Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren
Bezeichnung des Verfahrensmangels des Erlasses eines Prozessurteils anstelle eines Sachurteils im Rechtsstreit um Arbeitslosengeld
II
Anforderungen an einen willkürlichen bzw. rechtsmissbräuchlichen Antrag
Gründe:
I
Streitig sind SGB II-Leistungen in dem Zeitraum von September 2012 bis Februar 2013.
Der alleinstehende, SGB II-Leistungen beziehende Kläger bewohnte im streitigen Zeitraum eine knapp 56 qm große Wohnung, für die ihm Unterkunftskosten
in Höhe von 370 Euro monatlich entstanden. Nach Anhörung zur Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Aufforderung zur
Kostensenkung (Schreiben des Beklagten vom 10.8.2011/27.1.2012) bewilligte der Beklagte für die Monate September 2012 bis
Februar 2013 Alg II unter Berücksichtigung des Regelbedarfs für einen alleinstehenden Leistungsberechtigten und monatlicher
Unterkunftskosten in Höhe von nur noch 257 Euro bis Dezember 2012 bzw 271,60 Euro ab Januar 2013 (Bescheide vom 21.8.2012
und 21.2.2013; Widerspruchsbescheid vom 25.2.2013).
Das SG hat die Klage abgewiesen und zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, hinsichtlich der Regelleistung sei die Klage
unzulässig, weil der Kläger seinen Widerspruch wirksam auf die Kosten der Unterkunft begrenzt habe (Urteil vom 6.8.2015).
Die Klage sei auch unbegründet. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - festgestellt, dass die Regelleistung - bezogen auf den streitigen Zeitraum - nicht verfassungswidrig ermittelt worden sei.
Hinsichtlich der Unterkunftskosten sei die Klage unbegründet. Eine wirksame Begrenzung der Angemessenheit sei durch die vom
Kreistagsausschuss für Familie und Soziales beschlossene Richtlinie des Vogtlandkreises erfolgt, die auf einem schlüssigen
Konzept beruhe. Die hiergegen von dem Kläger erhobene Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg (Beschluss des Sächsischen
LSG vom 14.12.2015 - L 2 AS 948/15 NZB).
Die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil vom 6.8.2015 hat das LSG nach Anhörung der Beteiligten (Schreiben vom 16.9.2015/29.10.2015)
als unzulässig verworfen (Beschluss vom 14.12.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, bezogen auf
die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung seien nur noch 648,80 Euro streitig. Die "einzige weitere Rüge"
des Klägers zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistung für Alleinstehende mit einer "höchsten Erhöhung der Regelleistung"
um 60 Euro monatlich wirke sich nicht erhöhend auf den Beschwerdewert aus. Er könne sich nach der Entscheidung des BVerfG
vom 23.7.2014 zur Verfassungsmäßigkeit der Regelleistungen nicht mehr auf die von diesem Gericht eingeholten Stellungnahmen
zu höheren Regelleistungen berufen.
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision. Er macht ua sinngemäß geltend, das SG und das LSG hätten eine Sachentscheidung treffen müssen.
II
Auf die Beschwerde des Klägers war der angefochtene Beschluss des LSG vom 14.12.2015 aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Er hat formgerecht - den Anforderungen des §
160a Abs
2 S 3
SGG entsprechend - und auch in der Sache zutreffend einen Verfahrensfehler (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) gerügt.
Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seinem Vorbringen, sein Anspruch auf den gesetzlichen Richter sei verletzt, weil der
Berufungssenat selbst und ohne Stellungnahmen einzelner Senatsmitglieder über den Befangenheitsantrag entschieden habe, einen
Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art
101 Abs
1 S 2
GG; §
60 SGG iVm §§
41 ff
ZPO) in dem für eine konkrete Schlüssigkeitsprüfung geforderten Maße dargetan hat. Er hat jedenfalls in seinem Vortrag im Rahmen
einer Divergenzrüge die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels - Entscheidung durch Prozessurteil anstelle eines Sachurteils
- ausreichend dargelegt.
Insofern trägt der Kläger vor, das LSG weiche in seinem Beschluss von der Rechtsprechung des BSG ab, nach der sich der Berufungswert aus der Zusammenrechnung von mehreren streitgegenständlichen Ansprüchen ergebe (Hinweis
auf BSGE 24, 260, 261 - SozR Nr 13 zu § 149
SGG). Er legt dar, dass die Verfassungswidrigkeit der Regelsätze sowie die "unrechtmäßige Kappung" der Unterkunftskosten weiterhin
im Streit gestanden hätten. Weder vor dem SG noch in der Berufungsinstanz habe er die Klage auf höhere Regelleistungen zurückgenommen. Zur Begründung seines Begehrens
auf höhere Regelleistungen bezieht er sich auf die Ergebnisse der vom BVerfG in Auftrag gegebenen Gutachten des Paritätischen
Gesamtverbandes, des Deutschen Caritasverbandes und des Diakonischen Werks und stellt dar, dass sich unter Beachtung dessen
ein Berufungsstreitwert von über 750 Euro ergebe.
Damit rügt der Kläger zu Recht, dass das LSG in der Sache hätte entscheiden müssen. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor.
Wird zu Unrecht ein Prozessurteil anstelle eines Sachurteils erlassen, so ist ein Verfahrensmangel gegeben, weil beides jeweils
eine qualitativ andere Entscheidung ist und sowohl ein Entscheidungs- als auch ein Verfahrensmangel gegeben sind (BSG Beschluss vom 4.7.2011 - B 14 AS 30/11 B - juris; BSG SozR 1500 § 160a Nr 55).
Bereits das SG ist in seiner Begründung, nicht jedoch im Tenor seiner Entscheidung, irrtümlich davon ausgegangen, dass sich das Begehren
des Klägers auf die Anfechtung der Höhe der Unterkunftskosten beschränkt hat. Gegenstand des Klageverfahrens waren jedoch
die Bescheide vom 21.8.2012 und 21.2.2013 idF des Widerspruchsbescheids vom 25.2.2013, die Regelungen und Ausführungen sowohl
zur Höhe der Regelbedarfe als auch zu den Unterkunftskosten enthielten. Unter Berücksichtigung der geltend gemachten Erhöhung
der Regelbedarfe und eines höheren Betrags für Unterkunftskosten war der Beschwerdewert erreicht.
Soweit das Berufungsgericht die Rechtsansicht vertreten hat, dass die Regelleistung bei der Ermittlung des Beschwerdewertes
außer Betracht bleiben müsse, folgt der Senat dem nicht. Es liegt kein "willkürlicher bzw rechtsmissbräuchlicher" Antrag zur
Erreichung der Berufungsfähigkeit vor. Soweit sich das LSG insoweit auf eine Kommentierung (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
11. Aufl 2014, § 144 RdNr 14a mwN) bezogen hat, ist ein solcher, allenfalls ausnahmsweise anzunehmender Sachverhalt hier nicht
zu erkennen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist von solchen Umständen nur auszugehen, wenn eine eindeutig funktionswidrige Inanspruchnahme einer an sich gegebenen Rechtsschutzmöglichkeit
vorliegt, indem etwa ein Anspruch nur ins Spiel gebracht wird, um eine Sachurteilsvoraussetzung "gezielt" herbeizuführen (BSG Urteil vom 5.3.1980 - 9 RV 44/78 - SozR 1500 § 148 Nr 5 S 7) oder - entgegen einer eindeutigen gesetzlichen Regelung - Prozessanträge nur deshalb und ohne gesetzliche Grundlage
gestellt werden, um die Berufungsfähigkeit zu erreichen (BSG Urteil vom 22.8.1990 - 10 RKg 29/88 - BSGE 67, 194, 195 = SozR 3-5870 § 27 Nr 1 S 2). Die gezielte Umgehung von Prozessvorschriften muss als "willkürlich" in dem Sinne erscheinen,
dass für das Verhalten des Rechtsmittelklägers ein vernünftiger Grund nicht erkennbar ist (BSG Urteil vom 28.2.1978 - 4 RJ 73/77 - SozR 1500 § 146 Nr 7).
Eine "gezielte Erweiterung" des prozessualen Begehrens zur Erlangung einer Berufungsfähigkeit ist hier jedoch schon im Ansatz
nicht erkennbar. In seiner Klage an das SG vom 28.3.2013 hat der Kläger mit Bezug auf die Vorlage des SG Berlin an das BVerfG formuliert, nach seiner Ansicht müssten
höhere Regelleistungen erbracht werden. Auch im Berufungsverfahren hat er sowohl zu deren Höhe als auch zu den Aufwendungen
für Unterkunft und Heizung vorgetragen. Es handelt sich daher nicht um eine "Erweiterung des Klagebegehrens" zur Erlangung
einer Berufungsfähigkeit, sondern um ein Klagebegehren, das von vornherein und - nach im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens
ergangener Entscheidung des BVerfG vom 23.7.2014 - möglicherweise wenig erfolgversprechend, gleichwohl aber weiterhin zulässig
verfolgt wurde. Eine "Rechtsverpflichtung" des Klägers, einer Beschränkung des prozessualen Anspruchs zuzustimmen bzw dies
ausdrücklich zu erklären (dies aber ist erforderlich, wenn der Verwaltungsakt - wie hier - mehrere eigenständige abtrennbare
Verfügungen enthält), kann der Senat nicht erkennen.
Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil sich das LSG bisher
nicht mit den Einwänden des Klägers gegen die Angemessenheitsrichtlinie des Vogtlandkreises vom 24.2.2011 unter Berücksichtigung
der von der Firma Analyse und Konzepte ermittelten Richtwerte für angemessene Bruttokaltmieten (Richtwerttabelle) befasst
hat.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.