Gründe:
I. Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Krankengeld (Krg) wegen Kinderpflege für die Zeit vom 31.10. bis 1.11.2002
und vom 4. bis 6.11.2002.
Die Klägerin lebt mit ihrer 1998 geborenen nicht ehelichen Tochter Nele und einer weiteren 1988 geborenen Tochter in einem
gemeinsamen Haushalt. Die Klägerin ist ebenso wie Nele bei der beklagten Ersatzkasse gegen Krankheit versichert. Neles Vater
verließ Anfang 2002 den gemeinsamen Haushalt und lebt seitdem in einer neuen Partnerschaft. Er und die Klägerin behielten
das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter. Er ist beihilfeberechtigt und privat krankenversichert. Wegen einer Krankheit
Neles im Jahr 2002 gewährte die Beklagte der Klägerin zunächst für sieben Tage Krg. Auf ihren Antrag, weiteres Krg wegen Erkrankung
Neles vom 28.10. bis 1.11.2002 und vom 4. bis 6.11.2002 zu erhalten, bewilligte die Beklagte die Leistung für die Zeit vom
28. bis 30.10.2002, lehnte aber den Antrag im Übrigen ab: Der Anspruch sei mit der Gewährung von 10 Tagen Krg im Jahr erschöpft.
Nur wenn allein erziehende Versicherte das alleinige Sorgerecht hätten, erhöhe sich der Anspruch auf längstens 20 Tage (Bescheid
vom 10.12.2002; Widerspruchsbescheid vom 17.4.2003).
Klage beim Sozialgericht (SG, Urteil vom 13.10.2003) und Berufung beim Landessozialgericht (LSG) sind ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung
ua ausgeführt, die Klägerin sei nicht iS von §
45 Abs
2 SGB V allein erziehend, denn sie übe ihr Sorgerecht gemeinsam mit dem von ihr getrennt lebenden Kindsvater aus (Urteil vom 23.8.2006).
Zur Begründung ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des §
45 Abs
1 und
2 SGB V. Als allein erziehende Versicherte könne sie für längstens 20 Arbeitstage in jedem Kalenderjahr Krg beanspruchen. Maßgebend
sei, dass sie mit dem erkrankten Kind alleine ohne einen weiteren zur Pflege des Kindes fähigen Erwachsenen in häuslicher
Gemeinschaft lebe. Dass sie nicht allein, sondern gemeinsam mit Neles Vater das Personensorgerecht innehabe, sei unerheblich.
Es entspreche Sinn und Zweck der Norm, im Interesse des Kindeswohls eine angemessene Betreuung im Krankheitsfall zu ermöglichen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. August 2006 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13.
Oktober 2003 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
17. April 2003 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr weiteres Kinderpflegekrankengeld für die Zeit vom 31. Oktober
2002 bis zum 1. November 2002 und vom 4. November 2002 bis zum 6. November 2002 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§
124 Abs
2 SGG).
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben, die Bescheide der beklagten Ersatzkasse sind zu ändern. Zu Unrecht hat das LSG die Berufung gegen das SG-Urteil zurückgewiesen. Die Klägerin hat als allein erziehende Versicherte Anspruch auf Gewährung der geltend gemachten weiteren
fünf Tage Krg. Die Voraussetzungen des Anspruchs gemäß §
45 SGB V sind sowohl dem Grunde nach (dazu 1.) als auch dem Umfang nach (dazu 2.) erfüllt.
1. Nach §
45 Abs
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krg, wenn es nach ärztlichem Zeugnis erforderlich ist, dass sie zur Beaufsichtigung, Betreuung
oder Pflege ihres erkrankten und versicherten Kindes der Arbeit fernbleiben, eine andere in ihrem Haushalt lebende Person
das Kind nicht beaufsichtigen, betreuen oder pflegen kann und das Kind das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder
behindert und auf Hilfe angewiesen ist.
Zu Recht besteht zwischen den Beteiligten kein Streit darüber, dass nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG für die
Zeit vom 31.10. bis zum 1.11. sowie vom 4. bis 6.11.2002 die Voraussetzungen des §
45 Abs
1 SGB V für den Anspruch auf Krg erfüllt sind. In dieser Zeit war es nach ärztlichem Zeugnis erforderlich, dass die bei der Beklagten
versicherte Klägerin zur Beaufsichtigung, Betreuung und Pflege ihrer erkrankten und versicherten Tochter Nele der Arbeit fernblieb.
Nele hatte das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet und eine andere im Haushalt der Klägerin lebende Person konnte Nele
weder beaufsichtigen und betreuen noch pflegen.
2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen sind auch die Voraussetzungen des Krg-Anspruchs dem Umfang nach für die geltend
gemachten weiteren fünf Arbeitstage im Jahr 2002 erfüllt. Die Klägerin hatte Anspruch auf Krg für längstens 20 Arbeitstage.
Die Begrenzung des Krg-Umfangs auf zehn Arbeitstage je Kalenderjahr für die sonstigen Versicherten greift nicht ein. §
45 Abs
2 SGB V unterscheidet insoweit wie folgt: Anspruch auf Krg nach Absatz 1 besteht in jedem Kalenderjahr für jedes Kind längstens für
zehn Arbeitstage, für allein erziehende Versicherte längstens für 20 Arbeitstage. Der Anspruch nach Satz 1 besteht für Versicherte
für nicht mehr als 25 Arbeitstage, für allein erziehende Versicherte für nicht mehr als 50 Arbeitstage je Kalenderjahr.
Allein erziehend sind Versicherte, die als betroffener Elternteil faktisch alleinstehend sind, zusammen mit ihrem Kind in
einem Haushalt leben und denen für ihr Kind jedenfalls auch - sei es allein oder gemeinsam mit einer anderen Person - die
Personensorge zusteht. Das ergibt die Auslegung des §
45 Abs
2 Satz 1
SGB V nach Zweck (dazu a), Entstehungsgeschichte (dazu b), Systematik (dazu c) und Wortlaut (dazu d). Der Auslegung bedarf es,
da das
SGB V "allein erziehende Versicherte" nicht näher definiert wie etwa §
24b Einkommensteuergesetz (
EStG idF durch Art 3 Nr 3 Gesetz vom 21.7.2004, BGBl I 1753) für das
EStG. Die Klägerin war in diesem Sinne allein erziehende Versicherte (dazu e).
a) §
45 Abs
2 Satz 1
SGB V zielt darauf ab, im Interesse des Kindeswohles für den Krg-Anspruch wegen Kinderpflege alle Kinder unabhängig davon gleichzustellen,
ob sie mit beiden Eltern oder nur mit einem Elternteil zusammenleben (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des 5. Buches Sozialgesetzbuch - 2.
SGB V-ÄndG -, BT-Drucks 12/1363, S 7 zu Art 1 Nr 4 Buchst b). Das spricht gegen ein Verständnis des Begriffs "allein Erziehender", das von vornherein eine Benachteiligung
von Kindern bewirkt, die faktisch durch einen versicherten Elternteil allein erzogen werden, der sich mit dem anderen Elternteil
das Sorgerecht teilt.
b) Nichts anderes ergibt die Entstehungsgeschichte. §
45 Abs
2 Satz 1
SGB V ist durch Art 1 Nr
13 Buchst b 2.
SGB V-ÄndG (Gesetz vom 20.12.1991, BGBl I 2325) neu gefasst worden. Vor Inkrafttreten des 2.
SGB V-ÄndG belief sich der Krg-Anspruch einheitlich für alle Versicherte auf lediglich fünf Tage (vgl bereits § 185c
Reichsversicherungsordnung idF des Gesetzes vom 19.12.1973, BGBl I 1925; übernommen in § 45 Abs 2 Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen [Gesundheits-Reformgesetz - GRG] vom 20.12.1988, BGBl I 2477). Die Gesetzesmaterialien
zum 2.
SGB V-ÄndG (vgl BT-Drucks 12/1363, S 7 zu Art 1 Nr 4 Buchst b) gingen davon aus, als "Alleinerziehende" seien "alleinstehende Väter und Mütter anzusehen, die mit ihrem Kind,
für das ihnen die Personensorge zusteht, in einem Haushalt leben." Dass der alleinstehende Elternteil, in dessen Haushalt
das Kind lebt, alleiniger Sorgerechtsinhaber sein musste, war damit nicht gefordert. Denn zu dieser Zeit hatte bereits das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) §
1671 Abs
4 Satz 1
BGB (idF durch Art 1 Nr 20 Gesetz vom 18.7.1979, BGBl I 1061) wegen Unvereinbarkeit mit Art
6 Abs
2 Satz 1
GG für nichtig erklärt. Die Regelung hatte ein gemeinsames Sorgerecht geschiedener Ehegatten für ihre Kinder selbst dann ausgeschlossen,
wenn sie Willens und geeignet waren, die Elternverantwortung zum Wohle des Kindes weiterhin zusammen zu tragen (vgl BVerfGE
61, 358 ff, Leitsatz 1).
Der Bundesrat sprach sich in seiner Stellungnahme (BT-Drucks 12/1363 S 11 zu Art 1 Nr
4 Buchst b) dementsprechend für eine praxisgerechte Auslegung des §
45 Abs 2
SGB V aus, damit auch Alleinerziehende, die das Personensorgerecht nicht allein innehätten, in bestimmten Fällen das verlängerte
Krg nach § 45 Abs 2 in Anspruch nehmen könnten. Er wies darauf hin, in der Frage der Anspruchsberechtigung führe ein Abstellen
auf das alleinige Recht zur Personensorge nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen. So hätten Ehepartner, die getrennt lebten,
regelmäßig die gemeinsame Personensorge inne. In Bezug auf den Krankheitsfall der Kinder befinde sich tatsächlich jedoch der
Alleinerziehende, der lediglich getrennt von seinem Partner lebe, in derselben Lebenssituation wie derjenige, der bereits
geschieden sei (zu ergänzen: und dem das alleinige Sorgerecht übertragen sei). Beide hätten regelmäßig die Betreuung ihrer
Kinder allein durchzuführen.
Dem trat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung (BT-Drucks 12/1363 Anlage 3 S 16 zu Nr 7) nicht entgegen, sondern kündigte
an zu überlegen, ob eine Lösung gefunden werden könne, die besser geeignet sei, Härtefälle für faktisch Alleinerziehende zu
vermeiden. Damit befürwortete sie in der Sache die vom Bundesrat angeregte Auslegung. Im Ergebnis sah sie zu einer anderen
Gesetzesformulierung im weiteren Verfahren keinen Anlass, offensichtlich weil schon die später Gesetz gewordene Fassung hinreichenden
Auslegungsspielraum bietet, um der besonderen Situation faktisch Alleinerziehender Rechnung zu tragen.
c) Für ein solches Verständnis spricht auch die Gesamtrechtssystematik. Anders als etwa in § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Bundeserziehungsgeldgesetz (vom 6.12.1985, BGBl I 2154 idF der Bekanntmachung vom 9.2.2004, BGBl I 206) stellt §
45 Abs
2 Satz 1
SGB V gerade nicht ausdrücklich auf die Innehabung der Personensorge ab. Die durch Verweisung in §
45 Abs
1 Satz 2
SGB V einbezogene Erweiterung des Kreises der Kinder, deren Erkrankung zu einem Anspruch auf Kinder-Krg führen kann, verdeutlicht
ebenfalls, dass es nicht stets auf die alleinige Innehabung der Personensorge ankommen kann. §
45 Abs
1 Satz 2
SGB V bestimmt, dass §
10 Abs
4 SGB V gilt. Nach §
10 Abs
4 SGB V gelten als Kinder auch Stiefkinder und Enkel, die das Mitglied überwiegend unterhält, sowie Pflegekinder (§
56 Abs
2 Nr
2 SGB I). Das sind Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft
wie Kinder mit Eltern verbunden sind. Kinder, die mit dem Ziel der Annahme als Kind in die Obhut des Annehmenden aufgenommen
sind und für die die zur Annahme erforderliche Einwilligung der Eltern erteilt ist, gelten als Kinder des Annehmenden und
nicht mehr als Kinder der leiblichen Eltern. Stiefkinder im Sinne des Satzes 1 sind auch die Kinder des Lebenspartners eines
Mitglieds (Satz 3 angefügt durch Gesetz vom 16.2.2001, BGBl I 266).
Zwar dürfen die jeweiligen Begriffe "Kind" nicht miteinander vermischt werden (vgl dazu BSG SozR 3-2500 § 10 Nr 6 S 29 f).
Es genügt jedoch im Regelfall für eine hinreichende Kindschaftsstellung, die Anspruch auf Kinder-Krg begründet, dass sich
ein Kind in Übereinstimmung mit der Entscheidung der zur Personensorge berechtigten Versicherten bei einer Person aufhält,
die ihr tatsächlich überwiegend Unterhalt gewährt und mit der ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher
Gemeinschaft besteht, bei dem das Kind mit dem Pflegenden wie mit Eltern verbunden ist. Zudem darf ein entsprechendes Band
zu den Eltern nicht existieren. Dementsprechend hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Verhältnis von Kindschaft
und Pflegekindschaft nicht maßgeblich auf die Personensorge, sondern darauf abgestellt, ob ein Obhuts- und Pflegeverhältnis
zwar zwischen Pflegeeltern und Kind, nicht mehr aber zwischen Eltern und Kind besteht (vgl dazu BSG SozR 3-1200 § 56 Nr 2,
3 und 5 mwN).
d) Der Wortlaut "allein erziehende Versicherte" lässt es schließlich ebenfalls zu, für die Anspruchsberechtigung nicht auf
die alleinige Innehabung des Sorgerechts abzustellen, sondern auf das tatsächliche Alleinstehen bei der Erziehung. Insgesamt
genügt es danach dafür, um zu den "allein erziehenden Versicherten" zu gehören, Elternteil eines Kindes sowie faktisch alleinstehend
zu sein, zusammen mit ihm in einem Haushalt zu leben und für es gemeinsam mit einem anderen das Sorgerecht innezuhaben.
e) Die Klägerin war in diesem Sinne allein erziehende Versicherte. Sie lebte allein mit ihren beiden Töchtern in einem Haushalt.
Sie erzog sie faktisch allein, auch wenn sie die Personensorge für Nele gemeinsam mit deren Vater hatte. Der Vater lebte nicht
mit der Klägerin zusammen, sondern getrennt von ihr. Er ließ seine Tochter lediglich alle zwei Wochen das Wochenende bei sich
verbringen. Für ihn wäre bei Erkrankung seiner Tochter die Gewährung von Krg auch dann nicht in Betracht gekommen, wenn er
iS von §
45 SGB V versichert gewesen wäre.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.