Anspruch auf Insolvenzgeld; Berücksichtigung von Kosten einer Zwangsvollstreckung als insolvenzfähiges Arbeitsentgelt
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Höhe des Anspruchs auf Insolvenzgeld (Insg).
Der Kläger erwirkte gegen seinen Arbeitgeber, bei dem er bis 15. Juni 2002 beschäftigt war, ein Schlussurteil des Arbeitsgerichts
Ludwigshafen am Rhein vom 17. Oktober 2002. Danach wurde der Arbeitgeber verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. April
bis zum 15. Juni 2002 eine Bruttovergütung in Höhe von insgesamt 9.906,28 Euro zu zahlen. Nach den vom Arbeitgeber erstellten
Lohnabrechnungen belief sich das daraus ergebende Nettogehalt des Klägers für diesen Zeitraum auf insgesamt 6.374,72 Euro.
Im Zuge der vom Kläger betriebenen Zwangsvollstreckung zahlte der Arbeitgeber im Jahr 2003 insgesamt 4.985,30 Euro. Nach Abzug
der Kosten der Zwangsvollstreckung in Höhe von 743,18 Euro erhielt der Kläger einen Betrag von 4.242,12 Euro.
Am 28. Januar 2004 wurde über das Vermögen des Arbeitgebers das Insolvenzverfahren eröffnet.
Der Kläger hatte am 22. Januar 2004 die Gewährung von Insg ab 1. April bis zum 15. Juni 2002 beantragt, wobei er als bereits
erhaltenes Arbeitsentgelt den Betrag von 4.242,12 Euro angegeben hatte. Die Beklagte bewilligte dem Kläger unter Anrechnung
der gezahlten 4.985,30 Euro Insg in Höhe von insgesamt 1.389,42 Euro. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Bescheide
vom 13. und 15. September 2004; Widerspruchsbescheid vom 24. November 2004).
Das Sozialgericht (SG) hat der auf Zahlung weiterer 743,18 Euro gerichteten Klage stattgegeben (Urteil vom 7. März 2006). Das Landessozialgericht
(LSG) hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, die
vom Kläger geltend gemachten Kosten des Zwangsvollstreckungsverfahrens stellten kein insolvenzgeldfähiges Arbeitsentgelt dar.
Dies folge aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). So habe das BSG bereits in Urteilen vom 28. Februar 1985
und 15. Dezember 1992 (10 RAr 19/83 = SozR 4100 § 141b Nr 35; 10 RAr 2/92 = SozR 3-4100 § 141b Nr 5) unter Geltung des Arbeitsförderungsgesetzes entschieden, dass sich das Konkursausfallgeld nicht
auf Nebenforderungen erstrecke. Dieser Rechtsprechung schließe sich das LSG an. Die Kosten der Zwangsvollstreckung gehörten
nicht zum Arbeitsentgelt iS der §§
183,
185 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III). Deshalb gehe der Hinweis des Klägers auf die sich aus §
367 Abs
1 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) ergebende Tilgungsreihenfolge fehl. Die zivilrechtliche Regelung führe nicht dazu, dass die Kosten der Zwangsvollstreckung
als Arbeitsentgelt und damit als Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis angesehen werden könnten. Das LSG sichere rückständige Arbeitsentgeltansprüche
für die letzten dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses. In Höhe der Kosten der Zwangsvollstreckung
von 743,18 Euro sei der Anspruch des Klägers auf rückständiges Arbeitsentgelt hingegen vom ehemaligen Arbeitgeber erfüllt
worden. Damit fehle es an einem offenen und durchsetzbaren Anspruch auf Arbeitsentgelt (Urteil vom 26. April 2007).
Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von §
367 Abs
1 BGB und §
788 Abs
1 Zivilprozessordnung (
ZPO). Entgegen der Auffassung des LSG gehe es nicht um die Frage, ob den Kosten der Zwangsvollstreckung Arbeitsentgeltcharakter
zukomme. Er fordere nicht die Erstreckung des Insg auf die Kosten der Zwangsvollstreckung. Diese seien vielmehr aufgrund der
Verrechnung mit den durch die Zwangsvollstreckung beigetriebenen Beträgen gemäß §
367 Abs
1 BGB nach §
362 BGB erloschen, und er mache lediglich den nicht erloschenen Teil des Arbeitsentgeltes geltend. Von den vom BSG bereits entschiedenen
Fällen unterscheide sich dieser Fall dadurch, dass die Kosten nicht während oder durch das Insolvenzverfahren, sondern bereits
vor Insolvenzantragstellung entstanden und durch Verrechnung längst erloschen seien.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2007 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das
Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 7. März 2006 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2007 zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, das LSG habe unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zutreffend entschieden.
§
367 Abs
1 BGB betreffe nur den Fall, dass ein Gläubiger eine Hauptforderung, Zinsen und Kosten schulde. Ein derartiger Fall liege jedoch
nicht vor, weil §
788 Abs
1 ZPO den Schuldner zur Kostentragung gegenüber dem vollstreckenden Staat verpflichte, so dass die Kosten der Zwangsvollstreckung
nicht zu Lasten des Klägers gingen.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§
170 Abs
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Der Kläger hat Anspruch auf weiteres Insg in Höhe von 743,18 Euro.
1. Arbeitnehmer haben nach §
183 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGB III in der Fassung des Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 10. Dezember 2001 (BGBl I 3443) Anspruch
auf Insg, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers
(Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Zutreffend
sind die Instanzgerichte zu dem Ergebnis gelangt, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Bewilligung von Insg für den Kläger
für seine noch nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt dem Grunde nach erfüllt sind und die Beklagte den Insg-Zeitraum
richtigerweise auf die Zeit vom 1. April bis 15. Juni 2002 erstreckt hat.
Nach §
183 Abs
1 Satz 3
SGB III gehören zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt alle Ansprüche auf Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis. Nach dem arbeitsgerichtlichen
Schlussurteil vom 17. Oktober 2002 standen dem Kläger gegen seinen Arbeitgeber für die Zeit vom 1. April bis zum 15. Juni
2002 Ansprüche auf Arbeitsentgelt in Höhe von insgesamt 9.906,28 Euro brutto zu.
Nach §
185 Abs
1 SGB III in der Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes (AFRG) vom 24. März 1997 (BGBl I 594) wird Insg in Höhe des "Nettoarbeitsentgelts" geleistet, das sich ergibt, wenn das Arbeitsentgelt
um die gesetzlichen Abzüge vermindert wird (zur Anwendbarkeit der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung vgl BSGE 98, 5 = SozR 4-4300 § 183 Nr 7, jeweils RdNr 14 ff). Nach den vom Arbeitgeber des Klägers erstellten Lohnabrechnungen belief sich
das aus einem Bruttoanspruch in Höhe von 9.906,28 Euro ermittelte Nettogehalt des Klägers für die Monate April bis Juni auf
insgesamt 6.374,72 Euro. Von diesem Nettolohnanspruch erlosch im Rahmen der vom Kläger betriebenen Zwangsvollstreckung ein
Betrag von 4.242,12 Euro durch Erfüllung (§
362 Abs
1 BGB). Damit blieben beim Kläger Ansprüche auf Arbeitsentgelt gegen seinen Arbeitgeber in Höhe von netto 2.132,60 Euro (6.374,72
Euro - 4.242,12 Euro) offen. Der Kläger erhielt durch die Bescheide der Beklagten vom 13. und 15. September 2004 bereits 1.389,42
Euro Insg, so dass ihm weiteres Insg in Höhe von 743,18 Euro (2.132,60 Euro - 1.389,42 Euro) zusteht.
Der Kläger erhielt zwar im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens gegen seinen Arbeitgeber nicht nur einen Betrag von 4.242,12
Euro, sondern insgesamt 4.985,30 Euro. Nach §
367 Abs
1 BGB wird jedoch, wenn ein Schuldner außer der Hauptleistung Zinsen und Kosten zu entrichten hat, eine zur Tilgung der ganzen
Schuld nicht ausreichende Leistung zunächst auf die Kosten, dann auf die Zinsen und zuletzt auf die Hauptleistung angerechnet.
Da §
367 Abs
1 BGB auch im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens Anwendung findet (Grüneberg in: Palandt,
BGB, 68. Aufl 2009, §
367 RdNr 1; Hüßtege in: Thomas/Putzo,
ZPO, 29. Aufl 2008, §
788 RdNr 13) und der vom Arbeitgeber geleistete Betrag von 4.985,30 Euro zur Tilgung der ganzen Schuld nicht ausgereicht hat,
war dieser Betrag - mangels anderweitiger Abrede (vgl Grüneberg in: Palandt, aaO, § 367 RdNr 2) - zunächst auf die Kosten
anzurechnen. Zu diesen Kosten zählen auch die Kosten der Zwangsvollstreckung (Wenzel in: Münchener Kommentar zum
BGB, 4. Aufl 2003, §
367 RdNr 5; Grüneberg in: Palandt, aaO, §
367 RdNr
4). Diese fallen nach §
788 Abs
1 Satz 1
ZPO, soweit sie notwendig waren, dem Schuldner zur Last; sie sind zugleich mit dem zur Zwangsvollstreckung stehenden Anspruch
beizutreiben. Entgegen der Annahme der Beklagten regelt §
788 ZPO nicht die Frage der Kostenschuld gegenüber dem Gerichtsvollzieher, sondern die Kostenpflicht im Verhältnis zwischen Gläubiger
und Schuldner (Hüßtege in: Thomas/Putzo, aaO, §
788 RdNr 1; Stöber in: Zöller,
ZPO, 27. Aufl 2009, § 788 RdNr 3). Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§
163 SGG) betrugen die Kosten für die vom Kläger betriebene Zwangsvollstreckung 743,18 Euro. Damit konnten Ansprüche des Klägers auf
Arbeitsentgelt nach §
362 Abs
1 BGB, wonach ein Schuldverhältnis erlischt, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird, nur in Höhe von 4.242,12
Euro (4.985,30 Euro - 743,18 Euro) und nicht in Höhe der Gesamtzahlung des Arbeitgebers von 4.985,30 Euro erlöschen.
Dies steht nicht im Widerspruch zu der vom LSG angeführten Rechtsprechung des BSG, wonach eine Erstreckung des Insg auf Nebenforderungen
(ua Kosten der gerichtlichen Geltendmachung des rückständigen Lohns) nicht gerechtfertigt ist, da sie nicht zu den "Bezügen
aus dem Arbeitsverhältnis" gehören, wie dies §
183 Abs
1 Satz 3
SGB III klarstellend fordert (vgl zu § 141b Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz [AFG] BSG SozR 4100 § 141b Nr 35; SozR 3-4100 § 141b Nr 5; ebenso Peters-Lange in Gagel,
SGB III, §
183 RdNr 95, Stand Mai 2007; Estelmann in: Eicher/Schlegel,
SGB III, §
183 RdNr 129, Stand Oktober 1999 und Krodel in: Niesel,
SGB III, 4. Aufl 2007, §
183 RdNr 80; unklar dagegen Hess in: GK-
SGB III, §
183 RdNr 92 einerseits und RdNr 168 andererseits, jeweils Stand August 2009). Denn im Unterschied zu den vom BSG zu § 141b Abs 2 AFG entschiedenen Fallgestaltungen ist der dem Kläger nach §
788 Abs
1 ZPO gegen seinen Arbeitgeber zustehende Anspruch auf Ersatz der ihm entstandenen Zwangsvollstreckungskosten bereits im Zwangsvollstreckungsverfahren
befriedigt worden und macht der Kläger nur noch seine dort noch nicht erfüllten Ansprüche aus der "Hauptforderung" auf Arbeitsentgelt
geltend. Dass der Kläger im Ergebnis seinen Lohnausfall und seine Zwangsvollstreckungskosten vollständig ersetzt bekommt,
ist im vorliegenden Fall die Folge seiner (teilweise) erfolgreichen Zwangsvollstreckung und der insoweit einschlägigen rechtlichen
Bestimmungen.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
193 SGG.