Zulässigkeit des Ausschlusses der Teilnahme unter 15-jähriger an der hausarztzentrierten Versorgung in der Satzung
Gründe:
I. Die Antragstellerin (Ast) ist ein Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V). Als bundesweit geöffnete Krankenkasse versichert sie allein in Bayern 4.368 Kinder und Jugendliche unter dem vollendeten
15. Lebensjahr (Kinder und Jugendliche). An der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmende Ärzte erhalten von ihr pauschal
für jeden eingeschriebenen Versicherten pro Jahr 65,00 EUR, ohne dass hierzu ein Kontakt zwischen Arzt und Versicherten notwendig
wäre. Der Verwaltungsrat der Antragstellerin hat mit Umlaufbeschluss vom 28.05.2010 einstimmig beschlossen, Art. I § 16b Abs.1
Satz 1 des 27. Satzungsnachtrages wie folgt zu ändern: "Die HVB BKK bietet ihren Versicherten ab dem 15. Lebensjahr eine hausarztzentrierte
Versorgung nach §
73b SGB V auf Grundlage von regionalen Verträgen mit Hausärzten, Gemeinschaften von Hausärzten, Medizinischen Versorgungszentren oder
Kassenärztlichen Vereinigungen an, soweit diese von Gemeinschaften von Hausärzten dazu ermächtigt wurden".
Die Satzungsgenehmigung wurde am 01.06.2010 von der Ast bei der Antragsgegnerin (Ag) beantragt.
Mit Bescheid vom 10.06.2010 wurde die Satzungsänderung mit Ausnahme der Worte "ab dem vollendeten 15. Lebensjahr" bei Art.I
§ 16b Abs.1 Satz sowie Art.I § 16b Abs.2 Satz 10 mit den Worten "mit Ausnahme der Altersgrenze in Abs.1 Satz 1" genehmigt.
Die Ag begründete die Entscheidung damit, dass die in Art.I § 16b Abs.1 Satz 1 vorgesehene Altersgrenze nicht in Einklang mit §
73b Abs.1
SGB V stehe, da die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung uneingeschränkt allen Versicherten zu ermöglichen sei. Da die
Altersgrenze nicht genehmigt werde, könne auch die Bezugnahme auf diese Altersgrenze in Art.I § 16b Abs.2 Satz 10 nicht genehmigt
werden.
Die Ast beantragte mit Schriftsatz vom 1.7.2010 den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bayerische Landessozialgericht
den sie damit begründete, dass das Recht, das Nähere zur Durchführung der Teilnahme der Versicherten an der hausarztzentrierten
Versorgung zu regeln, der Satzungsautonomie der Ast unterliege (§
73b Abs.3 Satz 4
SGB V). Die Genehmigung der Aufsichtsbehörde könne nur versagt werden, wenn die beantragte Satzungsänderung formell oder materiell
rechtswidrig sei. Beides sei hier nicht der Fall. Der Wortlaut von §
73b Abs.1
SGB V lasse keinen Rückschluss darauf zu, dass eine Altersbeschränkung für die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung
ausgeschlossen sei. Der Gesetzgeber habe mit dem GKV-WSG vom 01.04.2007 (BT-Drucksache 16/3100) Mindestanforderungen geregelt mit dem Ziel, die Versorgungsqualität der Versicherten
zu verbessern (sog. Lotsenfunktion des Hausarztes) und Wirtschaftlichkeitsreserven der Krankenkassen zu erschließen.
Kinder und Jugendliche frequentierten üblicherweise zunächst einen Kinderarzt, ohne vorher einen Hausarzt konsultiert zu haben.
Diese Möglichkeit werde ihnen auch durch §
73b Abs.3 Satz 2
SGB V eingeräumt. Die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in die hausarztzentrierte Versorgung widerspreche dem Zweck des
vom Gesetzgeber Gewollten. Der Hausarzt nehme keine Lotsenfunktion wahr, da Kinder und Jugendliche direkt den Kinderarzt in
Anspruch nähmen. Die Krankenkasse könne keine Wirtschaftlichkeitspotenziale nutzen. Ganz im Gegenteil würden Kosten für die
Teilnahme an der Hausarztzentrierten Versorgung für Kinder und Jugendliche entstehen, weil der Hausarzt pauschal pro Jahr
65,00 EUR für jedes Kind bzw. Jugendlichen erhielte, im Gegensatz dazu aber keine vom Zweck des §
73b SGB V gewollte Leistung erbringe. Der Zweck des Gesetzes werde durch die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen nicht erfüllt.
Es sei daher konsequent von der Ast, die Satzung nach dem Zweck des Gesetzes zu ändern.
Ein Anordnungsgrund liege vor, da eine Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig sei. Ohne die von
der Antragstellerin begehrte Satzungsgenehmigung habe die Ast erhebliche finanzielle Einbußen. Mit Schriftsatz vom 23.11.2010
trug die Ast vor, dass im Jahr 2008 bei ihr in Bayern 5.303 Kinder und Jugendliche versichert gewesen seien. Nach Abzug des
Erstattungsbetrages der Kassenärztlichen Vereinigung verblieben bei der Ast Kosten in Höhe von 125.362,92 Euro, wenn die Satzungsänderung
nicht genehmigt würde. Dies stelle einen wesentlichen Nachteil für die Ast dar.
Mit der einstweiligen Anordnung werde auch nicht die Hauptsache endgültig vorweggenommen, was der Natur einer einstweiligen
Anordnung zuwiderlaufen würde. Die Ag werde lediglich verpflichtet, der Ast vorläufig bis zur endgültigen Entscheidung über
deren Satzungsänderungsantrag, also bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu genehmigen. Daraus erwachse
der Ast kein Anspruch auf eine unbefristete Satzungsregelung. Ihre Satzungsregelung bestehe unter dem Vorbehalt einer endgültigen
zu ihren Gunsten ausgehenden Hauptsacheentscheidung. Ohne eine Satzungsregelung seien die zu erwartenden Nachteile für die
Ast unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen.
Die Ast beantragt mit Schriftsatz vom 01.07.2010,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten,
ihr den 27. Satzungsnachtrag bei Art.I § 16b Abs.1 Satz 1 mit den Worten "ab dem 15. Lebensjahr" sowie Art.I § 16b Abs.2 Satz
10 mit den Worten "mit Ausnahme der Altersgrenze in Abs.1 Satz 1" zu genehmigen.
Die Ag beantragt mit Schriftsatz vom 20.08.2010,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sie hält die Satzungsänderung für unvereinbar mit §
73b Abs.
1 SGB V.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf alle Akten des Bayerischen Landessozialgerichts sowie auf die Originalverwaltungsakte
der Antragsgegnerin.
II. Für die Entscheidung ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet, zuständiges Gericht ist das Bayerische Landessozialgericht.
Gemäß §
29 Abs.
2 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheiden die Landessozialgerichte im ersten Rechtszug über Aufsichtsangelegenheiten gegenüber den Trägern der Sozialversicherung
und ihren Verbänden, gegenüber den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen sowie der Kassenärztlichen und
Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, bei denen die Aufsicht von einer Landes- oder Bundesbehörde ausgeübt wird.
Der Antrag nach §
86b Abs.2 Satz 2
SGG auf Erlass einer Regelungsanordnung ist zulässig, jedoch im Ergebnis nicht begründet. Der erforderliche Regelungsanspruch
verlangt einen materiell-rechtlichen Anspruch, der erforderliche Regelungsgrund muss die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen
Regelung begründen. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß §
86b Abs.2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.2
ZPO glaubhaft zu machen. Dies ist jedoch von Seiten der Ast nicht erfolgt. Im vorliegenden Fall fehlt es sowohl an einem Anordnungsanspruch
als auch an einem Anordnungsgrund. Entscheidungsmaßstab ist wegen der bestehenden Eilbedürftigkeit eine summarische Prüfung.
Die Ast hat keinen Anspruch auf die Genehmigung der streitgegenständlichen Satzungsregelung. Dies folgt daraus, dass für die
vorgelegte Satzungsregelung keine Ermächtigungsgrundlage besteht. §
73b Abs.3 Satz 4
SGB V eröffnet den Krankenkassen eine Regelungsbefugnis lediglich für die Durchführung der Teilnahme an der hausarztzentrierten
Versorgung. Daraus folgt, dass der Versicherte zunächst seine Teilnahme erklärt, die dann durch die in der Satzung enthaltene
Durchführungsbestimmung näher ausgestaltet wird. Einschränkungen wie insbesondere der Zugang zur Teilnahme an der hausarztzentrierten
Versorgung sind grundsätzlich nicht im Wege einer Satzung zu regeln. Die hier streitbefangene Regelung bezieht sich jedoch
gerade auf den Zugang zur hausarztzentrierten Versorgung, so dass der Anwendungsbereich des §
73b Abs.3 Satz 4
SGB V nicht eröffnet ist. Die von der Ast vorgesehene streitbefangene Regelung wird nicht von der Satzungsautonomie von §
73b Abs.3 Satz 4
SGB V getragen. Sie bezieht sich allein auf die Durchführung, nicht aber auf den Zugang zur hausarztzentrierten Versorgung. Die
von der Ast gewünschte Altersbeschränkung kann nicht Gegenstand von Satzungsregelungen sein. Nach §
73b Abs.5 Satz 1
SGB V ist in Verträgen das Nähere zum Inhalt, das heißt auch zum Umfang der hausarztzentrierten Versorgung zu regeln, so dass allenfalls
in diesem Rahmen auch das Alter des Versicherten, der an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen soll, geregelt werden
könnte. Einer Satzungsregelung ist eine solche Bestimmung somit nicht zugänglich.
Die von der Ast vorgetragene Vergütungspraxis kann nicht zur Stützung des Begehrens verwendet werden. Dies ist Gegenstand
der einzelnen Verträge mit den Hausärzten. Der von der Antragstellerin vorgetragenen Behauptung, der Gesetzgeber habe einen
Ausschluss der unter 15-jährigen Versicherten von der hausarztzentrierten Versorgung gewollt, kann nicht gefolgt werden. Hierfür
finden sich keinerlei Anhaltspunkte. Der Gesetzgeber selbst ging bei seiner Gesetzesbegründung zunächst ausdrücklich davon
aus, dass jeder Versicherte an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen könne. Zum andern wurde im Rahmen der Begründung
auch deutlich, dass eine Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an der hausarztzentrierten Versorgung durchaus gewünscht sei
und es der Wahlfreiheit der Eltern obliege, ob ein Kinder- oder ein Allgemeinarzt als durchführender Hausarzt gewählt werde.
Gerade die Teilnahme von Kindern an der hausarztzentrierten Versorgung ist demnach der Grund, dass zum 01.01.2009 die direkte
Inanspruchnahme von Kinderärzten gesetzlich ausdrücklich ermöglicht wurde. (vgl. insb. BT-Drucksache 16/10609 S. 53). Daraus
lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass der Gesetzgeber einen Teilnahmeausschluss von Kindern bei der hausarztzentrierten
Versorgung nicht beabsichtigt hat. Dies steht auch vor dem Hintergrund, dass es nach dem Vortrag der Ag Verträge zur hausarztzentrierten
Versorgung mit Kinderärzten gibt, die eine kinderärztliche hausarztzentrierte Versorgung ermöglichen.
Eine Altersbeschränkung, die sich auf den Zugang zur Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung bezieht, ist außerdem
mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. §
73b Abs.1
SGB V enthält die Verpflichtung der Krankenkasse, allen ihren Versicherten eine hausarztzentrierte Versorgung anzubieten und ihnen
die Teilnahme zu ermöglichen. Nach dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes (§
31 SGB I) bedürfe es einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung, diese gesetzlich begründeten Ansprüche von Versicherten zu beschränken.
Eine solche liegt jedoch nicht vor.
Darüber hinaus fehlt es auch an einem Anordnungsgrund. Die Ast hat lediglich vorgetragen, dass für den Fall, dass die Satzungsänderung
in der gewünschten Form nicht vorgenommen werden könne, für die Ast erhebliche Kosten anfallen würden. Für die Beurteilung,
ob wesentliche Nachteile entstehen, ist im Rahmen einer Interessenabwägung nach den Umständen des Einzelfalles zu ermitteln,
ob es für den Betroffenen unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz (
SGG), 9. Aufl. §
86b Rdnr.28). Hinsichtlich eines Anordnungsgrundes für eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts sind erhöhte Anforderungen für
die Darlegung des Anordnungsgrundes zu stellen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage, §
86b Rdnr.26). Es sind insbesondere keine wesentlichen wirtschaftlichen Nachteile dargelegt. Die von der Ast angegeben Mehrkosten
betreffen alle an jeweiligem Vertrag zur hausarztzentrierten Versorgung teilnehmenden Krankenkassen, so dass für die Ast kein
konketer Nachteil zu erkennen ist. Weshalb sie ohne die begehrte Satzungsregelung im Vergleich zu ihren Mitbewerbern Nachteile
erwartet, kann deshalb nicht nachvollzogen werden.
Die Ag hat nach ihrem Vortrag bisher bereits verschiedenen anderen Krankenkassen die Genehmigung einer entsprechenden Satzungsregelung
mit rechtskräftigem Bescheid versagt. Die Antragstellerin würde sich somit über das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, nachdem die Ag bisher alle anderen Krankenkassen gleichbehandelt und die begehrten Altersregelungen
untersagt hat.
Darüber hinaus ist in dem vorliegenden Fall zu bedenken, dass eine Genehmigung der begehrten Satzungsänderung im Wege des
vorläufigen Rechtsschutzes den Erfolg hätte, dass zwangsläufig die Hauptsache vorweggenommen würde. Die Ast könnte ansonsten
möglicherweise mit einer Satzungsregelung in den Wettbewerb eintreten, die bisher allen anderen konkurrierenden Krankenversicherungen
versagt wurde. Es würden damit bereits rechtliche Tatsachen geschaffen, da die geänderte Satzung letztlich die der Vertragsbeziehungen
zwischen den Versicherten und der Krankenkasse gestaltet. Darüber hinaus hätte dies zur Folge, dass bis zur Hauptsacheentscheidung
die Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 15 Jahren aus der hausarztzentrierten Versorgung ausgeschlossen wären. Dieser
Ausschluss könnte nachträglich nicht mehr beseitigt werden. Es ist nicht ersichtlich, weshalb hier erforderlich wäre, der
Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen. Der Ast ist es durchaus zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Der Antrag ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 197a Abs.1
SGG, 154 Abs. 1
VwGO.
Gemäß §§ 52 Abs.1 Gerichtskostengesetz, 197a Abs.1 S.1
SGG war der Streitwert auf 62.500,00 EUR festzusetzen. Nach Angaben der Ast ist eine Ausgabenlast von 125.362,92 Euro zugrunde
zu legen. Hiervon ist gerundet die Hälfte anzusetzen da es sich hier um ein Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz handelt.
Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist nicht statthaft, §177
SGG.