Zulässigkeit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung im sozialgerichtlichen Verfahren
Auslegung des Anhörungserfordernisses
Gründe:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG vom 1.9.2015 ist zulässig, denn er hat
mit ihr einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art
101 Abs
1 Satz 2
GG wegen einer Verletzung von §
153 Abs 4
SGG hinreichend bezeichnet (§
160a Abs
2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Die Beschwerde ist insoweit auch begründet.
Nach §
153 Abs
4 Satz 1
SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
für nicht erforderlich hält, falls die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid ist. Nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG sind die Beteiligten vorher zu hören. Diesem rechtlichen Gehör ist Genüge getan, wenn den Beteiligten mit der Anhörungsmitteilung
Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken, die sie gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und ohne
Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter haben, als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird. Wenn nach einer
ersten Anhörungsmitteilung in qualifizierter Weise vorgetragen wird und das LSG auch unter Würdigung dieses neuen Vorbringens
an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nur durch die Berufsrichter
zu entscheiden, bedarf es einer erneuten Anhörungsmitteilung nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG mit Gelegenheit zur Äußerung hierzu. Denn das Anhörungserfordernis nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zugunsten der Beteiligten weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten
durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat kompensieren soll. Eine erneute Anhörung
ist indes aus Gründen der Prozessökonomie nicht erforderlich, wenn das nach der ersten Anhörungsmitteilung erfolgte Vorbringen
nicht entscheidungserheblich, ohne jegliche Substanz oder bloß wiederholend ist. Doch muss das neue Vorbringen entscheidungserheblich
nicht in dem Sinne sein, dass es auch Grundlage für eine zulässige und begründete, nicht auf die Verletzung des Rechts auf
den gesetzlichen Richter gestützte Verfahrensrüge sein könnte. Denn sonst würde in diesen Konstellationen die prozessuale
Absicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf den gesetzlichen Richter ins Leere laufen (vgl zu diesen Maßstäben
letztens etwa BSG Beschluss vom 2.11.2015 - B 13 R 203/15 B - juris RdNr 12 ff; BSG Beschluss vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - juris RdNr 7 f; jeweils mit Nachweisen älterer Rechtsprechung; zur Kritik an diesen Maßstäben vgl Burkiczak, NVwZ 2016,
806, 811 ff).
Vorliegend fehlt es an der erforderlichen erneuten Anhörung. Nach der Anhörungsmitteilung durch das LSG vom 16.6.2015 mit
einer Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats legte der damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers am 14.7.2015
erstmals eine umfangreiche Berufungsbegründung vom 3.7.2015 vor. Aufgrund dieser hat der Kläger eine erneute Mitteilung des
LSG erwarten dürfen, über die Berufung zu seinen Ungunsten durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nur durch die Berufsrichter
entscheiden zu wollen, wenn es an diesem Vorhaben festhalten wollte. Denn die Berufungsbegründung enthält weder bloß Entscheidungsunerhebliches
oder Substanzloses noch sonst bloß Wiederholendes, sondern mit ihr ist seitens des Klägers im Berufungsverfahren erstmals,
umfangreich und substantiiert vorgetragen worden. Hierdurch hat sich die Prozesssituation nach der ersten Anhörung im oben
beschriebenen Sinne entscheidungserheblich geändert. Das LSG hat indes nach Vorlage der Berufungsbegründung nicht durch eine
erneute Anhörungsmitteilung deutlich gemacht, an seiner beabsichtigten Entscheidung über die Berufung durch Beschluss festhalten
zu wollen, sondern am 1.9.2015 durch den angefochtenen Beschluss entschieden. In diesem Beschluss gibt das LSG den Inhalt
der ausführlichen Berufungsbegründung knapp wieder, ohne sie als von vornherein unmaßgeblich zu bewerten.
Wegen des vorliegenden Verfahrensmangels der unterbliebenen notwendigen erneuten Anhörung war das LSG bei seinem Beschluss
nicht vorschriftsmäßig besetzt. Denn eine Verletzung des §
153 Abs
4 Satz 2
SGG durch eine unterbliebene Anhörung führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern
und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 Satz 1
SGG), bei dem eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist (vgl letztens etwa BSG Beschluss vom 2.11.2015 - B 13 R 203/15 B - juris RdNr 15; BSG Beschluss vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - juris RdNr 6, 10; jeweils mit Nachweisen älterer Rechtsprechung). Dieser die angefochtene Entscheidung des LSG insgesamt
betreffende absolute Revisionsgrund führt zur Aufhebung und Zurückverweisung (§
160a Abs
5 SGG). Die Verweisung an einen anderen Senat des LSG (§
563 Abs
1 Satz 2
ZPO iVm §
202 Satz 1
SGG) ist nicht geboten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.