Grenzen der Amtsermittlungspflicht des Sozialgerichts - Präklusion des Verfahrensbeteiligten bei ordnungsgemäßer Belehrung
und Fristsetzung
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente, die Feststellung weiterer Unfallfolgen aufgrund der Folgen eines anerkannten
Arbeitsunfalles sowie hilfsweise die Gewährung einer Stützrente.
Der 1984 geborene Kläger ist kanadischer Staatsangehöriger und war als Profi-Eishockeyspieler bei den „E.“ unter Vertrag.
Im Rahmen dieser Tätigkeit erlitt er am 17. Januar 2016 einen Unfall, als er von einem Gegenspieler gecheckt wurde. Der Durchgangsarzt
G.V. diagnostizierte eine Innenwandläsion am linken Knie. Im weiteren Verlauf stellten die behandelnden Ärzte eine Ruptur
des vorderen Kreuzbandes sowie eine Partialruptur des lateralen Kollateralbandes am linken Kniegelenk fest. Die Kosten der
erforderlichen Operation sowie der nachgelagerten Heilbehandlung übernahm die Beklagte. Ferner zahlte die Beklagte für die
Zeit der Arbeitsunfähigkeit des Klägers Verletztengeld. Ab dem 10. September 2016 nahm der Kläger seine Tätigkeit als Eishockeyspieler
wieder auf.
Mit Zwischenbericht vom 1. November 2016 stellte der Mannschaftsarzt Dr. Z. fest, dass der Kläger sich vollständig im Spielbetrieb
befinde und arbeitsfähig sei. Am linken Kniegelenk bestand eine Beugefähigkeit bis 130° bei stabilen Bändern und noch deutlicher
Muskelatrophie im Oberschenkelbereich. Im weiteren Verlauf stellte Dr. Z. mit Untersuchungsbefund vom 11. April 2017 einen
Bewegungsumfang des linken Kniegelenkes mit 0-1-125° sowie eine Muskelatrophie im Seitenvergleich 20 cm oberhalb des Kniegelenkes
mit. Bei einer weiteren Untersuchung am 20. April 2017 gab Dr. Z. die Messwerte der Kniegelenke in der Streckung und Beugung
rechts mit 0-1-130° und links mit 0-1-125° an. Die Umfangsmaße der Oberschenkels 20 cm oberhalb des inneren Kniegelenkspaltes
ergaben rechts 57 cm und links 55 cm, 10 cm oberhalb des inneren Kniegelenkspaltes rechts 48 cm und links 47 cm.
Mit Schreiben vom 22. August 2018 reichte der Kläger ein Messblatt seines kanadischen Arztes ein. Danach bestanden folgende
Messdaten der Kniegelenke für die Streckung und Beugung: rechts 5-5-140° und links 5-0-130° sowie eine Muskeldifferenz von
linkem zu rechtem Oberschenkel 20 cm oberhalb des Kniegelenkspaltes von 1 cm (rechts: 60 cm, links: 59 cm) und 10 cm oberhalb
des Kniegelenkspaltes 2 cm (rechts: 53 cm, links 51 cm).
Mit Bescheid vom 21. September 2018 lehnte die Beklagte eine Begutachtung des Klägers ab. Das eingesandte Messblatt aus K.
lasse keinerlei Anhaltspunkte zu, dass wegen der endgradigen Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenkes eine rentenberechtigende
Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliege. Auf den Widerspruch des Klägers hin erkannte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 14. März 2019 als Folgen des Unfalls vom 17. Januar 2016 eine endgradige Bewegungseinschränkung und Belastungsbeschwerden
im linken Kniegelenk, Muskelminderung am linken Oberschenkel nach operativ versorgter Ruptur des vorderen Kreuzbandes und
Partialruptur des lateralen Kollateralbandes an. Im Übrigen sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht um wenigstens 20 %
gemindert. Die Untersuchungen des Bewegungsumfangs zeigten beginnend ab Oktober 2016 über die Untersuchung im April 2018 und
der Untersuchung in K. im Zeitraum vom Mai bis August 2018, bei welcher ein Bewegungsumfang von 5-0-130° festgestellt worden
sei, keine wesentliche Bewegungseinschränkung des linken Knies. Eine Bewegungseinschränkung des Kniegelenkes mit Bewegungsausmaße
von 0-0-120° werde mit einer MdE von 10 % bewertet, das bei dem Kläger gemessene Bewegungsausmaß liege über diesem Wert.
Auf die Klage hin hat das Gericht den Kläger bereits unmittelbar nach Klageerhebung mit Verfügung vom 23. April 2019 und erneut
nach Eingang der Klagebegründung mit Schreiben vom 7. August 2020 aufgefordert, eine ärztliche Schweigepflichtsentbindungserklärung
sowie eine schriftliche Auskunft über die ärztlichen Behandlungen vorzulegen. Erinnerungen blieben ohne Resonanz. Mit gerichtlichem
Schreiben vom 19. Januar 2021, der Prozessbevollmächtigten des Klägers am selben Tage zugestellt, hat das Gericht mitgeteilt,
dass gemäß §
106a Abs.
3 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer vom Richter gesetzten Frist vorgebracht würden, zurückgewiesen
werden könnten und ohne weitere Ermittlungen entschieden werde, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts
die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldige. Vor diesem
Hintergrund hat das Gericht eine Frist bis zum 12. Februar 2021 zur Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten vom 28. August
2020 gewährt. Zugleich hat das Gericht mitgeteilt, dass bei Nichteinhaltung der Frist beabsichtigt sei, ohne mündliche Verhandlung
und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter durch Gerichtsbescheid (§
105 SGG) zu entscheiden.
Nach Ablauf der Frist hat das Sozialgericht sodann mit Gerichtsbescheid vom 9. März 2021 die Klage abgewiesen. Konkrete Anhaltspunkte
für eine unrichtige Entscheidung der Beklagten seien von dem Kläger nicht begründet vorgetragen worden. Die von der Klägerseite
aufgeführte Argumentation habe sich überwiegend in Behauptungen, allgemeinen Rechtsausführungen und Rechtsmeinungen erschöpft,
die weder eine Grundlage in den von den Ärzten mitgeteilten tatsächlichen medizinischen Befunden hätten, noch konkret auf
den vorliegenden Rechtsstreit anwendbar seien.
Bezüglich der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gemäß §
56 Abs.
1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) habe die Beklagte zu Recht ausgeführt, dass aufgrund der medizinischen Befunde (u.a. Beweglichkeit des linken Kniegelenks
(5)0-0-130°, geringfügige Atrophie des linken Oberschenkels) weder eine MdE in Höhe von 20 v.H. noch (immanent) eine (Stütz-)MdE
in Höhe von 10 v.H. in Frage komme und zutreffend auf die herrschende Literaturmeinung zu den MdE-Erfahrungswerten verwiesen.
Hinsichtlich der Stütz-MdE sei noch nicht einmal geklärt, ob in den beiden anderen von dem Kläger aufgeführten Arbeitsunfällen
eine solche überhaupt in Betracht gezogen werden könne. Auch die Feststellung weiterer Unfallfolgen, insbesondere einer muskulär
nicht kompensierten Instabilität des linken Kniegelenks (bei einem maximalen Muskelmassenunterschied von 1-2 cm am linken
Oberschenkel), lasse sich im Rahmen der vorliegenden ärztlichen Befunde nicht ernsthaft begründen. Es werde daher auf die
zutreffenden und schlüssigen Ausführungen der Beklagten in ihren angefochtenen Bescheiden verwiesen, denen sich die Kammer
anschließe.
Darüber hinaus habe das Gericht eigene Ermittlungen zum medizinischen Sachverhalt nicht durchführen können, denn trotz der
wiederholten Aufforderungen habe der Kläger die erforderlichen Unterlagen, insbesondere eine ärztliche Schweigepflichtentbindungserklärung,
nicht eingereicht. Im Übrigen seien nunmehr weitere Tatsachenvorträge bzw. Beweisanträge oder gerichtliche Ermittlungen oder
Beweiserhebungen nach §
106a SGG ausgeschlossen (präkludiert). Die Klägerseite habe die ihr mit gerichtlichem Schreiben vom 19. Januar 2021 aufgegebene Auflage,
die Klage durch Abgabe einer Stellungnahme zu einem qualifizierten Vortrag der Beklagten näher zu begründen, d.h. Tatsachen
anzugeben und ggf. zugehörige Beweismittel konkret zu bezeichnen (§
106 a Abs.
2 SGG), nicht erfüllt. Nach §
106a Abs.
1 SGG sei weiteres Vorbringen als verspätet zurückzuweisen, weil es nicht innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt worden sei, die
verspätete Vorlage nicht ausreichend entschuldigt worden sei und die anwaltlich vertretene Klägerseite ausdrücklich auf die
Folgen der Fristversäumung hingewiesen worden sei; ferner sei mit einer nachträglichen Befassung eine Verzögerung im Rechtsstreit
einhergehend (§
106a Abs.
3 SGG).
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen den ihr am 16. März 2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 16. April 2021
Berufung eingelegt, mit welcher sie vorträgt, Beklagte und Sozialgericht hätten unter Missachtung des Amtsermittlungsgrundsatzes
ihre Entscheidungen getroffen. Im Berufungsverfahren wurde nunmehr im November 2021 eine Schweigepflichtentbindung – jedoch
keine Arztauskunft – seitens des Klägers vorgelegt und die Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen beantragt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 9. März 2021 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 21. September
2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2019 abzuändern und als weitere Unfallfolge des Ereignisses vom
17. Januar 2016 eine muskulär nicht kompensierte Instabilität des linken Kniegelenks festzustellen sowie die Beklagt zu verurteilen,
dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Meinung, sie habe der Amtsermittlungspflicht Genüge getan, indem sämtliche medizinischen Parameter ermittelt
und bewertet worden seien. Es ergäbe sich indes aus diesen kein Hinweis auf eine MdE in messbarem Grade.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der
ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 30. März 2022 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben. Sie ist indes unbegründet.
Gegenstand des Verfahrens ist, wie das SG zutreffend ausgeführt hat, die Frage der Gewährung einer Verletztenrente sowie die Feststellung weiterer Unfallfolgen. Zutreffend
hat das Sozialgericht auf der Grundlage der vorliegenden Unterlagen ausgeführt, dass medizinisch dokumentiert und nachgewiesen
sei, dass bei einer Beweglichkeit des linken Kniegelenkes von (5) 0-0-130° und geringfügiger Atrophie des linken Oberschenkels
weder eine MdE von 20 v.H. noch eine Stütz-MdE von 10 v.H. in Betracht kommt.
Ebenfalls zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass es eigene Ermittlungen nicht habe durchführen können, weil die
hierfür notwendigen Unterlagen, insbesondere die Schweigepflichtentbindungserklärung, nicht vorgelegt worden sind. Dies ist
auch vor dem Hintergrund der im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Amtsermittlung nicht zu beanstanden. Zwar haben die
Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach §
103 SGG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, ohne an das Vorbringen und die Beweisanträge gebunden zu sein. Jedoch sind
dabei „die Beteiligten heranzuziehen“. Der Aufklärungspflicht des Vorsitzenden nach §
106 SGG steht dabei die Pflicht der Beteiligten gegenüber, auf die Aufforderungen des Gerichts hin die entsprechenden Angaben zu
machen. Der Amtsermittlungsgrundsatz des §
103 SGG entbindet die Beteiligten nicht davon, nach ihren Kräften bei der Sachaufklärung mitzuwirken. Machen die Beteiligten trotz
der Aufforderung des Gerichts die zur Aufnahme der gerichtlichen Ermittlungen erforderlichen Angaben nicht, so besteht auch
keine weitere Verpflichtung des Gerichts aufgrund von §
103 SGG (BSG, Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R –, Juris m.w.N.; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig,
SGG, §
103, Rdnr. 17 ff.). Die Amtsermittlungspflicht hat ihre Grenzen dort, wo der Beteiligte seiner Pflicht zur Angabe der Tatsachen,
die den geltend gemachten Anspruch begründen sollen, nicht nachkommt, obwohl er vom Gericht hierzu aufgefordert wird. So war
es auch hier.
Unzutreffend ist allerdings, dass der Kläger insoweit nunmehr präkludiert sei. Das entsprechende Hinweisschreiben des Sozialgerichts
nach §
106a SGG enthielt insoweit lediglich die Aufforderung, sich zur Klageerwiderung durch die Beklagte zu äußern, nicht jedoch die erneute
Aufforderung, Schweigepflichtentbindung und Arztauskunft zu übersenden. Hinsichtlich der Übersendung der genannten Unterlagen
zur Aufnahme weiterer Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen konnte danach Präklusion nicht eintreten, weil sich hierauf
die Belehrung und die Fristsetzung nach §
106a SGG nicht bezog.
Jedoch hat sich der Senat auch vor dem Hintergrund der nunmehr im Berufungsverfahren erstmals übersendeten Schweigepflichtentbindungserklärung
nicht veranlasst gesehen, ein Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen. Es entbehrt nämlich im gesamten Verfahren
jedweden Hinweises darauf, dass bei dem Kläger eine MdE von 10.v.H. vorliegen könnte, nachdem nicht einmal der den Kläger
behandelnde Mannschaftsarzt sowie die den Kläger in K. behandelnden Ärzte Einschränkungen der Beweglichkeit des linken Kniegelenks
oder eine Muskelminderung in einem Ausmaß beobachten und dokumentieren konnten, welches eine entsprechende MdE rechtfertigen
würde. Entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten des Klägers gibt es in einem solchen Fall keinen Anspruch auf die
Erstellung eines Gutachtens mit körperlicher Untersuchung des Klägers von Seiten der Beklagten oder des Gerichts. Wenn nämlich
nicht einmal aus den Feststellungen der behandelnden Ärzte Anhaltspunkte für eine entsprechende MdE zu entnehmen sind, ist
nicht ersichtlich, welche Erkenntnisse eine entsprechende Begutachtung erbringen könnte. Es würde sich insoweit um Ermittlungen
„ins Blaue hinein“ handeln, die nicht veranlasst sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.