Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der Zeit vom 19. September 1941 bis 30. September 1942 als Pflichtbeitragszeit
in einem Ghetto.
Die 1924 in den USA geborene Klägerin ist die Witwe des am 12. September 1925 in Wien geborenen und am 18. Januar 2009 gestorbenen
W K (Versicherter). Der Versicherte war jüdischen Glaubens und lebte in Wien. Am 1. Oktober 1942 wurde er nach T deportiert.
Dort lebte er bis zum 29. März 1944. Vom 30. März 1944 bis 12. Februar 1945 kam er in die Außenstelle H. Vom 13. Februar bis
1. Mai 1945 hielt er sich wieder in T auf. Dort arbeitete er als Elektriker. Für die seinen eigenen Angaben zufolge 12 Stunden
tägliche Arbeit bekam er als Lohn Essen bzw. Ghetto-Gutscheine. Im Juni 1949 siedelte der Versicherte in die USA über. Er
war amerikanischer Staatsbürger. Der Versicherte hatte keinen Antrag nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) gestellt, er
hatte von der Claims Conference eine Entschädigungsleistung erhalten, ferner eine Anerkennungsleistung nach den Richtlinien
der Bundesregierung vom 1. Oktober 2007.
Einen Rentenantrag des Versicherten vom 5. Mai 2003 unter Anerkennung des Zeitraums 1942 bis 1945 wegen des Aufenthalts in
T lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Januar 2004 und Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 2007 ab, da die entgeltliche Beschäftigung
nicht nachgewiesen und T kein Ghetto gewesen sei. Der Versicherte habe ferner aus der österreichischen Pensionsversicherung
für den dortigen Aufenthalt eine Leistung erhalten.
Am 18. Juni 2010 beantragte die Klägerin die Überprüfung der Entscheidung vom 5. Januar 2004. Mit Bescheid vom 11. März 2011
gewährte die Beklagte der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des Versicherten eine Regelaltersrente für die Zeit vom 1. Januar
2005 bis 31. Januar 2009 in Form einer einmaligen Zahlung in Höhe von 18.239,62 EUR. Als Versicherungszeiten erkannte sie
u.a. den Zeitraum vom 1. September 1941 bis 30. September 1942 als Verfolgungsersatzzeit an und die Zeit vom 1. Oktober 1942
bis 7. Mai 1945 als Pflichtbeitragszeit wegen der Beschäftigung in einem Ghetto, davon den Zeitraum vom 30. März 1944 bis
13. Februar 1945 nach dem Fremdrentengesetz (FRG) als Verfolgungszeit. Die Zeit vom 8. Mai 1945 bis 31. Dezember 1949 erkannte sie nach dem FRG als Pflichtbeitragszeit an. Mit weiterem Bescheid vom 16. Dezember 2014, den sie zum Gegenstand des Gerichtsverfahrens machte,
gewährte die Beklagte der Klägerin eine Nachzahlung für den Zeitraum vom 1. Juli 1997 bis zum 31 Dezember 2009 in Höhe von
24.709,96 EUR.
Mit Bescheid vom 20. März 2011 (Neufeststellung am 29. Januar 2015) gewährte die Beklagte der Klägerin ab 1. Februar 2009
eine große Witwenrente in Höhe von (damals) 160,50 EUR monatlich und eine Nachzahlung in Höhe von 2.788,91 EUR.
Dem Bescheid vom 11. März 2011 widersprach die Klägerin am 24. März 2011. Sie führte aus, die Ghetto-Zeit in Wien von September
1941 bis September 1942 sei als Beitragszeit unberücksichtigt geblieben. Die Juden in Wien hätten in dieser Zeit in Judenhäusern
gelebt. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hätten sie ihre Wohnungen verlassen und in einzelne - überfüllte
- Häuser oder Sammelwohnungen umsiedeln müssen, die mit dem Judenstern gekennzeichnet gewesen seien. Vornehmlich Verordnungen
vom April 1942 hätten die Freizügigkeit der Juden erheblich beeinträchtigt. Diese hätten nicht mehr öffentliche Verkehrsmittel
nutzen, bestimmte Stadtbezirke betreten oder in Wirtschaften einkehren dürfen. Abgesehen von den nächtlichen Ausgangssperren
hätten die Juden sich in der Stadt jedoch frei bewegen können. Dies belegte die Klägerin durch Literaturzitate. Das OVG Hamburg
(Urteil vom 19. Mai 1952 - OVG Bf. I 341/51) habe bei einer Einweisung in die Judenhäuser einen Entschädigungsanspruch nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt.
Der Versicherte habe in der Zeit in Wien über den Judenrat vermittelte Arbeiten verrichtet. Hierbei stützte sich die Klägerin
auf Zeugenaussagen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, ein Ghetto
in Wien sei in der Ghettoliste nicht aufgeführt und auch durch Recherchen in wissenschaftlichen Quellen nicht bestätigt.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 5. August 2013 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben, mit der sie die
Zeit vom 19. September 1941, ab dem die Juden den gelben Stern tragen mussten, als Beitragszeit für eine Beschäftigung in
einem Ghetto geltend gemacht hat. Zur Begründung hat sie ausgeführt, Österreich habe zu der Zeit zum Einflussbereich des Deutschen
Reiches gehört. In Wien habe zwar kein Ghetto wie in Polen oder in den eingegliederten deutschen Ostgebieten existiert. Es
habe keine abgegrenzten Stadtbezirke für die jüdische Bevölkerung gegeben. Jedoch habe die Situation der der Juden in Budapest
in den sogenannten Sternhäusern von Juni bis November 1944 geglichen. 1938 hätten im Reichsgebiet außerhalb der eingegliederten
polnischen Gebiete 297.407 Juden (0,38% der Gesamtbevölkerung) gelebt. Diese seien ins gesellschaftliche Abseits gedrängt
und sie seien sozial isoliert worden. Jegliche Kontakte zur nichtjüdischen Bevölkerung seien unterbunden worden. Vor allem
durch die PolizeiVO über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit vom 28. November 1938 (RGBl. I, 1676) und das Gesetz
über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939 (RGBl. I, 864) sei die Möglichkeit eröffnet worden, die Juden aus ihren
Wohnungen zu vertreiben und in einzelnen - überbelegten - Häusern und Wohnungen zusammenzufassen. Diese seien immer enger
zusammengedrängt und ihre Wohnungen seien von der nichtjüdischen Bevölkerung separiert worden. Dies hat die Klägerin durch
zahlreiche Literaturauszüge (Marlis Buchholz, Theo Tschuy, Bernd Marin, Gerhard Botz, Jörg Osterloh, Hubert Schneider, Esriel
Hildesheimer), Vorschriften und zeitgenössische Wortzitate belegt. Die Konzentration der Bevölkerung in einzelnen Häusern
habe zum Ziel gehabt, die Juden besser zu überwachen und leichteren Zugriff auf sie zu haben. Sie sei einher gegangen mit
immer weiter gehenden Einschränkungen der allgemeinen Freizügigkeit durch Gesetze und Vorschriften auf Reichs- und lokaler
Ebene, die dazu geführt hätten, dass das gesamte Leben der Juden faktisch ohne oder nur in einem minimal begrenzten Bewegungsraum
vonstatten gegangen sei. Dieser äußerst begrenzte Bewegungsraum habe einem räumlich abgegrenzten Bezirk im Sinne des herkömmlichen
Ghetto-Begriffs geglichen. Der Begriff "Ghettoisierung" bedeute nicht nur das Zusammendrängen der Juden in einem bestimmten
Stadtteil, sondern die Unterbindung sozialer Kontakte und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, verbunden mit der Isolation
durch den gelben Stern. Eine Weigerung, in die neuen zugewiesenen Wohnungen umzusiedeln, hätte für die Juden rigorose Maßnahmen
nach sich gezogen. Die Umsiedlung sei auf behördliche Anordnung hin erfolgt. Dementsprechend hätten die Stadt Hamburg und
der Regierungspräsident Düsseldorf den Aufenthalt in den Judenhäusern als Tatbestand für eine Haftentschädigung anerkannt.
Nach der 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 4. Juli 1939 (RGBl. I, 1097) sei für alle Personen, die nach den Nürnberger
Gesetzen als Juden gegolten hätten, die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zuständig gewesen, der alle Juden hätten
beitreten müssen und an die sie hätten Pflichtbeiträge zahlen müssen. Deren örtliche Gemeindeabteilungen seien wie Judenräte
mit der Betreuung der vor Ort wohnenden Mitglieder beauftragt worden.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 11. März 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2013 und des Bescheides
vom 16. Dezember 2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Beschäftigung des verstorbenen Versicherten W K in Wien
vom 19. September 1941 bis 30. September 1942 als Ghetto-Beitragszeit nach § 2 Abs. 1 ZRBG zu berücksichtigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide bezogen. Ergänzend hat sie ausgeführt, die von der Rechtsprechung
herausgearbeiteten Kriterien für die Annahme eines Ghettos seien nicht erfüllt. Insbesondere fehle es an den internierungsähnlichen
Umständen, die die Wohn- und Lebensverhältnisse der Juden geprägt hätten. Eine Zwangsumsiedlung in einzelne Stadtbezirke,
die tatsächlich erfolgt sei, erfülle noch nicht die Voraussetzungen für ein Ghetto. Die Umsiedlung der jüdischen Bevölkerung
habe zunächst dem Ziel gedient, angesichts der in Wien herrschenden großen Wohnungsnot freien Wohnraum für die "arische" Bevölkerung
zu bekommen. Eine Beschäftigung des Versicherten sei nicht glaubhaft gemacht. Der Zeuge A Y habe zwar am 30. März 2005 ausgesagt,
er habe vor seiner Deportation nach T im Oktober 1942 mit dem Versicherten in Wien gearbeitet, es fehlten jedoch jegliche
Angaben zum Zeitraum sowie zur Art und den Umständen der Beschäftigung. Schließlich sei Österreich durch den Anschluss vom
18. März 1938 Teil des Deutschen Reiches geworden. Eine Besetzung oder Eingliederung im Sinne des ZRBG habe daher nicht stattgefunden.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben und ein Gutachten des Historikers Dr. J Z vom 13. August 2016 eingeholt. Wegen dessen
Inhalt wird auf die Gerichtsakte, Blatt 150 - 178, verwiesen. Dem Gericht hat ferner eine von der Klägerin eingereichte Aussage
des Sachverständigen vom 2. Oktober 2008 vorgelegen, die dieser in dem Rechtsstreit L 8 R 67/07 des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen gemacht hatte (Blatt 210 - 217 der Gerichtsakte).
Mit Urteil vom 11. Mai 2017 hat das Sozialgericht die Bescheide der Beklagten abgeändert und die Beklagte verurteilt, die
Beschäftigung des Versicherten in Wien vom 1. April 1942 bis 30. September 1942 als Ghetto-Beitragszeit zu berücksichtigen;
im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass der
Versicherte in Österreich die weiteren Voraussetzungen für die Anerkennung einer Leistung nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) erfüllt habe. Das ZRBG sei seit dem 12. März 1938 auf Österreich anwendbar,
denn mit dem Einmarsch der deutschen Truppen habe es dem Einflussbereich des Deutschen Reiches angehört. Da die Beklagte bereits
die Ghetto-Beitragszeiten in T anerkannt habe, sei zwischen den Beteiligten unstreitig davon auszugehen, dass eine Anerkennung
der Ghettozeit nicht durch eine anderweitige - österreichische - Entschädigung gehindert werde. Für die Zeit von April bis
September 1942 sei anders als in der vorangegangenen Zeit vom 19. September 1941 bis 31. März 1942 der zwangsweise Aufenthalt
in einem Ghetto glaubhaft gemacht. Ein Zwangsaufenthalt in einem Ghetto sei dann anzunehmen, wenn der Aufenthalt rechtlich
oder tatsächlich auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkt und die Aufenthaltsbeschränkungen durch die Androhung schwerster
Strafen oder durch Gewaltmaßnahmen erzwungen worden seien. Erforderlich sei, dass die Maßnahmen zur Absonderung und Einschränkung
der Freizügigkeit der Juden eine Intensität erreicht hätten, die deren Aufenthalt in vergleichbarer Weise beschränkten wie
Mauern oder Zäune. Der Aufenthalt in dem Wohnbezirk müsse nicht auf einer behördlichen Zuweisung beruhen, der Bezirk müsse
auch nicht ausschließlich oder überwiegend von Juden bewohnt worden sein. In der Zeit von April bis September 1942 seien die
Bewegungsfreiheit und die Kommunikationsmöglichkeiten der Juden in so massiver Weise eingeschränkt gewesen, dass es sachgerecht
sei, von einem "unsichtbaren Ghetto" zu sprechen. Der Sachverständige Z habe die wesentlichen Freiheitsbeschränkungen der
Juden aufgezählt. Diese hätten in dem Zeitraum die Stadt nur mit polizeilicher Genehmigung verlassen dürfen, die Auswanderung
sei verboten gewesen. Auch Umzüge innerhalb der Stadt seien seit Juni 1941 ohne vorherige Genehmigung verboten gewesen. Bereits
seit 1938 seien die Führerscheine und Kfz-Zulassungspapiere eingezogen und die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs durch
die Juden stark eingeschränkt gewesen. Bereits 1938/1939 hätten die Wiener Juden zahlreichen Betretungs- und Nutzungsverboten
unterlegen. Sie seien vollständig aus dem kulturellen Leben ausgeschlossen worden. Das Einkaufen von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen
sei zeitlich beschränkt gewesen. Die Juden hätten seit September 1941 in der Öffentlichkeit den Judenstern tragen müssen,
der Besuch von Wohnungen von "Ariern" und von in "Mischehen" lebenden Juden sei ihnen verboten gewesen. Eine fernmündliche
Kommunikation sei ihnen ab Februar 1942 untersagt gewesen, ihre Telefonanschlüsse seien bereits im Herbst 1940 gekündigt worden.
Die Juden hätten zahlreichen Restriktionen unterlegen, wie zum Beispiel auf einer Parkbank zu sitzen. Diese gesamten Restriktionen
seien so erheblich, dass sie dem Leben in einem abgegrenzten Wohnbezirk gleichkämen. Die Freiheitsbeschränkungen hätten sich
allmählich zugespitzt. Entscheidende Zäsur sei dabei die Kennzeichnung der Wohnhäuser mit einem Judenstern ab 1. April 1942.
Diese Situation sei mit der der Sternhäuser in Budapest vergleichbar. Die Aufenthaltsbeschränkungen seien durch die Androhung
schwerster Strafen erzwungen worden. Ein Ghetto in diesem Sinne sei jedoch noch nicht mit der Verpflichtung der Juden, den
gelben Stern zu tragen, ab dem 19. September 1941 anzunehmen gewesen. Denn zu diesem Zeitpunkt hätten die Restriktionen noch
nicht eine Intensität angenommen, die einem abgegrenzten Ghetto gleichkomme. Internierungsähnliche Umstände hätten erst dann
angenommen werden können, als auch die Wohnungen und Häuser durch den Stern hätten gekennzeichnet werden müssen. Es sei auch
glaubhaft, dass der Versicherte von April bis September 1942 in Wien einer Beschäftigung nachgegangen sei. Zwar habe er selbst
hierzu keine Angaben gemacht. Jedoch habe der Zeuge A Y am 30. März 2005 ausgesagt, dass er zusammen mit dem Versicherten
in Wien gearbeitet habe, bevor dieser im Oktober 1942 nach T verbracht worden sei. Die Arbeit habe ihnen das jüdische Komitee
vermittelt. Die Klägerin selbst habe dargelegt, dass der Versicherte auf dem jüdischen Friedhof gearbeitet habe. Diese Tatsache
sei glaubhaft, da der Versicherte bereits 16 Jahre gewesen sei und wegen der Verfolgung nicht mehr zur Schule habe gehen können.
Die Aussagen deckten sich mit den historischen Tatsachen. Der Sachverständige habe die Darstellung angesichts der vielen Opfer
in der jüdischen Bevölkerung und der Kündigung der nichtjüdischen Mitarbeiter auf den Friedhöfen als nachvollziehbar erachtet.
Auch eine Entlohnung sei glaubhaft, ohne dass hierfür entsprechende Aussagen vorlägen. Der Sachverständige habe die Entlohnung
auf Basis der üblichen Tarifregelungen bestätigt, für die Juden allerdings mit massiven Einschränkungen. Es sei davon auszugehen,
dass der Versicherte zumindest Nahrungsmittel auch für seine Familie erhalten habe.
Gegen die ihr am 15. Juni 2017 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten, die am 21. Juni 2017 beim
Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht eingegangen ist. Zur Begründung trägt sie vor, der Gedanke eines "unsichtbaren
Ghettos" widerspreche der Konzeption des ZRBG. Aus der zielgerichteten Leistung für eine begrenzte Gruppe von Personen mit
einem besonderen Verfolgungsschicksal werde faktisch eine allgemeine Leistung für die jüdische Bevölkerung in weiten Teilen
des damaligen nationalsozialistischen Einflussbereichs. Dies lasse außer Acht, dass der besondere Beschäftigungs- bzw. Entgeltbegriff
des ZRBG sich gerade aus der physischen Beschränkung des Ghettos als Wohnbezirk ergebe und nur in diesem Zusammenhang sinnvoll
sei. Der Sachverständige Dr. Z habe die vielen einzelnen diskriminierenden Maßnahmen dargestellt, denen die Juden in Wien
ausgesetzt gewesen seien, habe aber selbst ein Ghetto in Wien verneint. Er habe geschildert, dass auch im Deutschen Reich
die Juden Einschränkungen unterworfen gewesen seien, die den Zuständen in einem Ghetto geglichen hätten: Unterbindung der
sozialen Kontakte zwischen Juden und deutschen Nichtjuden, Wohnungsbeschränkungen, Reglementierung der Bewegungsfreiheit,
Kennzeichnungsmaßnahmen, Bildung eines jüdischen Verwaltungsapparats. Der Begriff eines unsichtbaren Ghettos sei erstmalig
1937 in einem Lagebericht von der Hamburger Dienststelle des Judenrates im SD verwandt worden. Das Verständnis von einem Ghetto
als einem Ort wandele sich somit in ein Ghetto als einem Zustand um, der die soziale und gesellschaftliche Isolation der jüdischen
Bevölkerung beschreibe. Die Verhältnisse in Wien ähnelten faktisch den Lebensbedingungen der Juden im gesamten Deutschen Reich
und in den besetzten Ländern West- und Osteuropas. Sie bedingten sich durch die Gesetzes- und Verordnungslage im Wirkbereich
der nationalsozialistischen Herrschaft, die die gesellschaftliche, personelle, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Isolation
der Juden zum Ziel gehabt habe. Dies ergebe sich aus einer Vielzahl einzelner Verordnungen, Erlasse und Anordnungen. Diese
schrecklichen Verhältnisse könnten jedoch einem Ghetto nicht gleichgesetzt werden. Die Rechtsprechung halte bislang für die
Annahme eines Ghettos an einer erforderlichen räumlichen Zusammenfassung und daraus sich ergebender Einschränkung der Freizügigkeit
fest. Diese sei auch bei den sogenannten Sternhäusern nicht gegeben. Bereits vor dem ZRBG habe es Bestimmungen über die Anerkennung
freiwilliger Beschäftigungen gegeben, insbesondere die Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts
in der Sozialversicherung (WGSVG). Das ZRBG sei jedoch aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Juni 1997 (5 RJ 66/95; 5 RJ 68/95) entstanden; zuvor sei davon ausgegangen worden, dass in den Ghettos nur Zwangsarbeit geleistet worden sei. Das Gesetz habe
folglich nur Leistungen für Beschäftigungen in einem Ghetto im herkömmlichen Sinne zum Gegenstand. Der Begriff Ghetto sei
ein unbestimmter Rechtsbegriff, der sich an den Kriterien der Absonderung, Konzentrierung und internierungsähnlichen Unterbringung
der jüdischen Bevölkerung orientiere. Er sei durch die Beschränkung der Freizügigkeit im Verhältnis zu anderen Städten und
innerhalb des Stadtgebiets sowie durch die Zuweisung eines Wohngebiets gekennzeichnet; dabei führe eine bloße Zwangsumsiedlung
aus einzelnen Stadtgebieten allein noch nicht zur Konzentration. Für ein Ghetto prägend seien ferner die Zusammenziehung der
jüdischen Bevölkerung aus dem Umland in bestimmten Ortschaften, Städten oder Stadtvierteln, die Einrichtung einer speziellen
jüdischen Verwaltung und eines jüdischen Ordnungsdienstes, die Bildung einer spezifischen jüdischen Arbeitsorganisation, die
Reste einer urbanen Struktur und die überwiegende Unterbringung im Familienverband. Diese Kriterien, die nicht alle, jedoch
in wesentlichen Zügen vorliegen müssten, grenzten den Begriff Ghetto von einer noch nicht raumbezogenen Verfolgungsmaßnahme
ab. Ein Ghetto in dem Sinne habe in Wien nicht bestanden. Der Begriff des "unsichtbaren Ghettos" würde die tatbestandlichen
Voraussetzungen für ein Ghetto entbehrlich machen. Mit der Formulierung "in einem Ghetto" knüpfe das ZRBG an § 43 Abs. 2 BEG
an, der die Freiheitsentziehung durch "Zwangsaufenthalt in einem Ghetto" zum Gegenstand habe. Dieser Tatbestand bestehe im
Gesetz neben einer polizeilichen oder militärischen Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft oder Haft in einem
Straflager und Konzentrationslager und müsse eine entsprechende Intensität der Beschränkung der Freiheit aufweisen. Auch der
besondere Begriff der Beschäftigung und des Entgeltes im Rahmen des ZRBG setze die räumliche Konzentration in einem Wohnbezirk
voraus. Das BSG (Urteil vom 3. Juni 2009 - B 5 R 26/08 R) habe den entscheidenden Gesichtspunkt für die Annahme eines von der Versicherungspflicht gelösten Entgeltbegriffs für
das ZRBG in dem Sinn und Zweck gesehen, Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen
Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung zu ermöglichen. Unter den in einem Ghetto
herrschenden Bedingungen hätten die unter normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen sinnvollen Einschränkungen des rentenversicherungsrechtlichen
Entgeltbegriffs ihren Sinn verloren.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 11. Mai 2017 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt aus, der Sachverständige habe überzeugend festgestellt, dass die Bewegungsfreiheit und die Kommunikationsmöglichkeiten
der Juden in Wien so massiv eingeschränkt gewesen seien, dass es angemessen sei, von einem unsichtbaren Ghetto zu sprechen.
Die Juden hätten in Wien in der fraglichen Zeit unter maximalen sozialen Isolierungen gelebt, hätten die Stadt nicht verlassen
dürfen, zahlreiche Bezirke oder Einrichtungen nicht betreten und nicht nutzen dürfen. Ihre Situation habe der der Juden in
den Sternhäusern in Budapest geglichen. Die Funktion, der Sinn und Zweck des rechtlichen Ghetto-Begriffs erfordere dessen
autonome Auslegung. Die Ghettoisierung bezeichne historisch gesehen eine weitgehende Freiheitsbeschränkung, insbesondere die
Beschränkung der Bewegungs-, der Vertrags- und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Maßgeblich sei, dass selbst diese massiven
Freiheitsbeschränkungen rentenversicherungsrechtlich relevante Beschäftigungsverhältnisse nicht völlig ausschließen würden.
Das ZRBG wolle die weitgehende Beschränkung der Vertragsfreiheit ausgleichen und vor allem die Insassen eines Ghettos vom
Nachweis ihrer verbliebenen Restfreiheit entlasten; ohne diese Entlastung wäre ihre Arbeit als Zwangsarbeit einzustufen. Der
von der Beklagten herangezogene Indizienkatalog für die Annahme eines Ghettos gehe über das Ziel hinaus, denn er greife einzelne
historisch beschriebene Erscheinungsformen eines Ghettos auf, die er verallgemeinere. Der Sinn und Zweck des ZRBG verlangten
typisch schwere Freiheitsbeschränkungen, die ein normales Arbeitsverhältnis verhinderten. Es sei nicht zu erkennen, warum
die Beklagte für Budapest, Wachok und Czernowitz die Existenz von Ghettos angenommen habe, obwohl die von ihr selbst herangezogene
Ghetto-Liste deren Einrichtung erst zu späteren Zeitpunkten ausweise und in denen ebenfalls Sternhäuser eingerichtet gewesen
seien. Die Tatsache, dass die Sternhäuser eine Vorstufe für die Einrichtung eines räumlichen Ghettos gewesen seien, sei nicht
maßgeblich. Wie in Budapest sei die Deportation der Juden in Wien bereits in früherer Zeit geplant gewesen, tatsächlich seien
diese im Oktober 1942 nach T deportiert worden. Daher sei es zu der Bildung eines räumlichen Ghettos dort nicht mehr gekommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Verfahrensakte verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden
erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte gemäß §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) über den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil beide Beteiligte hierzu zuvor ihr Einverständnis
erteilt haben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 11. Mai 2017 ist zulässig, insbesondere ist sie
form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 SGG) eingegangen.
Sie ist auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Lübeck war abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen. Denn
die Bescheide der Beklagten sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung des Zeitraums
vom 1. April bis 30. September 1942 als Beitragszeit wegen einer Beschäftigung in einem Ghetto in der Versicherung ihres Ehemannes
W K. Der Senat verneint für diese Zeit dessen Aufenthalt in einem Ghetto.
§ 2 Abs. 1 ZRBG in der Fassung des Ersten Änderungsgesetzes vom 15. Juli 2014 (BGBl I S. 952) bestimmt, dass für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge als gezahlt gelten. Pflichtbeiträge,
die nach besonderen Bestimmungen als gezahlt gelten, begründen gemäß §
55 Abs.
1 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) Pflichtbeitragszeiten. Diese werden gemäß §
51 Abs.
1 SGB VI auf die allgemeine Wartezeit angerechnet, deren Erfüllung gemäß §
46 Abs.
1 Satz 1
SGB VI Voraussetzung für den Anspruch auf eine Witwenrente ist, und bestimmen gemäß §
66 Abs.
1 Nr.
1 SGB VI die Rentenhöhe. Gemäß §
1 Abs.
1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten
haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto
in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag. Die Tatsachen, die den Anspruch auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten
nach dem ZRBG begründen, müssen gemäß § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) zumindest glaubhaft gemacht sein. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen,
die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Gefordert ist insoweit
mehr als die bloße Möglichkeit einer Tatsache, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es muss
aber die "gute Möglichkeit" bestehen, dass sich die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen so zugetragen haben, wie sie
von dem Betroffenen vorgetragen werden. Das ist der Fall, wenn mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt spricht. Von
verschiedenen möglichen Geschehensabläufen muss der vorgetragene relativ gesehen am wahrscheinlichsten erscheinen (vgl. BSG vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R und B 9 V 3/12 R - jeweils juris).
Zwar bestimmt § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG, dass die Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten wegen Beschäftigungen in einem Ghetto
voraussetzen, dass für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Wie
bereits die Beklagte geht der Senat infolge des Urteils des BSG vom 12. Februar 2009 (B 5 R 70/06 R) davon aus, dass für einen derartigen Leistungsbezug des Versicherten aus der österreichischen Versicherung nichts erkennbar
ist.
Hinsichtlich einer Beschäftigung des Versicherten in Wien in der Zeit von April bis September 1942 stützen sich die Beteiligten
auf eine Aussage des Zeugen A Y vom 30. März 2005. Diese ist nicht Gegenstand der Verwaltungs- und der Gerichtsakte und liegt
dem Senat nicht vor. Der Senat hat darauf verzichtet, die Beteiligten aufzufordern diese Aussage vorzulegen, weil er den Aufenthalt
des Versicherten in einem Ghetto in Wien in der Zeit von April bis September 1942 als unabdingbare Anspruchsvoraussetzung
als nicht gegeben erachtet.
Die Regelungen des ZRBG sind auf einen Aufenthalt in Wien in den Jahren 1941/1942 anwendbar. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
ZRBG in der Fassung des Gesetzes vom 20. Juni 2002 (BGBl I, 2074) erstreckte sich dessen Anwendungsbereich auf Ghettos in
Gebieten, die vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert waren. Artikel 1 des Ersten Änderungsgesetzes zum ZRBG
vom 15. Juli 2014 (aaO) änderte die Bestimmung dahingehend ab, dass das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen
Einflussbereichs lag. Mit der Gesetzesänderung war keine Einengung, sondern eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des ZRBG
beabsichtigt. Der Gesetzgeber nahm hierfür auf die Richtlinie der Bundesregierung vom 1. Oktober 2007 über eine Anerkennungsleistung
an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war, Bezug und stellte den besetzten und eingegliederten Gebieten
solche Gebiete gleich, die dem nationalsozialistischen Einfluss unterworfen waren, wie zum Beispiel die Slowakei oder Rumänien
(Begr. zum Regierungsentwurf zu Artikel 1 Nr. 1; BT-Drucks. 18/1308, S. 9). Damit waren wie vor der Gesetzesänderung die in
das Deutsche Reich eingegliederten Gebiete weiterhin und zusätzlich die unter deutschem Einfluss stehenden Gebiete vom ZRBG
erfasst. Mit dem "Anschluss" war Österreich Bestandteil des Deutschen Reiches geworden. Durch das am 13. März 1938 durch die
österreichische Bundesregierung verabschiedete Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen
Reich (BGBl Nr. 75/1938) endete die rechtliche Existenz des österreichischen Bundesstaats. Wenn dieser "Anschluss" auch in
der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 der alliierten Staaten Großbritannien, Sowjetunion und USA für nichtig erklärt
wurde (Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/1, 2. Auflage, S. 144) und auch der rechtliche Gehalt dieser Erklärung umstritten
ist, ändert dies nichts daran, dass ab März 1938 in Österreich faktisch keine unabhängige Staatsgewalt ausgeübt wurde und
das Land unter - deutschem - nationalsozialistischem Einfluss stand. Denn faktisch hatte Österreich als Völkerrechtssubjekt
aufgehört zu existieren.
Jedoch bestand 1942 in Wien kein Ghetto. Der Begriff des Ghettos ist im ZRBG oder in der Gesetzesbegründung hierzu (vergleiche
Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen und FDP vom 19. März 2002, BT-Drucks. 14/8583, S. 1 ff sowie
Gesetzesentwurf der Fraktion PDS vom 20. März 2002, BT-Drucks. 14/8602, S. 1 ff) nicht definiert. Es ist ein unbestimmter
Rechtsbegriff, dessen Auslegung sich maßgeblich an dem Sinn und dem Zweck des ZRBG zu orientieren hat. Es kommt deshalb nicht
entscheidend darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen ist oder von der Besatzungsmacht als solches bezeichnet
wurde. Das ZRBG soll Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden
Ghetto eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung ermöglichen (BSG vom 2. Juni 2009 - B 13 R 81/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 5, Rn. 26; vergleiche Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion
DIE LINKE vom 8. Juni 2006, BT-Drucks. 16/1955, S. 1). Zwar ist das ZRBG als Reaktion auf die Ghetto-Rechtsprechung des BSG und in deren Akzeptanz verabschiedet worden (vergleiche BT-Drucks. 14/8583, S. 5; 14/8823, S. 4; 15/1475, S. 9; Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Juni 2007, BT-Drucks. 16/5720, S. 5). Es
erweitert jedoch in mehrfacher Hinsicht die Reichweite dieser Rechtsprechung, indem es eine unterschiedslose Regelung unabhängig
von lokal anwendbarem Recht, Größe und Struktur der Ghettos schafft (BSG vom 2. Juni 2009 - aaO und vom 3. Juni 2009 - B 5 R 26/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 8, Rn. 28).
Umgangssprachlich und unter historischem Bezug wurde unter einem Ghetto ein abgesondertes Wohnviertel verstanden, das ab dem
Spätmittelalter vor allem der Separierung der jüdischen Bevölkerung diente (vgl. Eintrag "Ghetto" bei Wikipedia). Es konnte
sich um einen Stadtteil oder eine Straße handeln, in der ausschließlich Juden wohnten. Es war ein eingegrenzter und von den
anderen Teilen der Stadt abgetrennter Bezirk. Während Ghettos aus historischer Sicht reguläre Wohnbezirke der jüdischen Bevölkerung
waren, dienten die Ghettos in den von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten anderen Zwecken; sie waren nicht
als getrennte Wohngebiete für Juden geplant, sondern stellten ein Übergangsstadium im Verlauf der "Endlösung der Judenfrage"
dar. Es gab verschiedene Formen von Ghettos, geschlossene oder offene (Amsterdam) oder einzelne bestimmte Häuser wie in Budapest
(Gutman u.a., Enzyklopädie des Holocaust, S. 535). Die Rechtsprechung zum ZRBG hat unter dem Blickwinkel der Zielrichtung
des Gesetzes einen weiten Ghetto- Begriff vertreten und es ausreichen lassen, dass der Aufenthalt der Juden rechtlich und
tatsächlich auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkt wurde und diese Beschränkung durch die Androhung schwerster Strafen bis
hin zur Todesstrafe durchgesetzt wurde. Die Aufenthaltsbeschränkung hatte eine Isolierung der jüdischen von der übrigen Bevölkerung
zum Zweck (BSG vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 84; LSG Baden-Württemberg vom 26. Januar 2010 - L 11 R 2534/09 - juris, Rn. 44). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat Kriterien herausgearbeitet, die für ein Ghetto kennzeichnend sind. Danach
zeichnet sich dieses durch die Absonderung, Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung aus. Die Absonderung
wird durch die Kennzeichnung mit dem Davidstern erzielt, die Konzentration erfolgt durch die Zusammenfassung der jüdischen
Bevölkerung der Stadt oder der weiteren Umgebung in einem Wohnbezirk, die Internierung durch die Zuweisung bestimmter zwingender
Wohnbezirke (LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 2006 - L 13 RJ 112/04 - juris, Rn. 32 ff; Urteil vom 13. Februar 2008 - L 8 R 153/06 - juris, Rn. 35). Das zwingende Merkmal der Konzentration in einem begrenzten Wohnbezirk hatte der 4. Senat des BSG aus § 43 Abs. 2 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgeleitet (BSG vom 14. Dezember 2006 - aaO). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat jedoch bereits darauf hingewiesen (Urteil vom 1. September
2006 - L 14 R 41/05 - juris, Rn. 27), dass die NS-Machthaber eine vollständige und hermetische Abriegelung der jüdischen Bevölkerung aus verschiedenen
Gründen nicht realisieren konnten. Diese Aussage wird durch die im Gutachten des Sachverständigen Dr. Z zitierte Textpassage
über die Einschätzung des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes R H bestätigt, der eine Zusammenführung aller Juden in Wien
in einem Ghetto polizeilich nicht für durchführbar hielt. Diese sollten vielmehr zwar von der übrigen Bevölkerung getrennt
werden, jedoch über die Stadt in einzelnen Häusern verteilt leben und so unter der "Bewachung" der gesamten deutschen Bevölkerung
stehen. Daraus folgte die große Zahl verschiedener offener Ghettos (zu den offenen Ghettos LSG Berlin-Brandenburg vom 6. September
2017 - L 16 R 483/16 - juris, Rn. 27 - 29 m.w.N.; vgl. zu den verschiedenen äußeren Verhältnissen in den Ghettos: Röhl, Vom historischen zum rechtlichen
Ghettobegriff, NZS 2018, S. 514). Gemeinsam war allen Ghettos jedoch die fehlende Freizügigkeit der jüdischen Menschen. Das LSG Nordrhein-Westfalen hielt
es für maßgeblich, dass die Tätigkeit in einem Zeitraum ausgeübt wurde, in dem bereits eine aufgezwungene und kontrollierte
Separierung der jüdischen Bevölkerung in bestimmten Wohnbezirken faktisch realisiert und als Ausdruck behördlicher Beschränkungen
der Bewegungsfreiheit im Zusammenhang mit zunehmenden Verdrängungsmaßnahmen und in dem Zustrom weiterer Juden aufgrund von
Vertreibungsaktionen umgesetzt worden war (LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. September 2006 - aaO).
Der Senat hat sich dieser Rechtsprechung dem Grunde nach angeschlossen und dabei den Begriff der Konzentration der jüdischen
Bevölkerung sehr weit gefasst (Urteile vom 4. September 2018 - L 7 R 152/16 und vom 13. November 2018 - L 7 R 175/16; anhängig beim Bundessozialgericht, B 13 R 3/19 R und B 13 R 9/19 R). Eine Konzentration hat er auch dann bejaht, wenn im Generalgouvernement in kleinen Gemeinden die jüdische Bevölkerung
auf ihre angestammten Wohnungen beschränkt oder in einzelne Häuser umgesiedelt wurden und ihre Freizügigkeit sich im Wesentlichen
nur noch auf diese Häuser erstreckte. Dieses hat der Senat gestützt auf gutachterliche Aussagen damit begründet, dass die
Kontrolle und die Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung durch die Besatzungsmacht und die "Volksdeutschen" in den kleinen
Gemeinden mindestens ebenso effektiv wie eine Mauer, ein Stacheldraht oder eine Bewachung waren und dass in den kleinen Gemeinden
die jüdische Bevölkerung nicht so zahlreich war, dass sie eine Zusammenfassung in zusammenhängenden Wohngebieten ermöglichte.
Würde man die Beschränkung des Lebensbereichs der Juden auf einzelne Häuser aus dem Begriff eines Ghettos ausnehmen, wäre
die jüdische Bevölkerung der Landgemeinden, die nicht in die Ghettos der Städte umgesiedelt wurden, vom Anwendungsbereich
des ZRBG ausgenommen. Dies hält der Senat nicht für hinnehmbar.
Von diesen Fällen unterscheiden sich die Verhältnisse der Juden in Wien in den Jahren nach 1941. Der Senat hält es für erforderlich,
dass der Begriff des Ghettos einen irgendwie gearteten räumlichen Bezug haben muss, innerhalb dessen die Einschränkung der
Freizügigkeit der jüdischen Bevölkerung und ihre Isolation erfolgte. Wenn auch der Gesetzgeber eine Definition des Begriffes
"Ghetto" nicht vorgenommen hat (vergleiche die Fraktionsentwürfe, aaO), kann davon ausgegangen werden, dass er eine räumliche
Zuordnung - wahrscheinlich innerhalb eines zusammenhängenden Gebietes - vor Augen gehabt hat. Denn er bezog sich auf die Rechtsprechung
des BSG zu den Verhältnissen im Ghetto in Lodz (BSG vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 - SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15) und es ist in beiden Gesetzesentwürfen von "Ghettobewohnern" gesprochen worden, deren Beschäftigung durch das Gesetz
berücksichtigt werden solle. Zwar hindert dies nicht die Weiterentwicklung des Begriffes "Ghetto" und seine Lösung von dem
räumlichen Bezug, jedoch kann auf diesen nicht vollständig verzichtet werden. Insbesondere wird es dem Sinn und Zweck des
Gesetzes nicht gerecht, die Gesamtheit der vielfachen menschenverachtenden Beschränkungen des täglichen Lebens, denen die
jüdische Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus im ganzen Reich und den besetzten Gebieten ausgesetzt war, als Grundlage
für die Anwendung des ZRBG zu nehmen. In dem Urteil vom 18. Juni 1997 (aaO) sah das BSG trotz der Beschränkungen der jüdischen Bevölkerung in einem eng begrenzten Stadtgebiet es als möglich und gegeben an, dass
Reste von Vertragsfreiheit und Entgeltlichkeit des Beschäftigungsbegriffs im Sinne des §
7 des 4. Buches Sozialgesetzbuch (
SGB IV) in einem Ghetto noch vorhanden sein konnten. Dies war zuvor mit der Begründung verneint worden, dass in einem Ghetto der
Zwangscharakter für eine ausgeübte Arbeit prägend sei. Kennzeichnend für den Ghettobegriff ist daher nicht die Anerkennung
einer jedweden Tätigkeit, sondern lediglich die unter den Umständen der Einschränkung der Freizügigkeit ausgeübte Arbeit.
Das BSG hat in seiner Rechtsprechung zur Modifikation der Begriffsmerkmale "Freiwilligkeit" und "Entgelt" für die Anwendung des ZRBG
den Raumbezug für die Annahme eines Ghettos zugrunde gelegt (BSG vom 2. Juni 2009, aaO, Rn. 15: "Arbeiten, die außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden"). Mit den
in den Ghettos bestehenden Lebensbedingungen in Abgrenzung zu den "normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen" hat es diese Modifikationen
begründet und als gerechtfertigt angesehen (BSG vom 3. Juni 2009, aaO, Rn. 33). Sofern man auf einen örtlichen Bezug für die Annahme eines Ghettos verzichten und ein Ghetto
bereits auf der Grundlage der sich im gesamten Deutschen Reich und in den annektierten Gebieten auf die Beschränkung der Lebensverhältnisse
der Juden auswirkenden Gesetze annehmen würde, wäre die Bezeichnung "Beschäftigung in einem Ghetto" im Gesetzestitel des ZRBG
fehlerhaft. Denn dann wäre der Begriff "Ghetto" überflüssig und eine jede Tätigkeit unter den Lebensbedingungen der jüdischen
Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus würde erfasst werden. Es wäre möglich und zu rechtfertigen gewesen, jegliche
Arbeit der Juden oder anderer unterdrückter Menschen unter den Bedingungen des Nationalsozialismus rentenrechtlich zu berücksichtigen.
Dies hat der Gesetzgeber jedoch erkennbar nicht vor Augen gehabt, sondern er beabsichtigte eine Regelung allein für die Verhältnisse
zu schaffen, in denen die Juden im Sinne einer Konzentration und regelmäßig auf engem Raum zusammengefasst waren, auch wenn
dieser Raum sich auf ein einzelnes Haus erstreckte. Schließlich leitet der Senat die Beschränkung des Begriffs "Ghetto" auf
einen räumlich begrenzten Bezirk daraus ab, dass das ZRBG nach dessen § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1 auf Verfolgte anwendbar
ist und gemäß § 1 Abs. 2 die rentenrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) ergänzt. Nach § 1 Abs. 1 WGSVG ist dieses für Versicherte anwendbar, die Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sind. Nach § 43 Abs.
2 BEG sind Freiheitsentziehungen, für die Verfolgte einen Entschädigungsanspruch haben, insbesondere polizeiliche oder militärische
Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslager und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto.
Dort ist folglich unzweifelhaft ein räumlicher Bezug für das Ghetto zugrunde gelegt. Der Gesetzessystematik würde es widersprechen,
wenn man diesen räumlichen Bezug für die Anwendung des ZRBG gänzlich aufgegeben würde. Denn die Vorschriften des ZRBG und
des BEG stehen über die des WGSVG im Zusammenhang, der es nicht zulässt, dass derselbe Begriff in unterschiedlicher Weise gebraucht wird.
Dieser räumliche Bezug war in Wien 1941 jedoch nicht gegeben. Die Einrichtung von Ghettos im Sinne von durch Mauern oder Zäune
abgegrenzten Sperrbezirken beschränkte sich wesentlich auf die Ostgebiete, während im Deutschen Reich sowie im Protektorat
Böhmen-Mähren ein allmählicher Prozess der Ghettoisierung stattfand, der durch eine Vielzahl einzelner, die Freizügigkeit
beschränkender Maßnahmen erreicht wurde (Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. I, S. 165). Diese zielten
darauf ab, die sozialen Kontakte zwischen den Juden und den Deutschen (bzw. Österreichern) zu unterbinden, die Juden in ihrer
Wohnungsnahme zu beschränken, ihre Bewegungsfreiheit zu reglementieren, sie als solche zu kennzeichnen und einen eigenen jüdischen
Verwaltungsapparat herauszubilden. Der Sachverständige Dr. Z hat in seinem Gutachten aufgezählt, durch welche Maßnahmen diese
Ziele in Wien bis September 1941 und darüber hinaus im Einzelnen durchgesetzt wurden (S. 8 bis 11 des Gutachtens). Ab 1938
mussten sich die Juden gegenüber amtlichen und parteiamtlichen Stellen als solche ausweisen, für inländische jüdische Studierende
wurde an der Universität Wien ein Hausverbot erteilt. Juden durften Kinos und Theater nicht mehr besuchen. Am "Tag der nationalen
Solidarität" erging ein Ausgangsverbot von 12.00 bis 20.00 Uhr. Die Führerscheine und Kraftfahrzeugzulassungsbescheinigungen
wurden den Juden entzogen und der kleine Grenzverkehr untersagt. Ihre Kraftfahrzeuge mussten sie an "arische Deutsche" verkaufen.
Im April 1939 erging das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden, das für diese den Mieterschutz abschaffte. Im Mai 1939 erging
der Runderlass zur Durchführung dieses Gesetzes, der die Unterbringung von gekündigten Juden in "jüdischen" Häusern und Wohnungen
regelte. Dieses Gesetz und der Erlass hatten die Konzentration der Juden in einzelnen Häusern zur Folge. Der Ausgang wurde
den Juden nach 20.00 Uhr im Winter bzw. 21.00 Uhr im Sommer untersagt. Sie durften die Luftschutzräume nicht mehr benutzen.
Die Einkaufszeiten und der Besuch von Handwerksbetrieben wurden für sie bis auf zwei bzw. drei Stunden täglich beschränkt.
1940 erging für Juden ein Ausgangsverbot vom 1. April bis 30. September zwischen 21:00 Uhr und 5:00 Uhr sowie vom 1. Oktober
bis 30. März von 20:00 Uhr bis 6:00 Uhr. 1941 wurde den Juden der Umzug innerhalb der Bezirke Wiens ohne Zustimmung der Zentralstelle
für jüdische Auswanderung verboten und es war ihnen verboten, ihre Wohngemeinde ohne schriftliche polizeiliche Erlaubnis zu
verlassen. Die Durchführungsrichtlinie zur Kennzeichnungsverordnung sah vor, dass Anträge zum Verlassen des Wohnorts und zur
Benutzung von Verkehrsmitteln in dringenden Fällen und außerhalb der Hauptverkehrszeit bei der Polizei zu stellen waren. Den
wehrfähigen Jahrgängen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren wurde die Auswanderung untersagt. Am 1. September 1941 wurde die
Kennzeichnungspflicht mit dem Judenstern zum 15. September eingeführt. Den Juden war die Nutzung von Schlaf- und Speisewagen
sowie von Ausflugswagen und Ausflugsschiffen untersagt; die übrigen öffentlichen Verkehrsmittel durften sie nur nutzen, wenn
freie Plätze vorhanden waren und nicht zu den Stoßzeiten. Im Oktober 1941 erging ein vollständiges Auswanderungsverbot für
die Dauer des Krieges. Städtische Autobusse, Landkraftwagen und Postkraftwagen durften die Juden nicht benutzen. Ab Februar
1942 durften die Juden keine öffentlichen Fernsprecher mehr nutzen, nachdem ihnen die eigenen Fernsprechanschlüsse zumeist
bereits 1940 genommen waren. Ab März 1942 mussten sie ihre Häuser mit dem schwarzen Judenstern kennzeichnen. Es folgten das
Verbot des Besuchs "arischer" Wohnungen und der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Genehmigung sowie des Betretens bestimmter
öffentlicher Anlagen und Einrichtungen.
Durch dieses menschenverachtende System einzelner Maßnahmen wurde ein gegenseitiger Kontakt der jüdischen und der nichtjüdischen
Bevölkerung weitestgehend unterbunden und die Juden wurden von der übrigen Bevölkerung isoliert. Die Einzelmaßnahmen betrafen
alle Lebensbereiche und schränkten das Leben bis auf das Mindestmaß ein, das erforderlich war, um die öffentliche Ordnung
im Übrigen aufrechtzuerhalten. Dabei führte der Sachverständige Dr. Z unter Hinweis auf Hilberg (aaO, Seite 56) aus, dass
diese Maßnahmen nicht planmäßig erfolgten und ihr Ziel für die Ausführenden gar nicht erkennbar war. Vielmehr ging es um eine
allgemeine Einschränkung der Lebensfreiheit der Juden aus einer antisemitischen Gesinnung heraus. Dabei achteten die Machthaber
anders als in den Ostgebieten im Reichsgebiet darauf, dass die Akzeptanz der Maßnahmen bei der Bevölkerung erhalten blieb
und angesichts der Rigorosität nicht in das Gegenteil umschlug. Allerdings fehlte diesen Maßnahmen die Zielrichtung, die Freizügigkeit
der Juden auf begrenzte Bezirke zu beschränken. In diese Richtung zielten die Polizeiverordnung vom 28. November 1938 (aaO).
In dessen § 1 ist geregelt, dass die Regierungspräsidenten, Landeshauptmänner, in Wien der Bürgermeister und der Reichskommissar
für das Saarland den Juden räumliche und zeitliche Beschränkungen des Inhalts auferlegen konnten, dass diese bestimmte Bezirke
nicht betreten oder sich zu bestimmten Zeiten in der Öffentlichkeit nicht zeigen durften. Besonders bedeutsam ist ferner das
Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939 (aaO). Nach dessen § 1 konnte sich ein Jude auf den gesetzlichen
Mieterschutz nicht berufen, wenn der Vermieter bei der Kündigung durch eine Bescheinigung der Gemeindebehörde nachwies, dass
für die Zeit nach der Beendigung des Mietverhältnisses die anderweitige Unterbringung des Mieters sichergestellt sei. Dieser
Nachweis war problemlos zu erbringen. Denn nach § 4 Abs. 1 hatte ein Jude in Wohnräumen, die er als Eigentümer oder aufgrund
eines Nutzungsrechts inne hatte oder die er von einem Juden gemietet hatte, auf Verlangen der Gemeindebehörde Juden als Mieter
oder Untermieter aufzunehmen. Dies führte dazu, dass Juden ohne weiteres aus ihren Wohnungen ausgewiesen und in die Wohnungen
anderer Juden eingewiesen werden konnten. Damit ging die Konzentration der Juden in einzelnen Häusern in Wien einher, jedoch
führte dies nicht zu einer räumlichen Ghettobildung. Denn diese Vorschriften bewirkten zwar eine Umsiedlung der Juden, nicht
aber eine Konzentration in einem begrenzten Bezirk oder Distrikt - unabhängig von dessen äußerer Abgrenzung - und führten
nicht dazu, dass die Juden räumlich auf den eng begrenzten Bereich der Wohnung oder des Hauses beschränkt waren. Wenn auch
die Lebensbereiche der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung getrennt waren und die Juden einzelne Stadtbezirke nicht
betreten durften, bestand gleichwohl für sie kein generelles Verbot, sich in Wien im Rahmen der Sperrzeiten und außerhalb
der untersagten Bezirke frei zu bewegen. Es war ihnen auch möglich, außerhalb der zugewiesenen Häuser oder Wohnungen eine
Beschäftigung aufzunehmen. Somit kommt der Senat zu der Überzeugung, dass die vielfältigen Gesetze, Erlasse und Verordnungen
vor allem ab 1938 auf eine allgemeine Beschränkung des täglichen Lebens der jüdischen Bevölkerung abzielte und dass das Gesetz
vom 30. April 1939 zwar eine Umsiedlung der Juden zur Folge hatte, nicht aber zur Ghettobildung führte. Die Kennzeichnungspflicht
im September 1941 und die der Häuser im März 1942 stellten sich als Maßnahme im Gesamtverlauf aller Regelungen dar und führten
nicht zu einer Konzentration der Juden in einem oder mehreren Bezirken, sondern zu deren Stigmatisierung und Diskriminierung
und hatten deren leichtere Überwachung zur Folge.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Der Senat hat die Revision im Hinblick auf die bei BSG anhängigen Verfahren B 13 R 3/19 R und B 13 R 9/19 R sowie zur Klärung der Frage, ob einzelne Häuser den Begriff eines Ghettos erfüllen, zugelassen.