Psychogene Orientierungsstörungen; Merkzeichen B und G
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung der Merkzeichen G und
B.
Die im Jahre 1947 geborene Klägerin leidet vor allem an einer psychischen Erkrankung sowie an weiteren, insbesondere orthopädischen,
Einschränkungen.
Am 22. April 2010 beantragte sie beim Beklagten die Zuerkennung eines GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen
für die Merkzeichen G und B. Mit Bescheid vom 25. November 2010 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 30 fest
und lehnte die Zuerkennung von Merkzeichen ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren erteilte der Beklagte am 7. Februar
2011 der Klägerin einen weiteren Bescheid, in dem er den GdB auf 50 festsetzte, die Zuerkennung der Merkzeichen G und B aber
weiterhin ablehnte. Dem lag insbesondere zugrunde, dass eine psychische Erkrankung nunmehr mit dem Einzel-GdB von 50 bewertet
wurde. Den Widerspruch wies der Beklagte im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2011 zurück.
Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 4. Januar 2012 der
Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. S ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin hat er bei der Klägerin eine
psychische Erkrankung in Gestalt von Depression, Angststörung und Schmerzkrankheit festgestellt und diese mit einem Einzel-GdB
von 50 bewertet. Zugleich hat er eine Wirbelsäulenfunktionsstörung und Verschleiß mit einem Einzel-GdB von 20 belegt und einen
Kniegelenksverschleiß mit einem Einzel-GdB von 10. Insgesamt sei der GdB weiterhin auf 50 einzuschätzen. Die Voraussetzungen
für die Merkzeichen G und B lägen nicht vor, weil die Klägerin noch eine Wegstrecke von etwa 2.000 m innerhalb von etwa 30
bis 40 Minuten zu Fuß zurücklegen könne. Mit Gerichtsbescheid vom 22. April 2013 hat das Sozialgericht, insbesondere auch
auf das vorangegangene Sachverständigengutachten gestützt, die Klage abgewiesen.
Im anschließenden Berufungsverfahren hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 30. April 2014 die Fachärztin für Neurologie
und Psychiatrie Dr. M ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist sie zu der Einschätzung gelangt, die
Klägerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die mit einem Einzel-GdB von 70 zu bewerten sei, außerdem an
Bluthochdruck, Übergewicht, Polyarthrose, einem Wurzelkompressionssyndrom L5 und an einer Sensibilitätsstörung im Nervus Ulnaris,
die jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 oder darunter einzuschätzen seien. Der GdB insgesamt betrage einen Wert von 90. Es
lägen zwar Funktionsstörungen der Beine vor, diese bedingten aber nicht einen GdB von 50. Es lägen keine hirnorganischen Anfälle
vor. Es komme allerdings zu anfallsweise auftretenden Orientierungsstörungen bei dissoziativen, d. h. psychogenen Bewusstseinsveränderungen.
Die genaue Häufigkeit sei nicht bekannt. Diese Anfälle träten nur außerhalb des Hauses auf. Die Klägerin sei bei der Benutzung
von öffentlichen Verkehrsmitteln auf fremde Hilfe angewiesen. Insgesamt bestehe der Zustand unverändert seit Antragstellung.
Die Klägerin beantragt ihrem Vorbringen zufolge,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides
vom 25. November 2010 in der Fassung des Bescheides vom 7. Februar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März
2012 zu verpflichten, mit Wirkung vom 22. April 2010 zugunsten der Klägerin einen GdB von mindestens 70 und die gesundheitlichen
Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Einschätzung der Sachverständigen Dr. M sei nicht zu folgen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), sie ist auch überwiegend begründet. Die angefochtenen Entscheidungen waren zu ändern, denn der Klägerin steht mit Wirkung
vom 22. April 2010 ein Anspruch zu auf Feststellung eines GdB von 70 und der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen
G und B.
Rechtsgrundlage für die Feststellungsansprüche ist §
69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX). Bei der Bemessung des GdB ist die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersmedV) zu berücksichtigen. Maßgeblich ist hierbei zunächst Teil B 3.7 der VersmedV, hier werden die GdB-Bewertungen von
Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen geregelt. Danach besteht bei schweren Störungen mit mittelgradigen
sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die im Falle der Klägerin unstreitig bestehen, ein Bewertungsrahmen von 50 bis 70. Während
der Beklagte eine Einschätzung am unteren Rande dieses Bewertungsrahmens vorgenommen und einen Einzel-GdB von 50 insoweit
in Ansatz gebracht hat, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass statt dessen ein Wert am oberen Rande des Bewertungsrahmens,
mithin ein Einzel-GdB von 70, angemessen ist. Der Senat folgt dabei insbesondere der Einschätzung der Sachverständigen M die
herausgearbeitet hat, dass die Klägerin aufgrund der Tatsache, dass sie in einem sowjetischen Deportationslager aufgewachsen
ist, an einer posttraumatischen Belastungsstörung unter anderem mit vegetativen Symptomen und dissoziativen Symptomen in Form
von Bewegungsstörungen, Orientierungsstörungen, Sprachverständnis-Störungen leidet. Hierbei ist ein Einzel-GdB von 70 angemessen.
Allerdings ist damit auch der Gesamtwert des GdB erreicht gemäß Teil A 3 VersmedV. Nach Ziff. c ist bei der Beurteilung des
Gesamt-GdB von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle
weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also
wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB zehn oder zwanzig oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der
Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Gemäß Ziff. d ee führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB
von 10 bedingen, grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch dann nicht, wenn mehrere
derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Zwar bestehen bei der Klägerin drei weitere Gesundheitsstörungen,
die jeweils mit einem GdB von 10 zu bewerten sind, nämlich Übergewicht, Polyarthrose und ein Wurzelkompressionssyndrom L5,
darüber hinaus ein Bluthochdruck und eine Sensibilitätsstörung im Nervus ulnaris, die jeweils mit einem GdB von weniger als
10 zu bewerten sind, doch können diese nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen. Auch wenn die Sachverständige zu Recht
darauf hingewiesen hat, dass Schmerzen und Übergewicht sich ungünstig auf die psychiatrischen Einschränkungen auswirken, kann
hierbei indessen nicht angenommen werden, dass darin eine Verstärkung im Sinne der VersmedV begründet liegt.
Des Weiteren sind auch die Voraussetzungen des Merkzeichens G erfüllt. Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen
die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
1 und 4
SGB IX). Nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder Andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Das Gesetz fordert in §
145 Abs.
1 Satz 1, §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen
sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die Anhaltspunkte und die Versorgungsmedizinverordnung beschreiben
dazu Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen
für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab
dienen können (Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, Juris Rn. 12).Dabei gibt die VersmedV an,
welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge
einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit
tragen die Kriterien der VersmedV dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern
von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also
Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens
sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die Kriterien der VersmedV
all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten
Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise
aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, aaO. m.w.N.). Die so verstandenen gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt die Klägerin. Sie kann
außerhalb des Hauses keine Wegstrecke unter normalen Bedingungen, das heißt also in diesem Fall ohne Begleitung, zurücklegen,
denn es besteht aus behinderungsbedingten Gründen sofort die Gefahr, dass die Klägerin orientierungslos wird und sich verläuft.
Dies beruht darauf, dass bei der Klägerin anfallsweise auftretende Orientierungsstörungen bei dissoziativen, das heißt psychogenen
Bewusstseinsveränderungen bestehen. Zwar beruhen diese nicht auf hirnorganischen Anfällen, sie sind jedoch in gleicher Weise
wie hirnorganische Anfälle auf psychische Erkrankungen mit Behinderungscharakter zurückzuführen und erfüllen damit die vorgenannten
Kriterien nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für das Vorliegen des Merkzeichens G.Aus demselben Grunde ist auch
das Merkzeichen B zuzuerkennen, weil die Klägerin - wie bereits ausgeführt - aufgrund ihrer Behinderung, insbesondere der
anfallsweise auftretenden Orientierungsstörungen bei dissoziativem, das heißt psychogenen Bewusstseinsveränderungen, der ständigen
Begleitung bedarf.
Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen. Soweit die Klägerin einen höheren GdB als den Wert von 70 begehrt, konnte sie
mit ihrer Berufung keinen Erfolg haben, weil - wie bereits ausgeführt - ihr Gesamt-GdB den Wert von 70 nicht übersteigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nicht vorliegen gemäß §
160 Abs.
2 SGG.