Anspruch auf Krankengeld in der gesetzlichen Krankenversicherung
Anforderungen an die Meldepflichten bei abschnittsweiser Bewilligung für Folge-Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen
Ausnahme von der Obliegenheit des Versicherten zur Sorge für eine rechtzeitige ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung bei
einer Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Termins auf Wunsch des Arztes bzw. seines Praxispersonals
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Krankengeld (Krg) für die Zeit vom 3.10.2013 bis 20.10.2014.
Die Klägerin ist Witwe des 1957 geborenen, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versichert gewesenen, im Verlaufe des Revisionsverfahrens
verstorbenen Versicherten, mit dem sie in gemeinsamen Haushalt lebte. Bei dem Versicherten bestand seit dem 22.4.2013 Arbeitsunfähigkeit
(AU) wegen eines Zustandes nach einer Hüftgelenks-TEP-Implantation und sein Beschäftigungsverhältnis endete am 26.4.2013.
Der behandelnde Orthopäde bescheinigte dem Versicherten am 16.8.2013 AU bis 2.10.2013. Am Tag des vereinbarten FolgeUntersuchungstermins,
dem 2.10.2013, suchte der Versicherte die Praxis auf, allerdings kam es an diesem Tag lediglich zu einem kurzen Gespräch mit
dem Arzt auf dem Flur der Praxis. Die Untersuchung und AU-Feststellung wurde auf Bitte des Arztes wegen eines hohen Patientenaufkommens
aufgrund des bevorstehenden Feiertags (3.10.2013) und einer Praxisschließung am 4.10.2013 mit Blick auf die klare Diagnose
auf Montag, den 7.10.2013, verschoben. An diesem Tag stellte sich der Versicherte bei seinem Arzt erneut vor, der ihm weiterhin
AU voraussichtlich bis 22.10.2013 bescheinigte.
Die Beklagte entschied im Anschluss daran, dass die Pflichtmitgliedschaft des Versicherten und sein Anspruch auf Krg zum 2.10.2013
geendet hätten. Spätestens an diesem Tag (= letzter Tag der in der vorangegangenen ärztlichen Bescheinigung attestierten AU)
sei ihm die für die Aufrechterhaltung des Krg-Anspruchs erforderliche weitere AU nicht ärztlich bescheinigt worden (Bescheid
vom 10.10.2013). Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
(MDK) ein, welches ergab, dass der Versicherte auch über den 2.10.2013 hinaus arbeitsunfähig war. Der Widerspruch blieb aus
den Gründen des angefochtenen Bescheides ohne Erfolg; auch scheide ein Anspruch auf Krg für einen Monat nach dem Ende der
Mitgliedschaft nach §
19 Abs
2 Satz 1
SGB V aus, da der Versicherte ab dem 3.10.2013 im Rahmen der Familienversicherung seiner Ehefrau Versicherungsschutz ohne Krg-Anspruch
erlangt habe (Widerspruchsbescheid vom 18.12.2013).
Die Klage des Versicherten ist in erster Instanz ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid vom 8.11.2016). Das LSG hat seine
Berufung - teilweise auf die Entscheidungsgründe des SG Bezug nehmend - zurückgewiesen: Der Versicherte habe trotz fortbestehender AU keinen Anspruch auf Gewährung von Krg über
den 2.10.2013 hinaus, weil die dafür erforderliche ärztliche AU-Bescheinigung nicht rechtzeitig am 2.10.2013, sondern erst
am 7.10.2013 ausgestellt worden sei. Ab 3.10.2013 sei der Versicherte aber wegen §
192 Abs
1 Nr
2 SGB V nicht mehr mit Anspruch auf Krg versichert gewesen. Anderes ergebe sich auch nicht aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf Urteil vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8), weil der Versicherte nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare getan habe, um rechtzeitig eine ärztliche
Folge-AU-Feststellung zu erlangen. Fehlberatungen einer vertragsärztlichen Praxis entlasteten Versicherte insoweit grundsätzlich
nicht im Verhältnis zur KK. Hiervon sei bei dem Versicherten keine Ausnahme zu machen. Aus §
19 Abs
2 SGB V ergebe sich nichts zu Gunsten des Versicherten (Urteil vom 23.10.2018).
Mit ihrer dagegen gerichteten Revision rügt nunmehr die Klägerin sinngemäß die Verletzung der §
44 Abs
1 und §
46 Satz 1 Nr
2 SGB V in der bis 22.7.2015 geltenden Fassung. Dem LSG könne nicht darin gefolgt werden, dass die gesetzlichen Vorschriften den
Anspruch des Versicherten auf Krg wegen fehlender ärztlicher Untersuchung am 2.10.2013 ausschlössen. Bei dem Versicherten
habe zweifellos eine durchgehend ärztlich festgestellte AU bestanden. Der Versicherte habe auch alles in seiner Macht Stehende
und ihm Zumutbare getan, um Krg-Ansprüche durch eine zeitgerechte AU-Bescheinigung zu wahren. Er sei aber wegen eines Organisationsmangels
des Arztes, den sich die Beklagte zurechnen lassen müsse, auf den nächsten Werktag mit Praxisöffnung vertröstet worden. Ihm
könne nach den Umständen nicht abverlangt werden, noch am 2.10.2013 eine andere Arztpraxis aufzusuchen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 23. Oktober 2018 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts
Braunschweig vom 8. November 2016 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 10. Oktober 2013 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2013 zu verurteilen, ihr Krankengeld für den verstorbenen Versicherten
H.-P. F. vom 3. Oktober 2013 bis 20. Oktober 2014 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an das
Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG).
Die Klägerin hat als prozessführungsbefugte und aktivlegitimierte Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten (§
56 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGB I) entgegen der Auffassung der Vorinstanzen Anspruch auf Zahlung von Krg dem Grunde nach ab 3.10.2013. Auf der Grundlage der
Feststellungen des LSG (§
163 SGG) kann der Senat allerdings nicht abschließend über den von der Klägerin mit ihrem Revisionsantrag geltend gemachten Anspruch
auf Krg-Zahlung für die gesamte Zeit vom 3.10.2013 bis 20.10.2014 entscheiden.
1. Der Senat konnte aufgrund des Nichterscheinens der ordnungsgemäß geladenen Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung
nach Lage der Akten entscheiden (§
110 Abs 1 Satz 2, §
126 iVm §
165 Satz 1, §
153 Abs
1 SGG); die Beteiligten hatten hierzu zudem vorab ihr Einverständnis erklärt.
2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Entscheidungen der Vorinstanzen und der Bescheid vom 10.10.2013 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2013, gegen den sich die Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage
wendet (§
54 Abs
1 Satz 1 und Abs
4 SGG).
3. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Krg für beschäftigte Pflichtversicherte der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) sind hier §
44 Abs
1 und §
46 Satz 1 Nr
2 SGB V in der bis 22.7.2015 geltenden Fassung (§§
44 und
46 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17.7.2009, BGBl I 1990, 3578; im Folgenden: aF) iVm §
192 Abs
1 Nr
2 SGB V, der den Erhalt der Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger bei Anspruch auf oder Bezug von Krg bestimmt.
Nach §
44 Abs
1 SGB V aF haben Versicherte Anspruch auf Krg ua dann, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Ob und in welchem Umfang Versicherte
Krg beanspruchen können, bestimmt sich nach dem Versicherungsverhältnis, das im Zeitpunkt des jeweils in Betracht kommenden
Entstehungstatbestands für das Krg vorliegt (stRspr, vgl nur BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 8; BSG Urteil vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 §
46 Nr 8, RdNr 15). Nach §
46 Satz 1 Nr 2
SGB V aF entsteht dieser Anspruch auf Krg von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der AU folgt. Dies gilt auch
für an die ärztliche Erstfeststellung von AU anschließende Folgefeststellungen (stRspr, vgl nur BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 13 ff; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20).
4. Diese Anspruchsvoraussetzungen liegen hier vor. Von diesen ist zwischen den Beteiligten zu Recht allein im Streit, ob am
3.10.2013, dem ersten Tag nach dem Ende der zuletzt ärztlich festgestellten AU, noch eine Versicherung mit Anspruch auf Krg
bestand. Letzteres ist zu bejahen.
a) Für den Anspruch auf Krg ist insoweit erforderlich, dass an diesem Tag dieser Versicherungsschutz noch mit Blick auf §
192 Abs
1 Nr
2 SGB V fortbestand. Dies erforderte einen lückenlosen Krg-Anspruch oder Krg-Bezug, der nach §
46 Satz 1 Nr 2
SGB V aF nach stRspr des BSG auch bei fortbestehenden Dauererkrankungen erst vom Folgetag der ärztlichen AU-Feststellung an entsteht. Daher muss eine
erneute ärztliche AU-Feststellung - ohne dass ein Karenztag eintritt - spätestens am letzten Tag des zuvor bescheinigten AU-Zeitraums
erfolgen (s erneut BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 13 ff; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20).
Im Falle des Versicherten erfolgte keine erneute ärztliche Feststellung der AU spätestens am letzten Tag des zuvor bescheinigten
AU-Zeitraums, dem 2.10.2013. Das Fehlen einer lückenlosen, für die weitere Krg-Gewährung nötigen AU-Feststellung unterbrach
damit wegen der nicht eingreifenden Wirkung des §
192 Abs
1 Nr
2 SGB V an sich mangels aufrechterhaltener Pflichtmitgliedschaft des Versicherten mit Wirkung für die Zukunft den Krankenversicherungsschutz
mit Krg-Anspruch ab 3.10.2013; denn rechtlich hat grundsätzlich der Versicherte im Sinne einer Obliegenheit dafür Sorge zu
tragen, dass eine rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung erfolgt (stRspr, vgl nur BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 17, 22; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20).
Sinn und Zweck all dessen ist es, beim Krg Missbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche
Behauptung der AU und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen könnten (BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 17; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20). Hieran ist auch die ausnahmsweise Zulassung von rückwirkenden Nachholungen von AU-Feststellungen
bzw von nicht lückenlosen AU-Feststellungen zu messen. Die Auslegung von Vorschriften des
SGB V zur Krg-Beschränkung, die der Vermeidung von Leistungsmissbrauch und praktischen Schwierigkeiten dienen, wird durch diesen
Regelungszweck bestimmt und begrenzt (vgl dazu zuletzt BSG Urteil vom 4.6.2019 - B 3 KR 23/18 R - SozR 4-2500 § 16 Nr 4 RdNr 29 f).
b) Von diesen grundsätzlichen Erfordernissen sind in der Rechtsprechung des BSG allerdings bereits enge Ausnahmen anerkannt worden (vgl nur - jeweils mwN - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 26 ff; BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr
21 ff; vgl zuletzt - zur Meldung nach §
49 Abs
1 Nr
5 SGB V - BSG Urteil vom 8.8.2019 - B 3 KR 6/18 R - juris RdNr 22 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 49 Nr 9 vorgesehen).
Der Senat hat insoweit mit seinem Urteil vom 11.5.2017 (BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8 für die Rechtslage bis 22.7.2015) unter Fortentwicklung und Teilaufgabe früherer Rechtsprechung entschieden,
dass eine Lücke in den ärztlichen AU-Feststellungen nicht nur bei medizinischen Fehlbeurteilungen (BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 24 mwN), sondern auch bei nichtmedizinischen Fehlern eines Vertragsarztes im Zusammenhang
mit der AU-Feststellung für den Versicherten unschädlich ist, wenn sie der betroffenen KK zuzurechnen ist. Nach dieser Rechtsprechung
steht dem Krg-Anspruch eine erst verspätet erfolgte ärztliche AU-Feststellung nicht entgegen, wenn
1. der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen
zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um
(a) die ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erreichen, und
(b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krg-Anspruch erfolgt
ist,
2. er an der Wahrung der Krg-Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde
(zB eine irrtümlich nicht erstellte AU-Bescheinigung), und
3. er - zusätzlich - seine Rechte bei der KK unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des §
49 Abs
1 Nr
5 SGB V, nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht (so BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 34).
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der Versicherte so zu behandeln, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig
die ärztliche Feststellung der AU erhalten.
c) Der Senat entwickelt diese Rechtsprechung fort und konkretisiert sie dahin, dass es einem "rechtzeitig" erfolgten persönlichen
Arzt-Patienten-Kontakt gleichsteht, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um rechtzeitig
innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen eine ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung
des Anspruchs auf Krg zu erhalten, es dazu aber aus dem Vertragsarzt und der KK zurechenbaren Gründen erst verspätet nach
Wegfall dieser Gründe gekommen ist.
Das ist insbesondere in Fällen - wie hier - anzunehmen, in denen die Gründe für das nicht rechtzeitige Zustandekommen einer
ärztlichen Folge-AU-Feststellung in der Sphäre des Vertragsarztes (vgl zur Einbindung der Vertragsärzte in das GKV-System
nur § 2 Abs 2, § 72 Abs 1 und 2, §
73 Abs
2, §
75 Abs
1, §
76 Abs
1 Satz 1 und
2 SGB V) und nicht in derjenigen des Versicherten liegen. Dies ist typischerweise zu bejahen bei einer auf Wunsch des Vertragsarztes
bzw seines von ihm angeleiteten Praxispersonals erfolgten Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Arzttermins in der (naheliegenden)
Vorstellung, ein späterer Termin sei für den Versicherten leistungsrechtlich unschädlich, weil nach den Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien
(AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) auch die begrenzte rückwirkende ärztliche AU-Feststellung statthaft sei.
Für die Gleichstellung der aus den vorgenannten Gründen unterbliebenen rechtzeitigen AU-Feststellung aufgrund hinreichenden
Arzt-Patienten-Kontakts mit einer zeitgerechten Feststellung der AU spricht, dass die Obliegenheiten des Versicherten auf
das in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare beschränkt sind. Ein "Arzt-Hopping", das ohnehin grundsätzlich unerwünscht
ist (vgl §
76 Abs
3 Satz 1
SGB V), statt des nachvollziehbaren Wunsches, von dem mit der AU schon vertrauten (hier: Fach-) Arzt weiterbetreut zu werden, kann
von ihm grundsätzlich nicht verlangt werden. Für Versicherte fallen zudem ihr soziales Schutzbedürfnis in der GKV zu ihrer
finanziellen Absicherung im Krankheitsfall (s auch § 2 Abs 2 und §
4 Abs
2 Satz 1 Nr
2, §
21 Abs
1 Nr
2 Buchst g
SGB I) und die Verhältnismäßigkeit von leistungsrechtlichen Folgen bei tatsächlichen Fristversäumnissen ins Gewicht (verfassungsrechtliches
Übermaßverbot). Diese Erwägungen waren für den Senat schon wesentlich für die Erweiterung der Unschädlichkeit von Arztfehlern
im nichtmedizinischen Bereich (BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 25 ff). Generalpräventive Erwägungen der Missbrauchsabwehr haben dagegen, vor allem in zweifelsfreien
Folge-AU-Fällen, kein solch großes Gewicht, dass sie diese Schutzaspekte überlagern und verdrängen könnten.
Für die vorstehende Auslegung des §
46 Satz 1 Nr 2
SGB V aF und Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Senats spricht darüber hinaus, dass sich Versicherungsträger in ihrem Verwaltungshandeln
auch am Rechtsgedanken von Treu und Glauben (vgl §
242 BGB) auszurichten haben, welcher auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts Anwendung findet (stRspr, aus jüngerer Zeit zB
BSG Urteil vom 1.7.2010 - B 13 R 67/09 R - SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 29 ff mit umfangreichen Rspr-Nachweisen; vgl auch zuletzt BSG [GS] Beschluss vom 20.2.2019 - GS 1/18 - juris RdNr 18, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2600 § 118 Nr 16 vorgesehen; BSG Urteil vom 9.4.2019 - B 1 KR 3/18 R - juris RdNr 22, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1780 § 161 Nr 3 vorgesehen). Versicherungsträger aller Zweige dürfen
sich daher zB nicht auf die Versäumung einer dem geltend gemachten Leistungsanspruch entgegenstehenden Ausschlussfrist berufen,
wenn sie die Wahrung der Frist durch eigenes Fehlverhalten treuwidrig verhindert haben (vgl bereits BSG Urteil vom 17.11.1970 - 1 RA 233/68 - BSGE 32, 60, 62 = SozR Nr 15 zu § 1286 aF
RVO; ferner zB BVerwG Urteil vom 28.3.1996 - 7 C 28.95 - BVerwGE 101, 39, 45 mwN = Buchholz 428 § 30a VermG Nr 2; BGH Urteil vom 27.6.1985 - IX ZR 17/85 - NVwZ 1985, 938, 939 = LM Nr 36 zu § 190a BEG 1956).
Das folgt vor allem auch aus dem Rechtsgedanken des §
162 Abs
1 BGB. Diese Regelung bestimmt sinngemäß, dass dann, wenn der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Nachteil der Eintritt
gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert wird, diese Bedingung (gleichwohl) als eingetreten gilt. §
162 Abs
1 BGB liegt damit der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass niemand - auch kein Träger öffentlicher Verwaltung - aus seinem eigenen
treuwidrigen Verhalten, das er (oder ein seiner Sphäre zuzurechnender Dritter) einer ihm rechtlich verbundenen Person gegenüber
gezeigt hat, einen Vorteil ziehen darf (vgl nur Bork in Staudinger,
BGB, §
162 RdNr 2, 4, 15, Stand 2015; ferner zB BVerwG Urteil vom 28.10.1983 - 8 C 39.82 - BVerwGE 68, 156, 159 = Buchholz 448.0 § 13a WehrPflG Nr 15). Dem Rechtsgedanken der Regelung kommt auch im Bereich der Leistungsverwaltung
des Sozialrechts Bedeutung zu, insbesondere im Zusammenhang mit der Versäumung von (Ausschluss-)Fristen, die von einem Leistungsberechtigten
einzuhalten sind (vgl bereits BSGE 32, 60, 62 = SozR Nr 15 zu § 1286 aF
RVO; ferner BGH NVwZ 1985, 938, 939 = LM Nr 36 zu § 190a BEG 1956 = juris RdNr 14). Über den der Bestimmung zugrunde liegenden Rechtsgedanken wird dann fingiert, dass die Einhaltung
der Ausschlussfrist durch den Begünstigten gewahrt ist (so BGH, ebenda, unter Hinweis auf BVerwG Urteil vom 15.7.1959 - V C 80.57 - BVerwGE 9, 89, 92 und BVerwG Urteil vom 24.6.1966 - VI C 72.63 - DVBl 1966, 857, auf BSGE 32, 60, 62 = SozR Nr 15 zu § 1286 aF
RVO und BSG Urteil vom 17.5.1973 - 12 RJ 354/72 - SozR Nr 9 zu § 1252
RVO = DVBl 1973, 793 sowie auf BFHE 86, 148, 151).
So verhält es sich auch hier. In den beschriebenen Fällen kann der (rechtzeitige) Zugang der Erklärung oder Eintritt der Bedingung
nach §
162 Abs
1 BGB fingiert werden bzw es dem Empfänger oder einer Partei nach Treu und Glauben verwehrt sein, sich auf den fehlenden oder verspäteten
Zugang oder Bedingungseintritt zu berufen. In diesem Sinne dürfen auch KKn gegenüber dem Krg-Anspruch ihrer Versicherten nicht
einwenden, der dafür erforderliche ArztPatienten-Kontakt sei nicht rechtzeitig zustande gekommen, wenn dies auf Gründen beruht,
die
1. in der Sphäre des Vertragsarztes (und nicht des Versicherten) liegen, und die
2. auch den KKn zuzurechnen sind.
Es ist dann gerechtfertigt und vom Normzweck der gesetzlichen Regelungen zum Krg gedeckt, dass sich die KK nicht auf eine
dem vertragsärztlichen System anzulastende Verhinderung der rechtzeitigen AU-Feststellung berufen darf.
Der Senat hat diese Zurechnung fehlerhaften Arztverhaltens zu den KKn (bezogen auf deren Sozialversicherungsverhältnis zu
ihren Versicherten) bereits für nichtmedizinische Fehler eines Vertragsarztes im Urteil vom 11.5.2017 mit einer missverständlichen
Fassung der AU-RL des GBA begründet. Die AU-RL (hier noch anzuwenden idF vom 1.12.2003, zuletzt geändert am 18.4.2013, BAnz
AT 2.7.2013 B4, in Kraft getreten am 3.7.2013) erlaubten den Vertragsärzten als Leistungserbringern im GKV-System in dem sie
selbst betreffenden vertragsärztlichen Pflichtenkreis ausdrücklich eine zeitlich begrenzte Rückdatierung und rückwirkende
Bescheinigung der AU (§ 5 Abs 3, s auch § 6 Abs 2 AU-RL). Die Vertragsärzte werden in dem Regelwerk zugleich allerdings nicht
- was geboten wäre - deutlich auf die damit verbundenen ganz erheblichen leistungsrechtlichen Nachteile für die Krg-Ansprüche
der sie aufsuchenden Versicherten der GKV hingewiesen (vgl ähnlich selbst noch § 5 Abs 3 AU-RL in der zum Entscheidungszeitpunkt
des Senats geltenden, zuletzt geänderten Fassung vom 27.3.2020, BAnz AT 3.4.2020 B4, in Kraft getreten am 23.3.2020). Entsprechend
hervorgerufene bzw aufrechterhaltene Fehlvorstellungen bei Vertragsärzten über deshalb auch vermeintlich den Versicherten
in ihrem Verhältnis zu deren KK unschädliche leistungsrechtliche Folgen rückwirkender AU-Feststellungen sind den KKn als maßgebliche
Mitakteure im GBA (vgl näher §
91 SGB V) und Anspruchsgegner der Krg-Ansprüche Versicherter zuzurechnen (vgl zum Ganzen BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 31 ff).
5. Gemessen an den Ausführungen unter 4. c) hat die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten Anspruch auf Krg
ab 3.10.2013 bis zum Ende der letzten vom LSG festgestellten AU-Bescheinigung vom 7.10.2013, also bis 22.10.2013. Nach den
nicht mit Revisionsrügen angegriffenen und daher für den Senat revisionsrechtlich bindenden Feststellungen des LSG (vgl §
163 SGG) hatte der Versicherte für den letzten Tag der zuletzt ärztlich festgestellten AU am 2.10.2013 einen rechtzeitigen Termin
bei seinem ihn behandelnden Vertragsarzt vereinbart, der zur Erhaltung der Krg-Ansprüche ausreichend gewesen wäre. Dieser
Termin kam nicht rechtzeitig zustande, weil der Versicherte am 2.10.2013 in der Praxis von seinem Vertragsarzt gebeten worden
war, aus Gründen der Praxisüberfüllung an diesem Tag vor dem Feiertag, 3.10.2013, und der für Freitag, den 4.10.2013, vorgesehenen
Praxisschließung noch einmal am Montag, den 7.10.2013, zu erscheinen. Diese praxisinternen Gründe sind dem Versicherten in
seiner Eigenschaft als Leistungsberechtigter der Beklagten nicht zuzurechnen. Er durfte darauf vertrauen, dass ihm die von
seinem Vertragsarzt veranlasste - leistungsrechtlich objektiv schädliche - Terminverschiebung gegenüber der Beklagten in Bezug
auf seine Krg-Ansprüche nicht schadete (vgl zu Fragen des vertragsärztlichen Handelns, auf das Versicherte vertrauen können
und das sich KKn zurechnen lassen müssen, zuletzt auch BSG Urteil vom 8.8.2019 - B 3 KR 6/18 R - juris RdNr 29 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 49 Nr 9 vorgesehen). Der Versicherte musste nicht entgegen
dem Ansinnen seines Arztes auf dem Termin am 2.10.2013 beharren oder an diesem Tag einen anderen Arzt zur Feststellung der
Folge-AU aufsuchen. Beides war ihm nicht zuzumuten. Vielmehr ist der Versicherte so zu behandeln, als habe sein Arzt am 2.10.2013
rechtzeitig die weitere AU festgestellt. Das durchgehende Fortbestehen der tatsächlich erst am 7.10.2013 festgestellten AU
des Versicherten zieht die Beklagte nicht in Zweifel (Stellungnahme ihres MDK). Anhaltspunkte für sonstige Gründe, die einem
auf die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin übergegangenen Krg-Anspruch ab 3.10.2013 des Versicherten entgegenstehen könnten,
sind nicht ersichtlich.
6. Dem Senat selbst ist allerdings eine abschließende Entscheidung über die Dauer und das Ende des ab 3.10.2013 einsetzenden
Krg-Anspruchs verwehrt (vgl zum Fortbestehen und Ende des Krg-Anspruchs zuletzt BSG Urteil vom 25.10.2018 - B 3 KR 23/17 R - juris RdNr 12, 15, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 49 Nr 8 vorgesehen). Für die Zeit vom 3.10.2013 bis 22.10.2013
drängt sich zwar bereits jetzt die Abgabe eines (Teil-)Anerkenntnisses der Beklagten (vgl §
101 Abs
2 SGG) auf. Feststellungen zu Folge-AU-Bescheinigungen über dieses Enddatum hinaus und zu den in weiteren Bescheinigungen dokumentierten
Endzeitpunkten hat das LSG - ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt konsequent - allerdings nicht getroffen. Das ist nachzuholen
für das klägerische Begehren auf Krg-Zahlungen bis 20.10.2014; dies gilt sowohl in Bezug auf die Berechtigung des Endzeitpunkts
als auch für die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils zu erfüllenden Anspruchsvoraussetzungen (vgl ua auch §
46 Satz 1 Nr
2 Satz 2, §
49 Abs
1 Nr
5 SGB V). Darüber hinaus kommt die Prüfung der möglicherweise zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeschöpften Anspruchshöchstdauer (§
48 Abs
1 SGB V [stets dieselbe Krankheit oder neue bzw hinzugetretene Krankheiten?]) sowie die Prüfung der Anrechnung von Geldleistungen
anderer Leistungsträger im Falle von medizinischer Rehabilitation (§
49 Abs
1 Nr
3 SGB V) oder Rente wegen Erwerbsminderung (§
50 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGB V) in Betracht.
Das LSG wird Feststellungen hierzu im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen haben, um über die Dauer und das Ende
bzw über Ausschluss, Kürzung und Ruhen des Krg-Anspruchs ab 3.10.2013 entscheiden zu können.
7. Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu entscheiden haben.