Rente wegen Erwerbsminderung
Unzulässigkeit einer privatschriftlich eingereichten Nichtzulassungsbeschwerde
Gründe
I
Der zuletzt als selbstständiger Musiklehrer und Musikproduzent tätige Kläger begehrt in der Sache eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte den Antrag ab, weil nach dem Ergebnis der sozialmedizinischen Ermittlungen beim
Kläger noch ein Leistungsvermögen von sechs Stunden oder mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe (Bescheid vom 25.7.2018, Widerspruchsbescheid vom 30.10.2018). Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 16.10.2019 erklärt, dass er die Klage zurücknehme, was so auch protokolliert, vorgelesen und von ihm genehmigt worden
ist. Kurze Zeit später hat der Kläger mit elektronisch übermittelter Nachricht vom 17.10.2019 dem SG mitgeteilt, dass er sich angesichts nächtlicher Schmerzen nun doch entschieden habe, eine schriftliche Entscheidung des Gerichts
zu verlangen. Daraufhin hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 17.12.2019 festgestellt, dass der Rechtsstreit durch die wirksame Klagerücknahme in der mündlichen
Verhandlung vom 16.10.2019 erledigt ist. Das LSG hat die vom Kläger erhobene Berufung als unzulässig verworfen, weil das vom
Kläger über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) übersandte Berufungsschreiben nicht qualifiziert elektronisch
signiert war; ungeachtet dessen sei aber auch die Entscheidung des SG in der Sache nicht zu beanstanden (Urteil vom 10.8.2020, dem Kläger zugestellt am 21.8.2020).
Der Kläger hat mit nicht qualifiziert signierter EGVP-Nachricht vom 25.8.2020 beim BSG die "Zulassung der Revision ohne Barriere eines Rechtsanwaltes oder Verbandes" gegen das LSG- Urteil vom 10.8.2020 beantragt.
Da er einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sei und deshalb für ihn die "UN Konvention" gelte, die keinerlei Barrieren
zulasse, müssten für ihn alle Möglichkeiten zu den Gerichten auch ohne Anwalt offenstehen. Auf die Hinweise des Berichterstatters
zur gesetzlichen Regelung des Vertretungszwangs und zu den Anforderungen an eine rechtswirksame Übermittlung elektronischer
Dokumente hat der Kläger zunächst geantwortet, dass das Erfordernis der qualifizierten Unterschrift eine mit der "UN Konvention"
nicht vereinbare Barriere darstelle und deshalb für ihn keinerlei Bedeutung habe. Nachfolgend hat er sein Beschwerdeschreiben
vom 25.8.2020 handschriftlich unterzeichnet und in einem vom SG Nürnberg frankierten Briefumschlag dem BSG übersenden lassen. Bis zum Ablauf der Beschwerdefrist am 21.9.2020 hat der Kläger weder Prozesskostenhilfe noch die Beiordnung
eines Notanwalts beantragt; auch eine Beschwerdeschrift eines vor dem BSG zugelassenen und für den Kläger tätigen Prozessbevollmächtigten ist nicht eingegangen.
II
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Sie entspricht nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, da sie nicht von einem
vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten unterzeichnet ist (§
73 Abs
4 SGG).
Aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-Behindertenrechtskonvention
<UN-BRK> ) ergibt sich keine Ausnahme von dem gesetzlich angeordneten Vertretungszwang vor dem BSG. Die UN-BRK gilt in Deutschland im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419; s auch BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 19; BVerfG <Kammer> Beschluss vom 30.1.2020 - 2 BvR 1005/18 - juris RdNr 40 mwN). Für die hier maßgebliche Frage des Zugangs zur Justiz bzw zur Revisionsinstanz ist Art 13 UN-BRK als speziellere Vorschrift
einschlägig. Art 12 UN-BRK, auf den sich der Kläger beruft, enthält demgegen- über Bestimmungen, die auf die Sicherung der
Autonomie behinderter Menschen gerichtet sind und in diesem Kontext an eine krankheitsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit
anknüpfen (vgl BVerfG Urteil vom 24.7.2018 - 2 BvR 309/15 ua - BVerfGE 149, 293 RdNr 90). Dementsprechend befasst sich Art 12 Abs 4 UN-BRK mit Anforderungen an die "Maßnahmen betreffend die Ausübung der Rechts-
und Handlungsfähigkeit" behinderter Menschen, die im Sinne des Art 12 Abs 3 UN-BRK getroffen werden (zB die Bestellung eines Betreuers oder Entscheidungen über die Unterbringung und Zwangsbehandlung behinderter Menschen, vgl
BVerfG Beschluss vom 23.3.2011 - 2 BvR 882/09 - BVerfGE 128, 282, 306 f= juris RdNr 53; zum Anwendungsbereich des Art 12 Abs 4 UN-BRK s auch Tolmein in Welke, UN-BRK, 2012, Art 12 RdNr 10
ff; Lachwitz in Kreutz/Lachwitz/Trenk-Hinterberger, Die UN-BRK in der Praxis, 2013, Art 12 RdNr 33), welche hier nicht in Rede stehen.
Art 13 Abs 1 UN-BRK bestimmt, dass die Vertragsstaaten Menschen mit Behinderungen "gleichberechtigt mit anderen" einen wirksamen
Zugang zur Justiz gewährleisten, unter anderem durch verfahrensbezogene und altersgemäße Vorkehrungen, um ihre wirksame unmittelbare
und mittelbare Teilnahme, einschließlich als Zeugen und Zeuginnen, an allen Gerichtsverfahren, auch in der Ermittlungsphase
und in anderen Vorverfahrensphasen, zu erleichtern. Das verpflichtet die Rechtsprechung, bei der Auslegung der Verfahrensordnungen
der spezifischen Situation eines Beteiligten mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass dessen Teilhabemöglichkeit der einer
nichtbehinderten Partei gleichberechtigt ist (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 10.10.2014 - 1 BvR 856/13 - juris RdNr 6 <zum Zugang einer schwerbehinderten Partei zu den Prozessunterlagen vermittelt durch ihren Rechtsanwalt; BVerfG
<Kammer> Beschluss vom 27.11.2018 - 1 BvR 957/18 - juris RdNr 3 <zur Möglichkeit, einem unter Autismus leidenden Beteiligten einen Bevollmächtigten zu bestellen, damit durch
dessen Vermittlung die Teilhaberechte in der mündlichen Verhandlung wahrgenommen werden können>).
Die in §
73 Abs
4 SGG geregelte Verpflichtung der Beteiligten, sich in Verfahren vor dem BSG - einem obersten Gerichtshof des Bundes (vgl Art
95 Abs
1 GG) - durch einen fachkundigen Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen, schränkt die gleichberechtigte Teilhabemöglichkeit
von Menschen mit Behinderungen an dem gerichtlichen Verfahren im Vergleich zu Beteiligten ohne Behinderung nicht ein. Diese
Verpflichtung gilt für alle Verfahrensbeteiligten gleichermaßen und ist keine Zugangshürde speziell für behinderte Menschen.
Die Teilhabe an Verfahren vor dem BSG wird durch die Verpflichtung zur Beteiligung eines fachkundigen Prozessbevollmächtigten nicht in unzumutbarer Weise erschwert
(vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 13; zum Vertretungszwang vor dem BAG s auch BVerfG <Kammer> Beschluss vom 21.11.2018 - 1 BvR 1653/18 - juris RdNr 9). Der Vertretungszwang soll vielmehr sicherstellen, dass das Verfahren in dritter Instanz, das der Gesetzgeber zur ausschließlich
rechtlichen Überprüfung der vorinstanzlichen Entscheidungen in erster Linie im öffentlichen Interesse (Wahrung der Rechtseinheit
und Fortbildung des Rechts) eröffnet hat, von einer fachkundigen Person mit qualifizierten Kenntnissen des Rechts verantwortlich
geführt wird. Insbesondere in dem von strikten Revisionszulassungsgründen geprägten Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
(vgl §
160 Abs
2 Nr
1 bis
3 SGG sowie die ausdifferenzierten Erfordernisse zur formgerechten Bezeichnung dieser Gründe gemäß §
160a Abs
2 Satz 3
SGG) soll die Verpflichtung zur Vertretung durch einen fachkundigen Prozessbevollmächtigten - auch zum Schutz der Beteiligten
- bewirken, dass dieser die Rechtslage im Hinblick auf die Revisionszulassungsgründe genau durchdenkt, von aussichtslosen
Beschwerden absieht und andernfalls das gerichtliche Verfahren erleichtert, indem er klar darlegt, welcher Zulassungsgrund
aus welchen Gründen vorliegt (vgl BSG Beschluss vom 3.11.2010 - B 5 R 282/10 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 17.4.2019 - B 13 R 83/18 B - juris RdNr 20 mwN). Der Vertretungszwang soll damit auch einen Beitrag dazu leisten, dass die personellen Ressourcen der Justiz zur zeitnahen
Rechtsschutzgewährung effektiv eingesetzt werden können und nicht durch aussichtslose Verfahren blockiert werden (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 27.11.2018 - 1 BvR 957/18 - juris RdNr 7; BVerfG <Kammer> Beschluss vom 11.2.2019 - 1 BvR 3/19 - juris RdNr 3).
Finanziell bedingte oder sonstige Schwierigkeiten, einen fachkundigen Prozessbevollmächtigten für die Vertretung vor dem BSG zu finden, können über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§
73a SGG iVm §§
114 ff
ZPO) oder die Beiordnung eines Notanwalts (§
202 Satz 1
SGG iVm §
78b ZPO) ausgeglichen werden. Für geistig bzw psychisch behinderte Menschen, die nicht prozessfähig sind, kann vom Gericht ein besonderer
Vertreter bestellt werden (§
72 SGG - vgl BSG Beschluss vom 29.6.2020 - B 5 SF 9/20 S - juris RdNr 11). Mit Hilfe dieser verfahrensbezogenen Vorkehrungen des Prozessrechts ist auch für Menschen mit Behinderungen im Sinne des
Art 13 Abs 1 UN-BRK ein gleichberechtigter Zugang zu Gerichtsverfahren vor dem BSG wirksam sichergestellt. Die Gerichte können bei Anwendung dieser Regelungen der spezifischen Situation von Beteiligten mit
Behinderung angemessen Rechnung tragen (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 10.10.2014 - 1 BvR 856/13 - juris RdNr 6; s auch Loytved/Frerichs in Aichele, Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht, 2013, 121, 138).
Einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe oder auf Beiordnung eines Notanwalts hat der Kläger trotz entsprechender
Hinweise hier nicht gestellt. Dafür, dass bei ihm Prozessunfähigkeit vorliegen könnte, bestehen keine Anhaltspunkte (zur Prozessunfähigkeit vgl BSG Beschluss vom 17.7.2020 - B 1 KR 23/18 B - juris RdNr
5 f). Seine wegen Missachtung des Vertretungszwangs (§
73 Abs
4 SGG) nicht formgerechte Beschwerde muss somit gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 iVm §
169 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.