Feststellung einer Berufskrankheit auf neuestem medizinischen Stand
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) Nr 2108 - bandscheibenbedingte Erkrankungen
der Lendenwirbelsäule (LWS) - nach der Anlage 1 der
Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) idF der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343).
Der am 15. Juli 1932 geborene Kläger war ab März 1947 in der Landwirtschaft beschäftigt, absolvierte ab Februar 1948 eine
Lehre als Stellmacher, anschließend war er als Bau- und Möbelschreiner sowie Zimmerer berufstätig. Vom Jahr 1956 bis zum Februar
1990 war er Offsetdrucker, danach war er zunächst arbeitsunfähig erkrankt und anschließend wurde ihm eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
gewährt. Aufgrund einer Anzeige über den Verdacht einer BK seines letzten Beschäftigungsunternehmens im Jahr 1994 holte die
Beklagte als zuständige Berufsgenossenschaft (BG) Auskünfte über seine körperlichen Belastungen bei der Arbeit ein und zog
medizinische Unterlagen bei. Nachdem der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten das Vorliegen der sog arbeitstechnischen
Voraussetzungen der BK Nr 2108 beim Kläger verneint hatte, lehnte die Beklagte die Anerkennung der BK beim Kläger ab (Bescheid
vom 9. Dezember 1994, Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 1995).
Das angerufene Sozialgericht Wiesbaden (SG) hat nach Darlegung seiner Hebe- und Tragebelastungen durch den Kläger, dem die Beklagte entgegen getreten ist, ein orthopädisches
Gutachten bei Dr. B. eingeholt und die Beklagte aufgrund dieses Gutachtens verurteilt, bei dem Kläger die BK Nr 2108 anzuerkennen
und ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 vH ab 30. März 1990 zu zahlen (Urteil
vom 22. April 1999). Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) zu den beruflichen Hebe- und Tragebelastungen
des Klägers mehrere Zeugen gehört, ein orthopädisches Gutachten bei Prof. Sch. , gegen das die Beklagte Einwände erhoben
hat, und ein arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten mit mehreren Zusatzgutachten bei Dr. Bo. gemäß §
109 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) eingeholt. Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 31. März 2004). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger
leide zwar an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS, ob er die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2108
erfülle, könne dahingestellt bleiben, weil die medizinische Voraussetzung der BK Nr 2108 nicht gegeben sei. Die Entstehung
einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS sei vielgestaltig und die beruflichen Einwirkungen seien nur eine unter vielen
denkbaren Ursachen, so dass immer eine individuelle Abwägung erforderlich sei. Dabei sei von folgenden Überlegungen auszugehen:
Der Ursachenzusammenhang zwischen beruflicher Belastung und Erkrankung müsse wahrscheinlich sein, die bloße Möglichkeit genüge
nicht. Wesentliche Kriterien für den Ursachenzusammenhang bei der BK Nr 2108 seien das Krankheitsbild, insbesondere ein belastungskonformes
Schadensbild, das Bestehen einer konstitutionellen Veranlagung bzw konkurrierender Erkrankungen, die Eignung der belastenden
Einwirkungen zur Verursachung der Krankheit, Begleitumstände wie Körperhaltung, Hilfsmittel, individuelle Konstitution, zeitliche
Korrelation zwischen Erkrankungsverlauf und beruflicher Belastung (Hinweis auf Mehrtens/Perlebach,
Berufskrankheiten-Verordnung, Loseblatt, M 2108 Anm 7; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, 1998, S 535 ff; Becker,
SGb 2000, 116 ff). Ein als belastungskonform zu bezeichnendes Schadensbild lasse ein dem Lebensalter vorauseilendes Auftreten osteochondrotischer
Reaktionen in den unteren LWS-Segmenten und spondylotischer Reaktionen an den oberen LWS-Segmenten evtl unter Einbeziehung
der unteren Brustwirbelsäule (BWS) erwarten (Hinweis auf die eigene Rechtsprechung des LSG). Verschleißerscheinungen an der
gesamten Wirbelsäule wiesen auf eine konstitutionelle Veranlagung hin. Die Berücksichtigung dieser Grundsätze spreche gegen
eine berufliche Verursachung der LWS-Erkrankung des Klägers: Er sei in allen drei Wirbelsäulenabschnitten erkrankt, die schwersten
Veränderungen beträfen aber die BWS und nicht die LWS. In Anbetracht dessen könne aufgrund des Hamburger Konsenses eine wesentliche
berufliche Verursachung gerade der LWS-Erkrankung nicht begründet werden. Die Erkrankung habe bereits im Jahre 1956 begonnen,
seit dem Jahr 1960 sei der Kläger in ständiger ärztlicher Behandlung gewesen und der Bandscheibenvorfall L4/5 sei erst mehr
als vier Jahre nach Berufsaufgabe festgestellt worden. Den Gutachten von Dr. B. und Prof. Sch. könne nicht gefolgt
werden, eine weitere Sachaufklärung sei im Hinblick auf das umfangreiche Gutachten von Dr. Bo. nicht erforderlich,
zumal dessen Ergebnis durch die Stellungnahmen der Beratungsärzte der Beklagten bestätigt werde.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht ua geltend, das LSG habe den Ursachenzusammenhang
zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und seiner LWS-Erkrankung zu Unrecht unter Berufung auf den Hamburger Konsens verneint.
Soweit das LSG eine herrschende Lehre anführe, enthalte sein Urteil keine Hinweise auf entsprechende medizinische Erkenntnisquellen
oder seine besondere Sachkunde. Das LSG habe die Prüfung des Ursachenzusammenhangs nicht nachvollziehbar dargelegt und begründet,
zumal eine wesentliche Mitverursachung seiner LWS-Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen genüge. Es gebe kein gesichertes
Schadensbild als Ausschlusskriterium. Durch die Gutachten von Dr. B. und Prof. Sch. werde die Annahme des Ursachenzusammenhangs
gestützt. Dr. Bo. habe bei seinen Überlegungen zum Mainz-Dortmunder-Dosismodell erhebliche Belastungen des
Klägers nicht berücksichtigt. Er - der Kläger - habe keine Gelegenheit gehabt, sich mit dem Hamburger Konsens auseinander
zu setzen und das LSG habe damit seine Rechte aus Art
103 des Grundgesetzes (
GG) verletzt. Das LSG habe auch §
103 SGG verletzt, indem es den zeitlichen Verlauf seiner Erkrankung nicht aufgeklärt habe. Die Annahme des LSG, er sei ab dem Jahr
1960 in ständiger ärztlicher Behandlung wegen Rückenbeschwerden gewesen, sei unzutreffend und nicht belegt. Im Übrigen habe
er seit dem Jahr 1947 rückenbelastende Tätigkeiten ausgeübt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 31. März 2004 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil
des Sozialgerichts Wiesbaden vom 22. April 1999 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung begründet. Denn nach den derzeitigen Feststellungen des LSG kann nicht beurteilt werden, ob bei dem Kläger
die BK Nr 2108 anzuerkennen und ihm aufgrund dieser von der Beklagten eine Verletztenrente zu gewähren ist.
Der vom Kläger verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (
RVO), weil die geltend gemachte BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten sein soll (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, §
212 SGB VII). Nach § 547
RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Leistungen,
insbesondere beim Vorliegen einer MdE um wenigstens 20 vH Verletztenrente in der dem Grad der Erwerbsminderung entsprechenden
Höhe (§ 581 Abs 1 Nr 2
RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs 1 Satz 1
RVO auch eine BK. BKen sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet
und die ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 550
RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs 1 Satz 2
RVO). Als eine solche BK ist in der BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) idF der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343) unter der Nr 2108 bezeichnet:
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit
in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung
oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK Nr 2108 müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Der Versicherte muss aufgrund
seiner versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben oder getragen oder in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben
(versicherte Einwirkung), er muss an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leiden (vgl dazu BSG vom 31. Mai 2005
- B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2), diese Erkrankung muss durch die versicherten Einwirkungen verursacht worden sein und den
Versicherten zum Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeit gezwungen haben.
Dass der Kläger an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leidet, ergibt sich aus den von keinem Beteiligten angegriffenen
und daher für den Senat bindenden (§
163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG und deren Subsumtion unter die BK-Bezeichnung, gegen die keine rechtlichen Bedenken
erhoben wurden oder zu erkennen sind. Ob und inwieweit der Kläger Einwirkungen im Sinne der BK Nr 2108 durch seine versicherte
Tätigkeit ausgesetzt war, hat das LSG dahingestellt gelassen, weil die "medizinische Voraussetzung" - womit der Ursachenzusammenhang
zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung gemeint war - zu verneinen sei. Gegen diese letzte Beurteilung wendet sich die
Revision des Klägers nach den derzeitigen Feststellungen des LSG zu Recht.
Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankungen im Berufskrankheitenrecht gilt, wie auch sonst in der
gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung, die der Senat in den Entscheidungen vom 9. Mai 2006
(- B 2 U 1/05 R - vorgesehen für BSGE und SozR sowie - B 2 U 26/04 R - mwN) zusammengefasst dargestellt hat. Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische
Bedingungstheorie, nach der Ursache eines Erfolges jedes Ereignis ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der
Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der Bedingungstheorie werden im Sozialrecht als rechtserheblich
aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt
haben. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige,
sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange
die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer
Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache bzw das Ereignis als solches, also Art und Ausmaß der Einwirkung, konkurrierende
Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens und Rückschlüsse aus dem
Verhalten des Verletzten nach den Einwirkungen, Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte sowie die gesamte Krankengeschichte.
Trotz dieser Ausrichtung am individuellen Versicherten sind der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall der aktuelle
wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Ereignissen und Gesundheitsschäden zugrunde zu legen.
Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang nach der Theorie der wesentlichen Bedingung positiv festgestellt
werden muss und hierfür hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt, nicht jedoch die bloße Möglichkeit.
Abweichend von einem Arbeitsunfall mit seinem zeitlich begrenzten Ereignis, das oftmals relativ eindeutig die allein wesentliche
Ursache für einen als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsschaden ist, ist die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs
bei BKen und insbesondere der BK Nr 2108 in der Regel schwieriger. Denn angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten
Erkrankungen (vgl schon BR-Drucks 773/92, S 8; im Übrigen nur Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
7. Auflage 2003, Kapitel 8.3.5.5.4.1, S 577), der Dauer der zu berücksichtigenden Zeiträume und des Fehlens eines eindeutig
abgrenzbaren Krankheitsbildes, das für Belastungen durch Heben und Tragen oder Arbeit in Rumpfbeugehaltung typisch ist (vgl
Konsensempfehlung von Bolm-Audorff ua in der Zeitschrift Trauma und Berufskrankheit 3 >2005<, 211, 212), stellt sich letztlich
entscheidend nur die Frage nach einer wesentlichen Mitverursachung der LWS-Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen.
Aus diesen Gründen ist auch der vom LSG erörterte §
9 Abs
3 SGB VII, unabhängig von seinem Inkrafttreten erst am 1. Januar 1997, bei der BK Nr 2108 nach heutigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand
nicht anwendbar (vgl schon Urteil des Senats vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - SGb 1999, 39 mit zustimmender Anmerkung von Ricke).
Nicht zu beanstanden ist, dass das LSG für die Ursachenbeurteilung eine Gesamtbetrachtung angestellt hat und in Übereinstimmung
mit den zum Entscheidungszeitpunkt existierenden Standardwerken von Mehrtens/Perlebach (
Berufskrankheiten-Verordnung, Loseblatt, M 2108 Anm 7) und Schönberger/ Mehrtens/ Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, 1998, S 535
ff) sowie der Veröffentlichung von Becker (SGb 2000, 116 ff) entsprechend den obigen allgemeinen Ausführungen für die Ursachenbeurteilung folgende Kriterien zugrunde gelegt hat:
Die belastenden Einwirkungen, das Krankheitsbild, insbesondere ob ein altersuntypischer Befund und ein belastungskonformes
Schadensbild vorliegen, eine zeitliche Korrelation zwischen den Einwirkungen und dem Erkrankungsverlauf, das Vorliegen von
konkurrierenden Ursachen wie zB Schadensanlagen. Dies entspricht auch der zwischenzeitlich veröffentlichten Konsensempfehlung
von Bolm-Audorff ua (Trauma und Berufskrankheit 3 (2005), 211, 216 ff, 228 ff).
Das LSG hat einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen den beruflichen Belastungen des Klägers und der Entwicklung
seiner Wirbelsäulenerkrankung deshalb als unwahrscheinlich angesehen, weil ein belastungskonformes Schadensbild in Gestalt
vorzeitiger osteochondrotischer Reaktionen in den unteren und spondylotischer Reaktionen an den oberen Segmenten der LWS fehle
und Verschleißerscheinungen an der gesamten Wirbelsäule, wie sie beim Kläger vorlägen, auf eine konstitutionelle Veranlagung
hinwiesen. Darüber hinaus spreche der zeitliche Verlauf der Krankheit und das Auftreten des Bandscheibenvorfalls erst mehrere
Jahre nach der Berufsaufgabe gegen eine berufliche Verursachung.
Die Frage, ob es ein belastungskonformes Schadensbild gibt, aus dessen Vorhandensein auf die Mitursächlichkeit körperlicher
Belastungen für die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS und aus dessen Fehlen umgekehrt auf eine anderweitige
Verursachung geschlossen werden kann, ebenso die weitere Frage, ob für die Annahme eines Ursachenzusammenhangs eine bestimmte
zeitliche Korrelation zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Krankheitsverlauf zu fordern ist, zielen auf die Existenz
entsprechender medizinischer Erfahrungssätze. Ob solche Erfahrungssätze existieren, ist unter Zuhilfenahme medizinischer,
naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand
zu beantworten (allgemein dazu: Senatsurteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch BSG SozR 3850 § 51 Nr 9; BSG SozR 1500 § 128 Nr 31 = SGb 1988, 506 mit Anm K. Müller; BSG SozR 3-3850 § 52 Nr 1; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005,
Kap III RdNr 47, 57; Rauschelbach, MedSach 2001, 97; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.
Aufl 2003, Kap 2.3.4.3, S 146). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen
Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt
werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht.
Das Gericht, das die Existenz einschlägiger Erfahrungssätze festzustellen hat, muss sich Klarheit darüber verschaffen, welches
in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Dazu können einschlägige Publikationen,
beispielsweise die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums und die wissenschaftliche Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirats,
Sektion Berufskrankheiten, zu der betreffenden BK oder Konsensusempfehlungen der mit der Fragestellung befassten Fachmediziner
herangezogen werden, sofern sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden. Fehlen
solche Zusammenstellungen oder sind sie veraltet, bedarf es entsprechender Ermittlungen. Da Gerichte regelmäßig nicht selbst
über den notwendigen medizinischen und technischen Sachverstand verfügen, um den Stand der fachlichen Diskussion zuverlässig
nachzeichnen und bewerten zu können, muss in solchen Fällen ein Sachverständiger gehört werden.
Die Ausführungen des LSG zum Fehlen eines belastungskonformen Schadensbildes werden den aufgezeigten Voraussetzungen zur Feststellung
des der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zugrunde zulegenden wissenschaftlichen Erkenntnisstandes nicht gerecht. Das
LSG hat für ein als belastungskonform zu bezeichnendes Schadensbild ein dem Lebensalter vorauseilendes Auftreten osteochondrotischer
Reaktionen in den unteren LWS-Segmenten und spondylotischer Reaktionen an den oberen LWS-Segmenten evtl unter Einbeziehung
der unteren BWS gefordert, ohne dies mit entsprechender medizinisch-wissenschaftlicher Fachliteratur - ggf unter Hinweis auf
die ihm vorliegenden ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen - zu belegen. Durch eine Bezugnahme des LSG auf seine eigene
"ständige Rechtsprechung" kann dies nicht ausgeglichen werden, denn eine ständige Rechtsprechung ersetzt keine medizinisch-wissenschaftliche
Begründung. Im Übrigen sind die angeführten Entscheidungen des Hessischen LSG vom 24. Oktober 2001 - L 3 U 408/98 - und vom 24. April 2002 - L 3 U 395/00 - soweit ersichtlich - nicht veröffentlicht und auch nicht über juristische Informationssysteme wie Juris, Beck-Online, Sozialgerichtsbarkeit.de
zu finden, so dass eine Nachprüfung der in ihnen vertretenen wissenschaftlichen Auffassung nicht möglich ist. Aus der zum
Zeitpunkt der Entscheidung des LSG am 31. März 2004 längst erschienen 7. Auflage von Schönberger/Mehrtens/Valentin aus dem
Jahre 2003 (Kapitel 8.3.5.5.4.3, S 579 f) wird hingegen deutlich, dass die Forderung des LSG nach einem Schadensbild mit osteochondrotischen
Reaktionen in den unteren LWS-Segmenten und spondylotischer Reaktionen an den oberen LWS-Segmenten - den sog belastungsadaptiven
Reaktionen - nicht dem damaligen (allgemeinen) wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprach, weil dieses Krankheitsbild als
"weitergehende Forderung" bezeichnet wird, die "zum Teil" erhoben werde. Diese Auffassung ist es auch heute nicht, wie der
schon angeführten Konsensempfehlung zu entnehmen ist (aaO S 212 f).
Soweit das LSG seine Entscheidung außerdem auf den von ihm angeführten und wiederum nicht mit Zitaten aus der wissenschaftlichen
Literatur näher belegten "Hamburger Konsens" stützt, gilt nichts anderes. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder welchen
medizinischen Erfahrungssatz das LSG damit gemeint haben könnte, ist unklar: In der wissenschaftlichen Literatur zur BK Nr
2108 wird der Begriff - soweit ersichtlich - nur einmal von Schröter (Trauma und Berufskrankheit 1 >2002<, 127, 128) unter
Hinweis auf eine Veröffentlichung von Wolter/ Seide/Grosser (Kriterien zur Beurteilung berufsbedingter Lendenwirbelsäulenerkrankungen
>BK 2108<, Hamburg 1994), in der der Begriff selbst nicht verwandt wird, gebraucht, um Lösungsansätze zur Beurteilung des
Ursachenzusammenhanges bei der BK Nr 2108 in der Vergangenheit - aus Sicht des Jahres 2002 - darzustellen. Sollte mit der
vom LSG als "Hamburger Konsens" bezeichneten Auffassung die von Hansis wiederholt (vgl BG 1995, 433 sowie Unfallchirurg 1998,
799) unter der Bezeichnung "Hamburger Formel" vertretene Entscheidungsweg gemeint sein, so ist der Begründungszusammenhang
im Urteil des LSG nicht nachvollziehbar. Denn das LSG leitet aus seinen Feststellungen zu einer polysegmentalen Verteilung
der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers unmittelbar ab, dass damit nach dem "Hamburger Konsens" eine wesentliche berufliche
Verursachung nicht begründet werden könne, während nach der "Hamburger Formel" von Hansis ein dreischrittiger Entscheidungsweg
(Unfallchirurg 1998, 799, 800) empfohlen wird. Schon aufgrund dieser Unklarheit und der mangelnden Darlegung der wissenschaftlichen
Begründung kann die Auffassung des LSG nicht als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand einer Gerichtsentscheidung zugrunde
gelegt werden.
Aufgrund dieser Umstände ist die vom Kläger insofern erhobene Rüge der Verletzung seines rechtlichen Gehörs nach Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG ebenfalls begründet, weil das LSG mit der Anwendung des "Hamburger Konsenses" seiner Entscheidung einen von ihm angenommenen
Erfahrungssatz zugrunde gelegt hat, ohne diesen vorher den Beteiligten zur Kenntnis gebracht zu haben (vgl nur BSG vom 5.
März 2002 - B 2 U 27/01 R -).
Gegen das vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegte weitere Kriterium des zeitlichen Verlaufs der Erkrankung, insbesondere
im Vergleich zur Belastung durch die versicherten Einwirkungen, bestehen keine derart grundsätzlichen Bedenken, da dieses
Kriterium den angeführten Standardwerken und der Konsensempfehlung entspricht (vgl nur letztere aaO S 216). Logische Voraussetzung
für die Verwendung dieses Kriteriums ist jedoch, dass die versicherten Einwirkungen festgestellt werden oder von einem bestimmten
Ausmaß ihrerseits ausgegangen wird. Dies hat das LSG jedoch nicht getan, es hat es vielmehr dahingestellt gelassen, ob die
von ihm so bezeichnete arbeitstechnische Voraussetzung erfüllt ist. Angesichts dessen ist es nicht nachvollziehbar, wie das
LSG aus der zeitlichen Entwicklung der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers Gründe gegen die berufliche Verursachung der Krankheit
ableiten will. Im Übrigen war der am 15. Juli 1932 geborene Kläger zu dem vom LSG angenommen Beginn seiner LWS-Erkrankung
im Jahr 1956 ausweislich des vom LSG zumindest allgemein festgestellten Berufswegs schon knapp zehn Jahre verschiedenen ggf
lendenwirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten nachgegangen, weil er bereits im jugendlichen Alter zunächst ab März 1947 in der
Landwirtschaft beschäftigt war, dann ab Februar 1948 eine Lehre als Stellmacher absolvierte und anschließend als Bau- und
Möbelschreiner sowie Zimmerer berufstätig war (vgl zum zeitlichen Umfang der LWS-gefährdenden Beschäftigung vor dem ersten
Auftreten von Beschwerden: BSG vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R -). Außerdem fehlen hinsichtlich der vom LSG angeführten ersten Rückenbeschwerden des Klägers in dem Jahre 1956 jegliche
weitere Feststellungen hinsichtlich der Art der Beschwerden und ihrer Ausprägung.
Da das BSG die für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs notwendigen Feststellungen zu den Umständen des Einzelfalls nicht
selbst nachholen kann, hat der Senat das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das LSG zurückverwiesen (§
170 Abs
2 SGG). Das LSG wird auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu ermitteln haben, ob die bandscheibenbedingte
Erkrankung der LWS des Klägers durch dessen versicherte Einwirkungen im Laufe seines Berufslebens nach der Theorie der wesentlichen
Bedingung verursacht wurde. Auf Feststellungen hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der versicherten Hebe- und Tragebelastungen
wird das LSG nur verzichten können, wenn die Entscheidung über die Verursachung der LWS-Erkrankung auch ohne die auf den Einwirkungen
beruhenden Kriterien möglich ist oder es wird bei der Klageabweisung den entsprechenden Vortrag des Klägers bzw bei einer
Klagestattgabe den entsprechenden Vortrag des Beklagten als wahr zu unterstellen haben.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.