Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aus der gesetzlichen Rentenversicherung; Ermessensentscheidung des Rentenversicherungsträgers
Tatbestand:
Die 1968 geborene Klägerin hat keine Ausbildung absolviert. Ausbildungen zur Rechtsanwaltsgehilfin, Steuerfachgehilfin und
Hotelfachfrau wurden jeweils abgebrochen. Danach war sie als Schreibkraft/Sachbearbeiterin, Verwaltungsangestellte und Bürokauffrau
versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt übte sie eine Tätigkeit als Schreibkraft vom 24.08. bis 03.09.2002 aus. Nach einem
Suizidversuch der Klägerin im November 2003 bestand eine inkomplette Plexuslähmung des rechten Armes. Nach Antrag der Klägerin
vom 22.03.2004 auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährte die Beklagte der Klägerin aufgrund der bestehenden Feinmotorikstörung
der rechten Hand und einer damit bestehenden Einschränkung der zweihändigen Bedienung einer Tastatur ein Einhandtraining (Linksschreibtraining),
das die Klägerin erfolgreich absolvierte. Am 02.06.2005 beantragte die Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in
Form einer qualifizierten Umschulungsmaßnahme im Bürobereich zur Bürokauffrau oder einer anderen qualifizierten Umschulung
etwa als Reiseverkehrskauffrau.
Mit Bescheid vom 20.07.2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach.
Über Art und Umfang dieser Leistungen erhalte die Klägerin noch einen weiteren Bescheid. Mit Bescheid vom 06.09.2005 lehnte
die Beklagte die beantragten Umschulungsmaßnahmen ab. Nach dem PC-Einhandtraining sei der Bezugsberuf der Bürogehilfin weiter
zumutbar. Indiziert seien lediglich Vermittlungshilfen, da die Klägerin aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen wettbewerbsgemindert
sei.
Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.02.2006 zurück. Die Tätigkeit
als Bürogehilfin könne ohne erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit weiter ausgeübt werden.
Dagegen hat die Klägerin am 23.02.2006 Klage zum Sozialgericht (SG) A-Stadt erhoben. Sie hat im Wesentlichen vorgetragen, aufgrund der bestehenden Gesundheitsstörungen sei sie nicht mehr in
der Lage, den Beruf einer Bürogehilfin auszuüben, durch eine Umschulung zur Bürokauffrau oder eine andere qualifizierte Umschulung
könne sie jedoch dauerhaft in das Erwerbsleben wieder eingegliedert werden. Das SG hat die medizinischen Unterlagen beigezogen sowie eine Auskunft des Arbeitgebers, bei dem die Klägerin zuletzt längerfristig
beschäftigt war, über Art und Qualität der von der Klägerin verrichteten Tätigkeit angefordert. Dieser hat mitgeteilt, die
Klägerin sei vom 25.04.2000 bis 01.11.2001 beschäftigt gewesen. Sie habe Bürotätigkeiten (Erledigung der Korrespondenz, sonstige
Schreibarbeiten, Telefondienst, Erfassen von Leistungsverzeichnissen und allgemeine Verwaltungstätigkeiten) verrichtet, die
im Allgemeinen von Angestellten mit längerer Ausbildung verrichtet würden. Sie habe über alle Kenntnisse einer Ausgebildeten
verfügt. Das SG hat ein Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und öffentliches Gesundheitswesen Dr.B. eingeholt. Diese beschreibt in ihrem
Gutachten vom 11.04.2007 eine rezidivierende depressive Störung bei Borderline-Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren
Anteilen, Alkoholmissbrauch, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Schwäche der Handmuskulatur rechts nach Druckläsion des rechten
oberen und unteren Armplexus, Radiokarpalarthrose rechts. Die Klägerin könne noch wenigstens 6 Stunden täglich leichte Tätigkeiten
unter Vermeidung von Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, mit ständigem Publikumsverkehr und ständigem sozialen
Kontakt verrichten. Eine volle Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand bestehe nicht. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Beruf
als Büroangestellte sei durch Krankheit und Behinderung erheblich gefährdet. Diese Minderung der Erwerbsfähigkeit sei durch
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau mit Ausbildungsabschluss abzuwenden.
Mit Urteil vom 22.08.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Mit dem von Dr. B. festgestellten Leistungsvermögen quantitativer und qualitativer Art fehle es an
den persönlichen Voraussetzungen des §
10 Abs
1 Nr
1 SGB Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI). Die Klägerin könne weiterhin den Berufsbereich als Büroangestellte ausüben. Die Klägerin habe - wenn auch ohne formellen
Abschluss - die Tätigkeit als Bürokauffrau vollwertig ausgeübt. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Erwerbsfähigkeit der
Klägerin im Beruf als Bürokauffrau - ohne Ausbildungsabschluss - aus gesundheitlichen Gründen gefährdet sein solle, mit Weiterbildung
zur Bürokauffrau mit Abschluss jedoch eine dauerhafte Eingliederung in das Erwerbsleben erfolgen solle.
Zur Begründung der am 13.12.2007 beim Bayer. Landessozialgericht erhobenen Berufung hat die Klägerin vorgebracht, ein Abschluss
erhöhe ihr Selbstwertgefühl und verbessere die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Der Senat hat aktuelle Befundberichte für die Zeit ab 2007 eingeholt und den Neurologen und Psychiater Prof. Dr. D. mit der
Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 10.08.2009 mit Ergänzung vom 15.09.2009 auf neurologisch-psychiatrischem
Gebiet eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetypus mit rezidivierenden depressiven Störungen, derzeitig
nur leicht ausgeprägt, neben Resterscheinungen einer Teilschädigung des Armnervengeflechts rechts mit einer leichten Gebrauchsbeeinträchtigung
der rechten Hand diagnostiziert. Die Klägerin könne noch wenigstens 6 Stunden täglich leichte Tätigkeiten unter Vermeidung
von Tätigkeiten mit durchgehendem erheblichen Zeitdruck und besonderer nervlicher Belastung verrichten. Im Beruf als Büroangestellte
sei die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet, mit einer Umschulungsmaßnahme könne die Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet
werden.
Die Beklagte hat dargelegt, eine Besserung der psychischen Störung sei durch eine Höherqualifizierung im bisherigen Berufsbereich
nicht zu erwarten. Vielmehr stiegen bei höherer Qualifizierungen auch die beruflichen Anforderungen und die Gefahr von Überforderung
und Misserfolgserlebnissen. Darüber hinaus könne die Klägerin in ihrem bisherigen Beruf als Bürogehilfin weiter tätig sein.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 22.08.2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 06.09.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 22.02.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer
qualifizierten Umschulung zur Bürokauffrau mit Ausbildungsabschluss, hilfsweise eine andere geeignete Umschulung in einen
qualifizierten kaufmännischen Ausbildungsberuf, hilfsweise unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 22.08.2007 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§
143,
144,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) ist zulässig und teilweise begründet. Sie ist unbegründet, soweit die Klägerin die konkrete Umschulung zur Bürokauffrau
begehrt, sie ist begründet, weil die Beklagte unter Berücksichtigung der Ermessenserwägungen des Gerichts erneut über die
Bewilligung einer Umschulungsmaßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben zu entscheiden hat.
Gemäß §
9 Abs
2 SGB VI können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen
dafür erfüllt werden. Dabei erstreckt sich das Ermessen lediglich auf das "wie", d.h. gemäß §
13 SGB VI auf Art, Dauer, Umfang und Durchführung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Hinsichtlich der persönlichen und versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen (§§
10,
11 SGB VI) besteht hingegen kein Ermessen.
Gemäß §
10 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe erfüllt,
1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder
gemindert ist und
2. bei denen voraussichtlich
a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann
b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben
wesentlich gebessert oder wieder hergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann.
Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit bedeutet eine länger andauernde nicht unwesentliche Einschränkung der vollen Leistungsfähigkeit
im Erwerbsleben und ist neben der letzten Tätigkeit auch auf die gesamte berufliche Qualifikation bezogen. Erforderlich ist
nicht eine Erwerbsminderung im rentenrechtlichen Sinne (Eicher/Haase/Rauschenbach, Juni 2009, §
10 SGB VI Nr 3). Eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit liegt vor, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung und die damit
verbundenen Funktionseinschränkungen innerhalb eines absehbaren Zeitraumes zu einer Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben
führen (Eicher/Haase/Rauschenbach, aaO., §
10 SGB VI Nr 2).
Zunächst ist festzustellen, dass der Bescheid vom 20.07.2005, mit dem die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe dem
Grunde nach bewilligt hat, nach wie vor seine Wirkung entfaltet. Daneben ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die
Klägerin die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI erfüllt, denn es besteht eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit für den ausgeübten Beruf der Klägerin als Bürogehilfin/Bürokauffrau
ohne Abschluss.
Zur Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin stützt sich der Senat sowohl auf die Feststellungen der Sachverständigen
Prof. Dr.D. sowie der vom SG als Sachverständigen gehörten Dr.B ... Danach besteht bei der Klägerin eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom
Borderlinetypus mit rezidivierenden depressiven Störungen, derzeitig nur leicht ausgeprägt, Resterscheinungen einer Teilschädigung
des Armnervengeflechts rechts mit einer leichten Gebrauchsbeeinträchtigung der rechten Hand. Die Klägerin ist noch in der
Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten zu verrichten, wobei Tätigkeiten mit durchgehendem erheblichem
Zeitdruck und besonderer nervlicher Belastung vermieden werden sollten. Dieses Anforderungsprofil steht zwar durchaus in Übereinstimmung
mit den Anforderungen an eine Tätigkeit als Bürogehilfin und insbesondere der zuletzt von der Klägerin längerfristig ausgeübten
Tätigkeit als Bürokauffrau ohne Ausbildungsabschluss. In der vom 25.04.2000 bis 01.11.2001 ausgeübten Tätigkeit erledigte
die Klägerin Korrespondenz, sonstige Schreibarbeiten, Telefondienst, Erfassen von Leistungsverzeichnissen sowie allgemeine
Verwaltungstätigkeiten. Insofern ist das Leistungsvermögen der Klägerin in diesem Beruf noch nicht gemindert. Allerdings besteht
eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit in der Tätigkeit als Bürogehilfin/Bürokauffrau ohne Abschluss. Prof. Dr.D.
hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Fixierung der Klägerin auf eine Qualifizierung zur Bürokauffrau oder eine andere qualifizierende
Maßnahme als Ausdruck der Persönlichkeitsstörung zu sehen ist. Dr.B. legt dar, dass bei der Klägerin durch die Tätigkeit als
Bürohilfskraft eine Abwertung des Selbstwertsgefühls einhergehe. Durch eine Weiterqualifizierungsmaßnahme würde ihr mehr Selbstbewusstsein
verliehen und die Chance auf eine dauerhafte Arbeitsstelle verbessert. Ähnlich schildert dies Dr.W. in seinem Entlassungsbericht
über einen stationären Aufenthalt der Klägerin vom 23.11.2006 bis 02.02.2007 im S.-Klinikum K. L ... Die Tätigkeiten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt untergräben das Selbstbewusstsein der Klägerin weiter, wodurch sich die depressive Verstimmung verschlimmere
und neuerlich zur Arbeitsunfähigkeit führe. Die Klägerin benötige eine berufliche Förderung mit langfristiger Zukunftsperspektive.
Die Einschätzung der gefährdeten Erwerbsfähigkeit in dem Beruf als Bürogehilfin/Bürokauffrau ohne Abschluss wird auch nicht
dadurch erschüttert, dass die Klägerin, wie das SG ausführt, in der letztgenannten Tätigkeit in voll umfänglichen Maße die Tätigkeit einer Bürokauffrau - wenn auch ohne Abschluss
- ausgeführt hat. Wie Prof. Dr.D. dargestellt hat, besitzt die Fixierung auf eine qualifizierende Tätigkeit insoweit schon
Krankheitswert.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind ebenfalls erfüllt. Davon geht offenbar auch die Beklagte aus, hat sie doch
mit Bescheid vom 20.07.2005 der Klägerin Leistungen zur Teilhabe dem Grunde nach bewilligt.
Hinsichtlich des "Wie" einer Leistung zur Teilhabe liegt die Gewährung im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten. Die Beklagte
hat also nun eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen über die Art einer Rehabilitationsmaßnahme zu treffen. Dabei ist
zu berücksichtigen, dass nach der gegenwärtigen Gutachtenslage eine Weiterqualifizierungsmaßnahme erforderlich ist, da nur
eine solche die Gefährdung der Erwerbsfähigkeit in der Tätigkeit als Bürogehilfin abwenden kann. Mit einzubeziehen sind dabei
Eignung, Neigung und bisherige Tätigkeit. Dabei mag es eine Rolle spielen, dass der Klägerin hinsichtlich der Beschäftigung
vom 25.04.2000 bis 01.11.2001 von ihrem damaligen Arbeitgeber bestätigt wurde, die Tätigkeit als Bürokauffrau (ohne Abschluss)
gleichwertig mit der einer ausgebildeten Kraft verrichtet zu haben. Die von der Beklagten befürchtete Überforderung ist damals
jedenfalls nicht eingetreten. Zu berücksichtigen ist weiter, dass sowohl Dr.B. wie auch Prof. Dr.D. die Klägerin dem Grunde
nach in der Lage sehen, an einer qualifizierten Umschulungsmaßnahme im Vollzeitunterricht teilzunehmen, wobei Prof. Dr.D.
bei der instabilen Persönlichkeit der Klägerin eine Prognose als schwierig erachtete. Bei der Auswahl der berufsfördernden
Leistung kann neben den oben genannten individuellen Merkmalen jedoch auch Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in die
Ermessensentscheidung eingestellt werden.
Eine Ermessensreduzierung auf Null, nach der der Klägerin zwingend eine Umschulung zur Bürokauffrau zu gewähren wäre, ist
nicht ersichtlich, so dass die Berufung nur teilweise erfolgreich war.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs
2 Nrn 1 und 2
SGG zuzulassen, liegen nicht vor.