Parallelentscheidung zu BSG B 14 AS 350/19 B v. 26.11.2020
Gründe
I
Streitig ist die Versagung von Alg II (Bescheid vom 29.4.2016 idF des Widerspruchsbescheids vom 6.6.2016). Klage und Berufung (Gerichtsbescheid des SG Karlsruhe vom 6.12.2016, Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 19.7.2018 für den Zeitraum Oktober
2015 bis April 2016) hatten keinen Erfolg.
Im Berufungsverfahren hatte der Senatsvorsitzende eine mündliche Verhandlung für den 17.5.2018 anberaumt. Schon wegen dieses
Termins hatte die Klägerin verschiedene Atteste ihrer Hausärztin vom 5.3.2018 ("aufgrund einer Erkrankung kann Frau G voraussichtlich
bis Ende Mai nicht arbeiten und verhandeln"), 3.5.2018 ("aufgrund einer Erkrankung konnte die Patientin in den letzten Monaten
ihre Gerichtskorrespondenz nicht erhalten und bearbeiten sowie Fristen einhalten", Arbeitsunfähigkeit bis 31.5.2018) und 11.5.2018
("der … Patientin ist derzeit keine Teilnahme an Verhandlungsterminen möglich, weil Sie an einer starken depressiven Episode
leidet … die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen ist derzeit medizinisch absolut kontraindiziert …") sowie ihres behandelnden
Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 17.4.2018 ("die Pat. ist an einer schweren depressiven Episode erkrankt
und aus ärztlicher Sicht mindestens zwei weitere Monate verhandlungsunfähig") vorgelegt.
Eine weitere Ladung, nunmehr zur mündlichen Verhandlung am 19.7.2018, erhielt die Klägerin am 13.6.2018. Am 22.6.2018 teilte
sie telefonisch mit, dass sie krankgeschrieben sei und es ihr schlecht gehe. Mit Schreiben vom 26.6.2018 wies der Vorsitzende
die Klägerin darauf hin, dass der Termin aufgehoben werden könne, wenn sie ein amtsärztliches Attest vorlege, in dem bescheinigt
werde, dass sie an der Verhandlung am 19.7.2018 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen könne. Das angefragte Gesundheitsamt
teilte mit, es könne eine Stellungnahme nicht rechtzeitig vor dem anberaumten Termin fertigen; daraufhin hob der Vorsitzende
den Begutachtungsauftrag auf. Mit Schreiben vom 9.7.2018 und Erinnerung vom 11.7.2018 informierte der Vorsitzende die Klägerin
hierüber und forderte sie auf, unverzüglich eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, aus der sich ergebe, wann sie zuletzt
behandelt worden sei, welche Befunde erhoben und welche Diagnosen gestellt worden seien und wie sich diese auf ihre Fähigkeiten,
an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, auswirkten. Die Klägerin legte am 13.7.2018 Schreiben ihrer Hausärztin vom 4.7.2018,
des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 5.7.2018, eines weiteren Facharztes für Psychiatrie und
Psychotherapie vom 22.5.2018 und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Hausärztin vom 22.6.2018 (Arbeitsunfähigkeit
bis 31.7.2018) vor. Diese Bescheinigungen benannten die Diagnose einer schweren depressiven Episode und attestierten zum Teil
Verhandlungsunfähigkeit. Auf Anfrage des Vorsitzenden am 16.7.2018 teilte der behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
mit, er werde ohne Schweigepflichtentbindungserklärung keine Auskunft geben. Mit Schreiben vom 17.7.2018 erhielt die Klägerin
den Hinweis, dass die vorgelegten ärztlichen Unterlagen keine Befunde enthielten und sich der Senat daher nicht von ihrer
Verhandlungsunfähigkeit überzeugen könne. Dem folgten Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und dann gegen den Senat.
Mit Urteil vom 19.7.2018 - L 7 AS 82/17 - hat das LSG entschieden, ohne dass die zum damaligen Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene Klägerin an der vorangegangenen
mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Die Atteste wegen der Verhandlung im Mai seien zu alt. Die Atteste aus Juli 2018
seien mangels konkreter Angaben zur jeweils letzten ärztlichen Untersuchung und den dabei erhobenen Befunden nicht nachvollziehbar.
Ihre Nichtzulassungsbeschwerde stützt die Klägerin über ihren beigeordneten Prozessbevollmächtigten auf die Zulassungsgründe
der Divergenz und des Verfahrensmangels. Das LSG habe entgegen §§
202 SGG,
227 ZPO und
124 SGG ohne die Anwesenheit der Klägerin verhandelt und entschieden. Das sei zugleich ein Verstoß gegen ihren Anspruch auf rechtliches
Gehör. Wegen der Divergenz macht die Klägerin Abweichungen des LSG von den Urteilen des BSG vom 12.10.2018 (B 9 SB 1/17 R) und vom 28.3.2013 (B 4 AS 42/12 R) geltend.
II
Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl §
67 Abs
1 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung
ihres beigeordneten Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben
und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl §
160a Abs
5 SGG).
Die Klägerin hat formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SG G) gerügt, vom LSG nicht ausreichend rechtlich gehört worden zu sein. Sie hat die Verletzung des §
62 SGG hinreichend bezeichnet. Die Rüge trifft auch zu, weil ihr durch das LSG die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor
der Urteilsfindung zu Unrecht verwehrt worden ist.
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet, dass die Beteiligten ua auch in der mündlichen Verhandlung als dem
"Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ausreichend Gelegenheit zu sachgemäßen Erklärungen haben müssen. Wird aufgrund mündlicher
Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Zwar kann nach entsprechenden
Hinweisen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch bei Ausbleiben eines Beteiligten verhandelt und entschieden
werden (vgl §
110 Abs
1 Satz 2
SGG; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
110 RdNr 11). Hieran ist das Gericht jedoch gehindert, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsaufhebung vorliegen und ein Beteiligter
wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen (BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 6 mwN).
Ein iS des §
227 Abs
1 Satz 1
ZPO ordnungsgemäß gestellter Aufhebungsantrag - hier zuletzt bekräftigt durch die von der Klägerin gestellten Befangenheitsanträge
- mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Grund, den Termin aufzuheben, begründet grundsätzlich eine entsprechende
Pflicht des Gerichts zur Terminsaufhebung (BSG vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - RdNr 16). Welche Anforderungen an die Geltendmachung des Aufhebungsgrundes zu stellen sind, ergibt sich aus §
202 Satz 1
SGG iVm §§
227 Abs
2,
294 ZPO. Danach sind die erheblichen Gründe auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Eines Vollbeweises bedarf es grundsätzlich
nicht; zu fordern ist ein den konkreten Umständen angepasstes Maß an Glaubhaftigkeit, dh die Sicherheit der Feststellung muss
von den Folgen der zu treffenden Entscheidung abhängig gemacht werden (vgl zu §
294 ZPO Greger in Zöller,
ZPO, 33. Aufl 2020, §
294 RdNr 6). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsaufhebung hat der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für
den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen, insbesondere, wenn - wie vorliegend - eine mündliche Verhandlung
vor dem SG nicht stattgefunden hat (vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 7 mwN). Ein erheblicher Grund für die Aufhebung eines Termins kann die durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Erkrankung
eines nicht vertretenen Beteiligten sein (BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - RdNr 12), erst recht gilt dies für eine ärztlich bescheinigte Verhandlungsunfähigkeit.
Diesen Vorgaben wird die Entscheidung des LSG aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19.7.2018 nicht gerecht. Anhand der
im Urteil vorgenommenen Begründung ist schon nicht klar, aufgrund welchen Maßstabs über die Ablehnung des Aufhebungsantrags
entschieden worden ist. Zwar enthält das Urteil die Formulierung, die Klägerin habe keinen Verhinderungsgrund glaubhaft gemacht,
andererseits wird der Inhalt des letzten Schreibens des Vorsitzenden vom 17.7.2018 mit den Worten wiedergegeben, der Senat
habe sich nicht von der Verhandlungsunfähigkeit der Klägerin überzeugen können.
Dass eine volle richterliche Überzeugung von der Verhandlungsunfähigkeit Maßstab einer Terminsaufhebung sein durfte, ergibt
sich aus dem in der angegriffenen Entscheidung dargestellten Verfahrensverlauf nicht. Objektivierbare Umstände, die darauf
hindeuten könnten, dass der Antrag auf Aufhebung des Termins durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen sein könnte
(vgl BSG vom 24.10.2013 - B 13 R 59/13 B - RdNr 20 mwN), sind nicht festgestellt oder ersichtlich. Vielmehr konnte die Klägerin davon ausgehen, dass die Glaubhaftmachung der Verhandlungsunfähigkeit
durch sie nachrangig war, weil der Vorsitzende weitere eigene Ermittlungen zur Verhandlungsunfähigkeit aufgenommen hatte (Auftrag
für ein amtsärztliches Gutachten; Nachfrage beim behandelnden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie). Eine Prozessverschleppungsabsicht
ist darin nicht erkennbar. Die Nichtverlegung des Termins verletzt daher den Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör.
Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt
ist (§
202 Satz 1
SGG iVm §
551 ZPO), ist doch "wegen des Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten - wie hier die Klägerin - daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen,
die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung beeinflusst hat (BSG vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 11).
Die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfahrensrüge zur Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch der Klägerin unter Mitwirkung
der abgelehnten Richter sowie die Zulässigkeit der Divergenzrügen können angesichts dessen dahinstehen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.