unterhalt nicht nur herabgesetzt,
sondern die Voraussetzungen eines vollständigen Wegfalls der Unterhaltspflicht der Beklagten bejaht hat. Zwar kommt ein solcher
nur unter den in §
1611 Abs.
1 Satz 2
BGB genannten engen Voraussetzungen, nämlich bei Vorliegen grober Unbilligkeit der Inanspruchnahme, in Betracht. Von dieser ist
auszugehen, wenn die Gewährung von Unterhalt dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen würde (MünchKomm/Born
aaO. §
1611 Rdn. 37; Soergel/Häberle
BGB 12. Aufl. §
1611 Rdn. 7; Günther aaO. §
12 Rdn. 114; vgl. auch Senatsurteil vom 18. März 1992 - XII ZR 262/90 - FamRZ 1992, 787, 788 für das Leistungsverweigerungsrecht nach §
1381 BGB).
Das wäre hier indessen - wie eine Würdigung aller maßgeblichen Umstände ergibt - der Fall. Dabei verkennt der Senat nicht,
daß bei der Frage, inwieweit Ansprüche auf Elternunterhalt verwirkt sind, die gebotene Berücksichtigung auch der Belange des
Unterhaltsberechtigten es regelmäßig erfordert, dessen - trotz der Verfehlung vorliegende - Unterhaltsleistungen in die Würdigung
einzubeziehen, wenn er - wie zumeist - über lange Jahre hinweg für sein Kind gesorgt und sich zu dessen Gunsten in seiner
eigenen Lebensführung eingeschränkt hat (vgl. Finger FamRZ 1995, 969, S. 974 f.). Dieser Gesichtspunkt kommt hier indessen nicht zum Tragen. Eigene Leistungen der Mutter für die Beklagte sind
in nennenswertem Umfang nie erfolgt. Dagegen kommt der Verfehlung der Mutter ein solches Gewicht zu, daß es mit dem Rechtsempfinden
schlechthin nicht zu vereinbaren wäre, wenn die Beklagte, nachdem sie die Mutter praktisch immer entbehren mußte und sie deshalb
als Fremde empfinden mußte und durfte, nunmehr für deren Unterhalt aufkommen müßte, zumal sie nach den getroffenen Feststellungen
nicht in wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, bei denen sie durch Unterhaltsleistungen nicht in spürbarer Weise in ihrer Lebensführung
beeinträchtigt würde.