Zulässigkeit einer Feststellungsklage im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK).
Der 1944 geborene Kläger, der langjährig als Bohrer und Maschinist mit handgeführten Pressluftwerkzeugen arbeitete, beantragte
im März 1998 bei einer Rechtsvorgängerin der Beklagten die Anerkennung einer BK ua wegen Gelenkbeschwerden aufgrund dieser
Arbeit. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten lehnte die Gewährung von Leistungen aufgrund der Gelenkbeschwerden ab, es liege
weder eine BK Nr 2101 "Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze ..."
noch eine BK Nr 2103 "Erkrankungen durch Erschütterungen bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen
oder Maschinen" nach der Anlage der
Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl I 2623 >BKV<) vor (Bescheid vom 5. Mai 1999, Widerspruchsbescheid vom 26. April 2000). Das Sozialgericht
(SG) hat die auf die Anerkennung dieser beiden BKen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 2005).
Der Kläger hat seine zunächst uneingeschränkt erhobene Berufung in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht
(LSG) bezüglich der BK Nr 2101 zurückgenommen und beantragt, unter Abänderung des Urteils des SG und der Bescheide der Beklagten festzustellen, dass bei ihm eine BK der Nr 54 "Teilkörpervibration" der Liste zur
Berufskrankheiten-Verordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 26. Februar 1981 (GBl I Nr 12 S 137 iVm deren Durchführungsbestimmungen vom 21.
April 1981, GBl I Nr 12 S 139 >BKVO-DDR<) vorliege. Das LSG hat unter Abänderung der Bescheide der Beklagten und des Urteils des SG festgestellt, dass bei dem Kläger seit Juli 1991 eine BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR vorliege (Urteil vom 26. Januar 2006). Zur Begründung hat es ausgeführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(>BSG< Hinweis auf die Urteile vom 7. September 2004 - B 2 U 35/03 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 6 und - B 2 U 45/03 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 2) sei das klägerische auf die Anerkennung einer Erkrankung als BK gerichtete Begehren als Feststellungsklage
iS des §
55 Abs
1 Nr
1 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) auszulegen. Die Voraussetzungen der BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR lägen beim Kläger vor und der Versicherungsfall sei schon im Juli 1991 eingetreten. Beim Kläger seien auch die Voraussetzungen
der BK Nr 2103 nach der Anlage der
BKV erfüllt, wie sich aus seiner jahrzehntelangen gefährdenden Tätigkeit und dem medizinischen Gutachten von Prof. K mit
ergänzender Stellungnahme ergebe.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Beklagte als Verfahrensfehler, das LSG habe über die BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR entschieden, ohne dass sie hierüber ein Verwaltungsverfahren durchgeführt habe, sodass eine Prozessvoraussetzung fehle.
Der Antrag des Klägers vor dem LSG, festzustellen, dass eine BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR bei ihm vorliege, sei als unzulässig abzuweisen gewesen. Denn sie habe in dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides nur über die BKen Nr 2101 und Nr 2103 der Anlage der
BKV entschieden. Außerdem weiche das Urteil des LSG von der Entscheidung des BSG vom 10. Oktober 2002 - B 2 U 10/02 R - ab.
II
Die zulässige Beschwerde der Beklagten ist begründet. Eine schlüssig gerügte Verletzung des §
55 Abs
1 SGG liegt vor und führt gemäß §
160a Abs
5, §
160 Abs
2 Nr
3 SGG zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG. Denn die Rüge der Beklagten, das LSG habe nicht sachlich über das
Feststellungsbegehren des Klägers entscheiden dürfen, ist begründet.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen kann (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Ein derartiger Verfahrensmangel ist gegeben, wenn das Gericht, anstatt die Klage als unzulässig abzuweisen, in der Sache
entscheidet (BSGE 36, 181, 182 = SozR Nr 4 zu § 1613
RVO mwN), weil bei einer fehlenden Prozessvoraussetzung das gesamte Gerichtsverfahren an einem nicht heilbaren Verfahrensmangel
leidet (BSGE 3, 293 = SozR Nr 56 zu §
162 SGG).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das LSG nicht feststellen durfte, dass beim Kläger seit Juli 1991 eine
BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR vorlag. Denn der darauf gerichtete Feststellungsantrag des Klägers war unzulässig.
Mit einer Feststellungsklage (§
55 Abs
1 Nr
1 SGG) kann ua begehrt werden, die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, wenn der Kläger ein
berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Auch im Über-Unterordnungsverhältnis zwischen Bürger und Staat oder
Versichertem und öffentlich-rechtlichem Versicherungsträger ist die Feststellungsklage grundsätzlich zulässig. Vor Erhebung
einer Feststellungsklage muss jedoch der Versicherte im Regelfall einen entsprechenden (Feststellungs-)Antrag an den Versicherungsträger
gerichtet haben, mit dem er eine bestimmte Feststellung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses begehrt
hat, zB dass ein Arbeitsunfall oder eine BK vorliegt. Dies folgt schon aus Gründen der Prozessökonomie sowie dem für eine
Feststellungsklage erforderlichen Feststellungsinteresse, welches fehlt, wenn der Versicherte nicht zunächst durch einen Antrag
bei dem Versicherungsträger versucht hat zu klären, ob das Rechtsverhältnis besteht oder nicht. Dementsprechend muss der Bürger
im Regelfall, wenn um das Bestehen eines Rechtsverhältnisses gestritten wird, zB um die Anerkennung eines Ereignisses als
Arbeitsunfall oder einer Erkrankung als BK, zunächst eine entsprechende Verwaltungsentscheidung beantragen und diese im Rahmen
des §
88 SGG abwarten. Erst anschließend kann er - abgesehen vom Fall des §
88 SGG - zulässigerweise eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage erheben (BSGE 57, 184 = SozR 2200 § 385 Nr 10; BSGE 58, 150, 152 = SozR 1500 § 55 Nr 27; BSG SozR 3-4427 §
5 Nr 1 S 4 ff; Castendiek in Handkommentar
SGG, 2. Aufl 2005, §
55 RdNr 18, 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, §
55 RdNr 15; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, IV RdNr 99).
Aus den vom LSG angeführten Entscheidungen des Senats vom 7. September 2004 (- B 2 U 35/03 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 6 und - B 2 U 45/03 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 2), die auf die Entscheidung vom 27. Juli 1989 (- 2 RU 54/88 - SozR 2200 § 551 Nr 35) zurückgehen, folgt nichts anderes. Nach dieser ständigen Rechtsprechung des Senats ist die Klage
eines Versicherten auf Feststellung, dass bei ihm der Versicherungsfall einer BK oder eines Arbeitsunfalls eingetreten ist,
nach §
55 Abs
1 Nr
1 SGG zulässig, auch wenn mit dieser Feststellung keine aktuellen Leistungsansprüche verbunden sind. Den Klagen in diesen Verfahren
vorausgegangen war jedoch immer ein Verwaltungsverfahren, das mit einem für den Versicherten negativen Bescheid geendet und
nicht zu der begehrten Feststellung über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer BK geführt hatte. Soweit in der Entscheidung
vom 7. September 2004 (- B 2 U 45/03 R - SozR 4-2200 § 2 Nr 2 RdNr 4) in diesem Zusammenhang der Begriff "isolierte Feststellungsklage" verwandt wird, soll mit
dem Adjektiv "isoliert", wie sich schon aus dem Bezug zu den zuvor genannten Leistungsansprüchen ergibt, die Zulässigkeit
einer Feststellungsklage, auch ohne dass damit Leistungsansprüche verbunden sind, betont werden, nicht aber ein Verzicht auf
die vorherige Verwaltungsentscheidung und die gegen sie gerichtete Anfechtungsklage.
Ein derartiger Verwaltungsakt der Beklagten, der von dem Kläger angefochten wurde, ist jedoch hinsichtlich der BK Nr 54 der
Liste zur BKVO-DDR nicht ergangen. Denn in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides hat diese
sich allein mit den BKen Nr 2101 und Nr 2103 der Anlage der
BKV beschäftigt und allein über deren Nichtvorliegen eine Entscheidung getroffen. Zur BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR enthalten diese Bescheide keine Ausführungen. Die Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer BK bezieht
sich jedoch typischerweise auf eine oder ggf mehrere bestimmte, genau definierte Krankheiten, die der Verordnungsgeber aufgrund
der Ermächtigung in §
9 Abs
1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) unter bestimmten Voraussetzung als BK bezeichnet und in der Anlage zur
BKV unter einer Ordnungsnummer aufgelistet hat oder die nach §
9 Abs
2 SGB VII im Einzelfall wie eine BK zu behandeln sind (BSG vom 22. Juni 2004 - B 2 U 22/03 R -). Entsprechendes gilt auch für die BKen nach der Liste zur BKVO-DDR. Eine solche Entscheidung über bestimmte BKen beinhaltet nicht gleichzeitig die Anerkennung oder Ablehnung anderer Listenkrankheiten,
die bei dem Krankheitsbild des Versicherten möglicherweise ebenfalls in Betracht kommen können. Diese Beschränkung erfolgt
schon daraus, dass für jede der in Frage kommenden Krankheiten eigene Voraussetzungen gelten und es gerade der Zweck des Verwaltungsverfahrens
ist, das Vorliegen dieser Voraussetzungen bezogen auf die jeweilige Krankheit zu prüfen (BSG aaO).
Ein gesonderter Verwaltungsakt bezüglicher der BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR war auch nicht deshalb entbehrlich, weil diese BK sich ähnlich wie die BK Nr 2103 der Anlage zur
BKV insbesondere auf Einwirkungen von handgeführten Pressluftwerkzeugen bezieht. Denn die konkreten BK-Bezeichnungen beider BKen
weichen erheblich voneinander ab: Die BK Nr 2103 der Anlage der
BKV lautet: "Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen",
während die BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR zwar kurz als BK durch "Teilkörpervibration" bezeichnet wird, in der Liste sind jedoch ausdrücklich folgende weitere
Voraussetzungen für diese BK aufgeführt: "Krankheiten des Bewegungsapparates, der peripheren Gefäße und Nerven durch langzeitige
lokale Einwirkung mechanischer Schwingungen beim Gebrauch von Vibrationswerkzeugen, vibrierenden Maschinen, ähnlich wirkenden
Werkzeugen und Maschinen oder jahrzehntelange handwerkliche Tätigkeiten mit ähnlichen Expositionsbedingungen (zB Stemmen von
Mauerwerk oder Beton mit Hammer und Meißel)". Die BK Nr 54 der Liste zur BKVO-DDR umfasst also nicht nur Einwirkungen mit relativ niedrigen Frequenzen wie die BK Nr 2103 der Anlage der
BKV sondern auch Vibrationen aufgrund hochtourig arbeitender Maschinen, die nach der Anlage zur
BKV von der BK Nr 2104 erfasst werden (vgl nur Triebig/Kentner/Schiele, Arbeitsmedizin - Handbuch für Theorie und Praxis, 2003,
Kapitel 4.2.1.3.1 S 283 und Kapitel 4.2.1.4.1 S 288). Außerdem ist zu beachten, dass bei der Anerkennung einer BK Nr 54 der
Liste zur BKVO-DDR die besonderen Voraussetzungen des § 1150 der
Reichsversicherungsordnung zu prüfen sind.
Da ein Verwaltungsakt über die Anerkennung einer BK Nr 54 nach der Liste zur BKVO-DDR bisher nicht ergangen ist, fehlt eine zwingende Prozessvoraussetzung für eine darauf gerichtete Feststellungsklage. Der
Mangel konnte auch nicht dadurch geheilt werden, dass die Beklagte der Einbeziehung in das Berufungsverfahren im Rahmen der
mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht widersprochen hat und die Klageänderung als solche deshalb möglicherweise gemäß §
99 Abs
1 SGG zulässig war (BSGE 49, 143, 146 = SozR 5090 §
6 Nr 4). Denn auch bei einer Klageänderung ist das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen für die geänderte Klage erforderlich
(vgl nur die Entscheidung des Senats vom 9. Dezember 2003, BSGE 91, 287 = SozR 2700 § 160 Nr 1, jeweils RdNr 6 mwN).
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG
ohne den Verfahrensfehler zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Auf die weitere Rüge der Beklagten kommt es für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde nicht an.
Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG erfüllt sind. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, zumal das LSG in der Sache auch die Voraussetzungen der von
Anfang an im Verfahren umstrittenen BK Nr 2103 der Anlage der
BKV geprüft und bejaht hat, deren Anerkennung die Beklagte in ihren Bescheiden abgelehnt hatte, ohne seinerseits eine ausdrückliche
Entscheidung über diese BK zu treffen. Aus diesem Grunde scheidet auch eine Abweisung der Klage als unzulässig aus (vgl BSG,
Beschluss vom 16. März 2006 - B 4 RA 24/05 B -).
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.