Anspruch auf Anerkennung einer Berufskrankheit in der gesetzlichen Unfallversicherung nach Nr. 4111 BKV für einen Gesteinshauer im Schachtbetrieb; Umfang der Feinstaubbelastung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger eine Berufskrankheit (BK) nach Nr 4111 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV) (im Folgenden: BK 4111) festzustellen ist.
Der am 8.10.1938 geborene Kläger war seit 1953 als Berglehrling und dabei seit 1.11.1954 unter Tage beschäftigt. Von Januar
1957 bis 1963 arbeitete er überwiegend als Hauer im - Steinkohlebergbau unter Tage. Danach war er bis Februar 1964 mit Kanalisationsarbeiten
beschäftigt. In der Zeit von März 1964 bis März 1967 arbeitete der Kläger bei der Firma D. GmbH als Gesteinshauer im Schachtbetrieb
(Abteufen und Streckenvortrieb). Nach anschließender Arbeitslosigkeit war er von Juli 1968 bis Juni 1993 bei einer anderen
Firma an Drehautomaten beschäftigt. Seit Oktober 1993 ist der Kläger Rentner.
Der Kläger machte im April 2004 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten geltend, dass er während seiner beruflichen Tätigkeit
in großem Umfang Schadstoffen ausgesetzt gewesen sei. Diese hätten bei ihm als Nichtraucher eine Atemwegserkrankung hervorgerufen,
die bei einer möglichen Exposition von mehr als 100 Staubjahren bei Bergleuten unter Tage als BK anzuerkennen und zu entschädigen
sei. Die Beklagte holte Befundberichte ein sowie Schichtenbuchauszüge über die Tätigkeiten und Einsatzorte des Klägers bei
den S. Bergwerken. Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) stellte hierzu in seiner Stellungnahme vom 30.11.2004
fest, aufgrund der gemessenen, personenbezogenen Staubwerte bzw der Würdigung der Verhältnisse im Steinkohlebergbau habe der
Kläger während seiner Beschäftigungszeit eine kumulative Feinstaubdosis von 86 Staubjahren erreicht. Er ging dabei zur Ermittlung
der Staubbelastung von den ungünstigsten Arbeitsbedingungen (sog worst-case-Betrachtung) aus.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28.2.2005 gestützt auf die Feststellungen des TAD die Anerkennung einer BK 4111 sowie
die Gewährung einer entsprechenden Entschädigung ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17.6.2005).
Das SG hat durch Gerichtsbescheid vom 5.4.2006 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass eine BK 4111 nur bei Nachweis
der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren anerkannt werden könne. Nach den Ermittlungen
des TAD sei aber lediglich von einer Feinstaubdosis von 86 Feinstaubjahren während der beruflichen Tätigkeit des Klägers auszugehen.
Mit seiner Berufung zum LSG hat der Kläger ua vorgetragen, hinsichtlich der Berechnung der kumulativen Feinstaubdosis durch
den TAD bestünden erhebliche Bedenken, da er während seiner Tätigkeit im Schachtbau von 1964 bis 1967 einer hohen Menge an
Feinstaub ausgesetzt gewesen sei. Das LSG hat durch Einholung einer Auskunft des damaligen Arbeitgebers sowie einer Zeugenvernehmung
Beweis erhoben zur Ermittlung der arbeitstechnischen Umstände der Beschäftigung des Klägers im Schachtbau. Nach Einholung
weiterer Gutachten hat das LSG sodann durch Urteil vom 11.11.2010 die Berufung zurückgewiesen.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen zur Anerkennung der BK 4111 seien nicht erfüllt.
Denn zur Überzeugung des Senats sei das Vorliegen der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren
(arbeitstechnische Voraussetzungen) nicht nachgewiesen. Dieser Regelwert werde im Falle des Klägers deutlich unterschritten.
Der TAD der Beklagten habe ausgehend von ungünstigsten Arbeitsbedingungen eine kumulative Feinstaubdosis von 86 Staubjahren
ermittelt. Es lägen jedoch keine hinreichenden Gründe dafür vor, den so ermittelten Feinstaubdosiswert von 86 Feinstaubjahren
zur Erfüllung der vorgenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen genügen zu lassen. Zwar ergebe sich aus der Formulierung
"in der Regel 100 Feinstaubjahren", dass Ausnahmen von dem Grenzwert zulässig seien. Durch die Formulierung "in der Regel"
werde ein Regel-Ausnahmeverhältnis begründet, wonach bei typischen Sachverhalten der Nachweis der als Regel festgelegten Dosis
gefordert werde und lediglich im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände eine Abweichung in Betracht komme. Zwar habe
der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen zu der Gruppe der Nieraucher gehört. Dieser Umstand führe aber nicht dazu, dass
bei ihm bereits aufgrund der nach der worst-case-Betrachtung des TAD nachgewiesenen 86 Feinstaubjahren die arbeitstechnischen
Voraussetzungen der BK 4111 in Abweichung vom Regelwert zu bejahen seien. Zwar habe auch der Ärztliche Sachverständigenbeirat
"Berufskrankheiten" in einer zusätzlichen Bekanntmachung vom 1.10.2006 zur Anwendung der BK 4111 darauf hingewiesen, dass
bei Nierauchern ein unterer Grenzwert für das Erkrankungsrisiko von 86 Feinstaubjahren zu gelten habe. Dieser Hinweis vermöge
aber den Inhalt der Legaldefinition der BK 4111 nicht zu verändern. Bei Aufnahme der BK 4111 im Jahre 1997 sei eine solche
Differenzierung bei den Grenzwerten zwischen Rauchern und Nierauchern gerade nicht vorgenommen worden. Vielmehr habe der Verordnungsgeber
im Jahre 1997 die Formulierung "in der Regel 100 Feinstaubjahren" bewusst in die
BKV aufgenommen und habe diese Formulierung bislang nicht geändert. Des Weiteren sei bereits in der Begründung der Verordnung
im Jahre 1995 ua auf die Studie von Jacobsen verwiesen worden, auf die der Sachverständigenbeirat im Jahre 2006 nunmehr zur
Begründung seiner neueren Empfehlung zur Differenzierung zwischen Rauchern und Nierauchern besonderen Bezug nehme. Der Senat
folge vielmehr dem LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 13.5.2004 - L 2 KN 95/03 U), das unter Berücksichtigung der Motive des Verordnungsgebers grundsätzlich nur in einem Schwankungsbereich von 5 vH um
die geforderten 100 Feinstaubjahre Abweichungen von der geforderten Exposition zulasse. Mithin sei im Ausnahmefall lediglich
eine Abweichung von maximal 5 vH vom Regelwert auf 95 Feinstaubjahre möglich, jedoch seien mit 86 Feinstaubjahren die arbeitstechnischen
Voraussetzungen der BK 4111 keinesfalls erfüllt.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt eine Verletzung des §
9 SGB VII. Zur Begründung beruft er sich im Wesentlichen auf die Stellungnahme des Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" vom
1.10.2006. Hiernach sei das Tatbestandsmerkmal "in der Regel" so auszulegen, dass bei Nierauchern von einem Grenzwert von
86 Feinstaubjahren auszugehen sei. Diesen Wert erreiche er nach den Berechnungen des TAD, sodass er damit alle Tatbestandsvoraussetzungen
für die Anerkennung der BK 4111 erfülle.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11.11.2010 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland
vom 5.4.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28.2.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.6.2005 aufzuheben
und festzustellen, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach Nr 4111 der Anlage 1 zur
BKV vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich auf das angefochtene Urteil. Im Übrigen habe die tatsächliche bzw die nachgewiesene Belastungsdosis des Klägers
bei höchstens 64,2 Feinstaubjahren gelegen. Dies sei aus den späteren TAD-Stellungnahmen vor dem LSG deutlich geworden. Insoweit
werde die Auffassung des LSG ausdrücklich gerügt, wonach beim Kläger ein kumulativer Feinstaubdosiswert von 86 Feinstaubjahren
festgestellt worden sei. Es sei bereits im Laufe des Berufungsverfahrens wiederholt dargelegt worden, dass erhebliche Zweifel
an der korrekten Höhe dieses Wertes bestünden, weil es sich um eine theoretische worst-case-Berechnung gehandelt habe. Die
Annahme einer Feinstaubbelastung von 86 Jahren bei dem Kläger sei in höchstem Maße unrealistisch.
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dasselbe Gericht
begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG). Das LSG ist unzutreffend davon ausgegangen, dass der Begriff "in der Regel 100 Feinstaubjahren" in der Definition der BK
4111 so auszulegen ist, dass lediglich Werte in einem Schwankungsbereich von 5 vH (also bis zu 95 Feinstaubjahren) zur Erfüllung
der Tatbestandsvoraussetzung führen. Die Norm verweist durch ihre Normformulierung vielmehr auf medizinische Erfahrungssätze,
deren aktuellen Inhalt das LSG noch zu ermitteln haben wird. Dem Senat ist es daher nicht möglich, endgültig darüber zu entscheiden,
ob bei dem Kläger eine BK 4111 vorliegt, zumal auch die Erkrankungen des Klägers nicht festgestellt sind und auch der vom
LSG ermittelte Wert einer Einwirkung auf den Kläger mit 86 Feinstaubjahren auf einem unzutreffenden rechtlichen Ansatz (worst-case-Berechnung)
beruht.
Nachdem der Kläger die Revision zurückgenommen hat, soweit er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Verletztenrente
begehrte, ist Gegenstand des Revisionsverfahrens insoweit nur noch eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß
§
54 Abs
1 Satz 1 iVm §
55 Abs
1 Nr
1 SGG, mit der unter Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten die gerichtliche Feststellung begehrt wird, dass die Erkrankungen
des Klägers eine BK 4111 darstellen. Ein Versicherter, dem gegenüber ein Träger der gesetzlichen Unfallversicherung durch
Verwaltungsakt entschieden hat, dass eine bestimmte BK nicht gegeben ist, kann deren Vorliegen als Grundlage infrage kommender
Leistungsansprüche vorab im Wege einer Kombination von Anfechtungs- und Feststellungsklage klären lassen (vgl BSG vom 2.4.2009
- B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4
BKV, RdNr 11 mwN).
Der Senat kann jedoch aufgrund der Feststellungen des LSG nicht abschließend darüber befinden, ob die kombinierte Anfechtungs-
und Feststellungsklage begründet ist.
Nach §
9 Abs
1 SGB VII sind BK'en Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als BK'en bezeichnet
(Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (Satz 1). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten
als BK'en zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht
sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung
ausgesetzt sind; sie kann BK'en auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung einer gefährdenden
Tätigkeit versehen (Satz 2). Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer ListenBK danach im
Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen
von Belastungen, Schadstoffen oä auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht
haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich
zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit",
die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
- vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende
Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 30/07 R - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4
BKV, RdNr 16 mwN und B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 §
9 Nr 14
BKV, RdNr 9 mwN).
Der Verordnungsgeber hat die hier streitige BK 4111 wie folgt bezeichnet: "Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem
von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Feinstaubdosis von in der Regel
100 Feinstaubjahren [(mg/m³) x Jahre]".
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG kann bereits nicht entschieden werden, inwiefern bei dem Kläger überhaupt eine
"Krankheit" im Sinne dieses Tatbestands iVm §
9 Abs
1 SGB VII vorliegt. Weder die angefochtenen Bescheide noch das angefochtene Urteil enthalten bindende Feststellungen dazu, welche Krankheitsbilder
bei dem Kläger vorliegen. Auf Blatt 6 f des angefochtenen Urteils wird lediglich mitgeteilt, dass bei dem Kläger nach den
gutachtlichen Ausführungen von Prof. Dr. S. eine chronische obstruktive Bronchitis Grad I nach den GOLD-Leitlinien 2001/2007
gegeben sei. Der Senat am LSG lässt allerdings nicht erkennen, inwieweit er sich diese im Konjunktiv wiedergegebenen ärztlichen
Befunde zu eigen macht bzw als festgestellt betrachten will, was er freilich von seiner Rechtsansicht her auch nicht musste.
Nach der Zurückverweisung wird das LSG daher ggf zunächst den genauen Krankheitszustand des Klägers zu ermitteln und festzustellen
haben.
Der Senat geht weiterhin davon aus, dass sich den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht abschließend und rechtlich
zweifelsfrei entnehmen lässt, welcher Feinstaubdosis der Kläger ausgesetzt war. Das LSG hat in seinem Urteil mehrfach darauf
hingewiesen, dass die kumulative Feinstaubdosis von 86 Staubjahren aus einer sog worst-case-Betrachtung resultiere. Die Beklagte
hat insofern zutreffend entgegnet, dass das LSG damit von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.
Für die Ermittlung der stattgehabten Einwirkungen ist jeweils ein realitätsgerechter Maßstab zugrunde zu legen, weil die Einwirkungen
im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen müssen. Das Gericht hat bei seinen
Schätzungen deshalb eine möglichst an den tatsächlichen Verhältnissen angelehnte Berechnung vorzunehmen. Insofern ist dem
Recht der BK'en eine sog "worst-case-Betrachtung" grundsätzlich fremd. Die Schätzung hat vielmehr möglichst realitätsgerecht
zu erfolgen, ohne dass zunächst bzw von vorneherein Zu- oder Abschläge im Sinne einer worst- oder best-case-Betrachtung vorzunehmen
wären. Allerdings mag im Einzelfall eine sog worst-case-Schätzung der Einwirkungen ausreichen, wenn mit ihr eine Einwirkungsdosis
errechnet wird, die auf keinen Fall geeignet ist, die BK zu verursachen. Ein solcher ohnehin irrelevanter Wert lag hier mit
den geschätzten 86 Feinstaubjahren aber gerade nicht vor, worauf sogleich noch einzugehen sein wird. Insofern wird das LSG
die vom TAD der Beklagten vorgelegten Berechnungen nochmals daraufhin zu überprüfen haben, inwieweit sie tatsächlich eine
realitätsgerechte oder realitätsnahe Schätzung der Einwirkungen enthalten, denen der Kläger während seines gesamten Berufslebens
(und nicht nur während der Beschäftigung im Schachtbau) ausgesetzt war.
Eine genauere Ermittlung der stattgefundenen Einwirkungen in Gestalt der Feinstaubjahre ist im vorliegenden Fall erforderlich,
weil die Rechtsansicht des LSG unzutreffend ist, dass eine Feinstaubbelastung von 86 Feinstaubjahren von vorneherein nicht
ausreicht, um den Tatbestand der BK 4111 zu erfüllen. Der Verordnungsgeber hat mit der gesetzgeberischen Formulierung "in
der Regel", die in vollem Umfang einer Auslegung nach den üblichen juristischen Methoden zugänglich ist, zunächst klarstellen
wollen, dass er unter Berücksichtigung der (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisse selbst nicht in der Lage ist, eine abschließende
Größe im Sinne eines absoluten Grenzwerts zu definieren. Der Verordnungsgeber hat dies bei seiner Begründung der Neuaufnahme
der BK 4111 ua wie folgt zum Ausdruck gebracht (vgl BR-Drucks 642/97 S 19): "Als gut gesicherte Größe für die Verdopplung
des Erkrankungsrisikos stellt sich nach sorgfältiger Abwägung und Prüfung der Datenlage eine kumulative Dosis von 100 Feinstaubjahren
[(mg/m³) x Jahre] dar. Diese Größe ist ein mittlerer Schätzwert, der einer oberen Konfidenzgröße vorgezogen wird, zumal Abweichungen
nach oben und unten gleich verteilt sind. Die kumulative Feinstaubdosis errechnet sich aus der Feinstaubkonzentration in der
Luft am Arbeitsplatz in mg pro m³ Luft, multipliziert mit der Anzahl der Expositionsjahre, bezogen auf 220 gefahrene Schichten
zu je 8 Stunden". Nach Überzeugung des Senats hat der Verordnungsgeber damit zugleich zu erkennen gegeben, dass er davon ausgeht,
dass dem Tatbestand der BK 4111 ein wissenschaftlicher Erfahrungssatz zugrunde liegt, der jeweils anhand der neueren wissenschaftlichen
Literatur und Entwicklungen zu verifizieren ist.
Die Frage, welcher Einwirkungen es mindestens bedarf, um von "in der Regel" 100 Feinstaubjahren ausgehen zu können bzw um
bei Vorliegen auch der anderen Voraussetzungen die Anerkennung einer BK 4111 zu rechtfertigen, ist somit unter Zuhilfenahme
medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand zu beantworten (vgl grundlegend BSG Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20; Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, mwN). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen
Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt
werden, über die, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht. Jedes Gericht, das
die für die Anerkennung als BK erforderlichen Einwirkungen zu präzisieren hat, muss sich Klarheit darüber verschaffen, welches
in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist.
Abgesehen von der Begründung des Verordnungsgebers wird dabei auch besonders die von der Revision angeführte Stellungnahme
des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 1.10.2006 (BArbl
12/2006 S 149) bei der aktuellen Beurteilung des Tatbestandsmerkmals "in der Regel" zu berücksichtigen sein. Der Ärztliche
Sachverständigenbeirat stellte am 1.10.2006 jedenfalls fest: "Die Legaldefinition dieser Berufskrankheit enthält die Regelvermutung,
dass bei einer kumulativen Feinstaubdosis von 100 Jahren der Nachweis der Ursächlichkeit des Steinkohlenstaubs für die Entstehung
der Bronchitis bzw. des Emphysems erbracht ist. Die Dosis von 100 Feinstaubjahren stellt keinen absoluten unteren Grenzwert
im Sinne eines Abschneidekriteriums dar. (...) Unter Berücksichtigung des Raucherstatus und einer Unsicherheit der Messwerte
von 5 % ergibt sich für Nieraucher ein unterer Grenzwert der Verdoppelungsdosis für das Erkrankungsrisiko von 86 Feinstaubjahren.
Für Raucher gilt ein Grenzwert von 100 Feinstaubjahren." Ausgehend hiervon ergibt sich mithin im vorliegenden Fall die rechtliche
Notwendigkeit, im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsstreits eine möglichst exakte und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis
darüber zu gewinnen, welcher Feinstaubdosiswert noch unter das Kriterium "in der Regel" subsumiert werden kann. Hierfür kann
jedenfalls eine bloß gegriffene Größe, wie sie das LSG unter Berufung auf das LSG Nordrhein-Westfalen mit einem Konfidenzintervall
von 5 vH annimmt, grundsätzlich nicht genügen, weil die wissenschaftliche Basis für einen solchen Abschlag von 5 vH völlig
unklar bleibt.
Die Argumentation des LSG, dass die BK 4111 seit ihrer Einführung in die Verordnung ab 1.12.1997 in ihrem Wortlaut nicht verändert
worden sei und dass auch die soeben zitierte Stellungnahme des Ärztlichen Sachverständigenbeirates vom 1.10.2006 an dem Normtext
der BK 4111 nichts geändert habe, verkennt insofern diesen Zusammenhang. Die Definition der BK 4111 verweist vielmehr mit
ihrer weiten Formulierung - "in der Regel" - auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und beansprucht gerade nicht
- wie auch die angeführte Begründung des ursprünglichen Verordnungsgebers zeigt - die Normierung eines absoluten und abschließenden
Grenzwerts. Aufgrund der weiten Formulierung der BK 4111 ist daher der wissenschaftlich begründete allgemein akzeptierte Erkenntnisstand
im aktuellen Entscheidungszeitpunkt zu ermitteln.
Der Senat hat in seinem Urteil vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291) auch zu erkennen gegeben, dass die insoweit notwendigen medizinischen Erfahrungssätze allgemeine (generelle) Tatsachen darstellen,
die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind. Deshalb wäre dem Senat die Ermittlung eines allgemeinen
(generellen) Erfahrungssatzes bzgl eines Mindestwerts der Feinstaubjahre grundsätzlich möglich und im Regelfall auch von ihm
vorzunehmen. Da aber - wie oben ausgeführt - weder die Erkrankungen des Klägers festgestellt sind, noch von einem unangreifbar
feststehenden Wert der Staubjahre ausgegangen werden kann, weil der angenommene Wert lediglich auf eine sog worst-case-Berechnung
zurückgeht, sind solche Ermittlungen durch das BSG hier untunlich.
Der Senat am LSG wird daher zunächst die genannten Voraussetzungen zu ermitteln haben. Zunächst ist festzustellen, ob das
Krankheitsbild des Klägers überhaupt den Anforderungen der BK 4111 (Emphysem etc) genügt. Erst nach einer realitätsgerechten
Schätzung der Feinstaubbelastung des Klägers in Feinstaubjahren wird dann unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstands zu entscheiden sein, ob der den tatsächlichen Belastungen entsprechende kumulative Wert an Feinstaubjahren
noch unter den Rechtsbegriff von "in der Regel" 100 Feinstaubjahre subsumiert werden kann. Bei der Festlegung der maßgebenden
Anzahl an Feinstaubjahren mag schließlich die - erst noch festzustellende - Nierauchereigenschaft des Klägers ebenfalls eine
Rolle spielen. Liegen die Voraussetzungen der versicherten Tätigkeit, der Verrichtung, der Einwirkungen und der Krankheit
im Sinne eines Vollbeweises vor, so wird das LSG sich schließlich auch noch mit dem Vorliegen der notwendigen Kausalbeziehungen
zwischen diesen Tatbestandsmerkmalen zu befassen haben.
Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des Ausgangs des Revisionsverfahrens
zu befinden haben.