Feststellung der Vertriebeneneigenschaft im Fremdrentenrecht
Tatbestand:
Streitig ist die Vormerkung von Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten.
Der am 10.03.1960 in Usbekistan geborene Kläger reiste im Januar 1997 aus Sibirien in Deutschland ein. Er ist im Besitz eines
deutschen Passes, eines Staatsangehörigkeitsausweises vom 13.06.1996 und einer Einbürgerungsurkunde seiner Eltern vom 23.09.1944.
Am 29.12.1997 beantragte der Kläger bei der Beklagten Kontenklärung. Das dazu vorgelegte Arbeitsbuch enthält Beschäftigungszeiten
vom 21.08.1978 bis 08.01.1997. Auf Rückfrage der Beklagten teilte der Kläger mit, er sei kein Spätaussiedler und habe weder
einen Registrierschein noch eine Spätaussiedlerbescheinigung. Er sei aber als Vertriebener "zuspruchsberechtigt" nach dem
Fremdrentengesetz (FRG). Der Nachweis seiner Vertriebeneneigenschaft werde gemäß § 100 Abs. 2 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) von der Leistungsbehörde bei der Vertriebenenbehörde beantragt.
Die Beklagte bat daraufhin das Landratsamt X als Vertriebenenbehörde "zur Entscheidung über die Anrechnung von Zeiten nach
dem FRG um Übersendung einer Bescheinigung nach § 100 BVFG". Das genannte Landratsamt bescheinigte der Beklagten, dass der Kläger "Vertriebener im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG (Umsiedler)" sei.
Mit Bescheid vom 08.02.1999 lehnte die Beklagte die Vormerkung der geltend gemachten Zeiten ab, weil die persönlichen Voraussetzungen
des § 1 FRG nicht vorlägen. Für Personen, die nach dem 31.12.1992 zugezogen seien, sei ausschließlich die Spätaussiedlereigenschaft maßgebend
für die Zugehörigkeit zu § 1a FRG. Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch verwies der Kläger darauf, die vorliegende Bescheinigung nach § 100 BVFG des Landratsamtes sei für den Rentenversicherungsträger verbindlich. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 08.07.1999 zurück. Maßgebend sei seit dem 01.01.1993 ausschließlich die Spätaussiedlereigenschaft. Wenn bei Umsiedlern
im Sinne des § 1 Abs. 2 BVFG nicht parallel dazu auch die Spätaussiedlereigenschaft vorliege, sei eine Bescheinigung nach § 100 Abs.2 Satz 3 BVFG unerheblich.
Dagegen hat der Kläger am 04.08.1999 beim Sozialgericht (SG) Klage erhoben. Er hat im Wesentlichen vorgebracht, die Bescheinigung nach § 100 BVFG sei für den Rentenversicherungsträger bindend. Das SG hat von dem genannten Landratsamt die Auskunft vom 05.09.2002 eingeholt, wonach die Eltern des Klägers 1944 den Status von
Umsiedlern nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG erlangt hätten. Der nach der Vertreibung geborene Sohn habe nach § 7 BVFG in der bis Ende 1992 geltenden Fassung den vertriebenenrechtlichen Status der Eltern im Wege der Ableitung erworben. Die
Bescheinigung vom 04.11.1998 sei kein Verwaltungsakt, sondern ein Verwaltungsinternum. Durch Erlass des Regierungspräsidiums
vom 16.12.2000 sei inzwischen klargestellt worden, dass für Personen im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 7 BVFG a.F., die nach dem 31.12.1992 in das Bundesgebiet eingereist seien, eine Bescheinigung nach § 100 Abs. 2 BVFG nicht mehr erteilt werden könne. Die Beklagte hat gegenüber dem SG an ihrem Rechtsstandpunkt festgehalten. Das SG hat in einem Termin vom 27.08.2002 den Kläger persönlich gehört und sodann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom 12.11.2002
die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, die vom Kläger zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten
vorzumerken, weil der Kläger sein Herkunftsgebiet erst nach dem 31.12.1993 (muss heißen 1992) verlassen habe. Seit dem 01.01.1993
sei nur noch die Spätaussiedlereigenschaft maßgebend. Der Kläger sei zwar, durch das Landratsamt bescheinigt, Umsiedler. Da
nach § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG n.F. die Vertriebenen- oder Flüchtlingseigenschaft nur noch auf Ersuchen einer Behörde festgestellt werde, habe der Kläger
selbst kein eigenes Antragsrecht mehr. Also habe die zuständige Behörde auch keine Entscheidung gegenüber dem Kläger zu treffen.
Unmittelbare Rechtswirkungen ließen sich somit aus der "Verlautbarung" des Landratsamtes vom 04.11.1998 nicht herleiten, die
Leistungsbehörde sei an die Feststellung der Vertriebenenbehörde nicht gebunden.
Gegen dieses am 14.11.2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12.12.2002 Berufung eingelegt. Zur Begründung wird von der
Bevollmächtigten des Klägers vorgebracht, der Kläger sei unstrittig kein Spätaussiedler, er sei jedoch Vertriebener im Sinne
des § 1 BVFG. Der Kläger sei auch anerkannter Vertriebener, weil dies auf Antrag des Rentenversicherungsträgers von der Vertriebenenbehörde
gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG bescheinigt worden sei. Diese Bescheinigung der Vertriebenenbehörde sei, anders als vom SG angenommen, für den Sozialversicherungsträger bindend.
Der Kläger stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts vom 12. November 2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08. Februar
1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Juli 1999 zu verurteilen, die vom 21. August 1978 bis 08. Januar 1997
zurückgelegten Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten nach dem Fremdrentengesetz festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten
der Beklagten und auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des SG ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Vormerkung seiner
Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach dem FRG.
Der Kläger gehört zu dem Personenkreis, der dem FRG unterfällt. Nach § 1 Buchst. a FRG in der seit 01.01.1993 geltenden (durch das Gesetz vom 21.12.1992 - BGBl. I S. 2094 - geänderten) Fassung findet das FRG Anwendung auf Vertriebene im Sinne des § 1 BVFG sowie Spätaussiedler im Sinne des § 4 BVFG, die als solche in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt sind.
Dem SG und der Beklagten ist einzuräumen, dass der Kläger kein Spätaussiedler im Sinne des § 4 BVFG ist, dies hat er auch selbst eingeräumt. Der Kläger ist allerdings Vertriebener im Sinne des § 1 BVFG. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG ist Vertriebener auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger aufgrund der während des Zweiten
Weltkrieges geschlossenen zwischenstaatlichen Verträge aus außerdeutschen Gebieten oder während des gleichen Zeitraums aufgrund
von Maßnahmen deutscher Dienststellen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten umgesiedelt worden ist (Umsiedler).
Dass der Kläger Vertriebener im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG (Umsiedler) ist, hat das hierfür zuständige Landratsamt als Vertriebenenbehörde am 04.11.1998 ausdrücklich festgestellt,
und zwar im Sinne einer ausdrücklichen Statusfeststellung.
Der Kläger ist damit auch anerkannter Vertriebener im Sinne des § 1 Buchst. a FRG. Dies ergibt sich aus § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG, wonach im Übrigen, also in den Fällen, die nicht von Satz 1 und 2 der genannten Rechtsnorm erfasst werden, was hier der
Fall ist, die Vertriebenen- und Flüchtlingseigenschaft nur auf Ersuchen einer Behörde, die für die Gewährung von Rechten und
Vergünstigungen an Vertriebene oder Flüchtlinge zuständig ist, festgestellt wird. Genau dieser Fall liegt hier vor. Die Beklagte
hat die Vertriebenenbehörde ersucht, die Vertriebeneneigenschaft festzustellen, was das Landratsamt mit der feststellenden
Bescheinigung vom 04.11.1998 ausdrücklich getan hat.
Diese Feststellung der Vertriebeneneigenschaft war, was das SG verkannt hat, für die Beklagte bindend. Dies ergibt sich daraus, dass § 100 Abs. 2 BVFG die Ausweiserteilung nach § 15 BVFG a.F. für den Personenkreis des Abs. 1 regelt. In § 15 Abs. 5 BVFG a.F. war geregelt, dass die Entscheidung über die Ausstellung des Vertriebenenausweises für alle Behörden und Stellen verbindlich
ist, die für die Gewährung von Rechten und Vergünstigungen für Vertriebene zuständig waren. Durch die Neuregelung in § 100 Abs. 2, insbesondere Satz 3 BVFG, wurde zwar verfahrensrechtlich neu geregelt, dass Ausweise nur noch bis zu einem Stichtag beantragt und ausgestellt werden
konnten, im Übrigen ein Antragsrecht der Leistungsempfänger nicht mehr bestand, dagegen die Vertriebeneneigenschaft nur auf
Ersuchen der Leistungsbehörde von der Vertriebenenbehörde festgestellt wird. Damit ist jedoch an der generellen Zuständigkeit
der Vertriebenenbehörde, die Vertriebeneneigenschaft verbindlich festzustellen, nichts geändert worden.
Dass die Beklagte an die Entscheidung der Vertriebenenbehörde - auch bezüglich § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG - im Sinne einer Tatbestandswirkung gebunden ist, ist im Übrigen in der Rechtsprechung bereits mehrfach entschieden (LSG
Essen, Urteil vom 28.01.2000 - L 4 RJ 109/99, BSG SozR 3-7140 § 4 Nr. 1, LSG Stuttgart, Urteil vom 25.11.2003 - L 11 RJ 3127/03 -). Diese Tatbestandswirkung hat zur Folge, dass weder die Beklagte noch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit eigenständig
prüfen und entscheiden können, ob die Vertriebeneneigenschaft gegeben ist. Die genannte Rechtsprechung ist zwar ausschließlich
zur negativen Feststellung der Vertriebeneneigenschaft ergangen. Zu § 15 Abs. 5 BVFG a.F. war jedoch geklärt, dass die Bindungswirkung sowohl in positiver (Erteilung des Ausweises) als auch in negativer Hinsicht
(Ablehnung des Antrags auf Ausstellung eines Ausweises) galt (Rechtshandbuch der BfA, Arbeitsanweisungen zu § 1 Buchst. a FRG Bl. 5). Dafür, dass dies nicht auch gleichermaßen für die Statusfeststellung im Sinne des § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG gelten soll, ist nichts ersichtlich.
Dass die auf Ersuchen und gegenüber einer Leistungsbehörde erfolgte Feststellung der Vertriebeneneigenschaft nach § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG gegenüber dem Betroffenen nicht (mehr wie früher) als Verwaltungsakt wirkt, es sich vielmehr um eine rein innerbehördliche
Mitwirkung handelt (so zutreffend das OVG Münster im Urteil vom 25.01.1999 - 22 A 3999/98), führt zu keinem anderen Ergebnis. Verwaltungsintern ist die Beklagte an die feststellende Bescheinigung des Landratsamtes
vom 04.11.1998 gebunden. Es handelt sich insoweit bei der Entscheidung der Beklagten gegenüber dem Kläger um einen mehrstufigen
Verwaltungsakt, bei dem die Mitwirkungshandlung gegenüber der entscheidenden Behörde verbindlich, nicht aber vom Kläger selbst
anfechtbar ist.
Dass bei einer versagten Mitwirkungshandlung der Betroffene effektiven Rechtsschutz dadurch erlangen kann, dass er seinen
Leistungsanspruch mit Rechtsmitteln unmittelbar gegenüber der Leistungsbehörde, hier der Beklagten, geltend macht, ist durch
die oben genannte Rechtsprechung geklärt. Für den hier vorliegenden umgekehrten Fall, dass eine positive Mitwirkungshandlung
ergangen ist, die nach späterer Erlasslage so nicht ergangen wäre, muss deshalb die entscheidende Behörde, hier die Beklagte,
nach den Grundsätzen der §§ 48, 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Möglichkeit haben, bei anfänglicher oder nachträglich Rechtswidrigkeit der Mitwirkungshandlung die begehrte Leistung
entsprechend zurückzunehmen (so auch BSG SozR 3-4100 § 105a Nr. 4). Beide Rechtsnormen setzen jedoch außer der Rechtswidrigkeit
der Mitwirkungshandlung das Fehlen von Vertrauensschutz auf Seiten des Betroffenen voraus. Für beides ist hier nichts ersichtlich.
Dass die vom Landratsamt ausgestellte Bescheinigung nach § 100 Abs. 2 Satz 3 BVFG nach der später geänderten Verwaltungspraxis der Beklagten nicht mehr beantragt worden wäre und dass die Bescheinigung nach
der später geänderten Verwaltungspraxis der Vertriebenenbehörde nicht mehr ausgestellt worden wäre, macht sie nicht rechtswidrig
im Sinne der §§ 45, 48 SGB X.
Die Beklagte ist also an die feststellende Bescheinigung des Landratsamtes vom 04.11.1998 gebunden. Der Kläger ist damit anerkannter
Vertriebener im Sinne des § 1 Buchst. a FRG. Er hat dem Grunde nach Anspruch auf Vormerkung seiner Beitrags- und Beschäftigungszeiten im Sinne der §§ 15, 16 FRG.
Das angefochtene Urteil war nach alledem aufzuheben und der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wird nach §
160 Abs.2 Nr.2
SGG zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.