Anspruch auf Leistungen der häuslichen Krankenpflege in einer ambulant betreuten Wohngruppe
Anforderungen an die Leistungserbringung an einem "sonst geeigneten Ort" im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V und an die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung bei ambulanter
Versorgung
Gründe:
I
Im Streit stehen Kosten für häusliche Krankenpflege (HKP) in Form der Medikamentengabe in einer ambulant betreuten Wohngruppe
vom 1.2. bis 31.3.2019.
Die 1932 geborene, seit 2000 unter Betreuung stehende und während des Revisionsverfahrens verstorbene Versicherte war bei
der beklagten Krankenkasse und der beigeladenen Pflegekasse versichert. Sie litt unter anderem an Demenz, essentieller Hypertonie
und Diabetes mellitus mit multiplen Komplikationen sowie einem Tremor. Nach einem Pflegegutachten der Beigeladenen war sie
Analphabetin und seit ihrer Geburt etwas debil.
Seit März 2015 lebte die Versicherte mit elf weiteren pflegebedürftigen Personen aufgrund gesonderter Mietverträge in einer
anerkannten ambulant betreuten Wohngemeinschaft nach dem Bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz. Die Bewohner beauftragten gemeinschaftlich eine Person mit organisatorischen, verwaltenden, betreuenden und das Gemeinschaftsleben
fördernden Aufgaben. Sie wählten zudem entsprechend ihrer Gremiumsvereinbarung ebenfalls gemeinschaftlich Dienstleister für
hauswirtschaftliche Aufgaben und Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung aus. Die Betreuungsleistungen erfolgten
im Rahmen einer 24-stündigen Anwesenheit eines Mitarbeiters des Pflegedienstes in der Wohngemeinschaft, wofür die Versicherte
eine Betreuungspauschale von 680 Euro monatlich zu leisten hatte. Die Versicherte selbst beauftragte den Pflegedienst auch
mit ihrer pflegerischen Versorgung. Von der Beigeladenen erhielt sie Sachleistungen bei häuslicher Pflege nach §
36 SGB XI bis zur Höchstgrenze, zuletzt nach dem Pflegegrad 3, den Entlastungsbetrag für Pflegebedürftige in häuslicher Pflege nach
§
45b SGB XI sowie den Wohngruppenzuschlag nach §
38a SGB XI.
Auf eine ärztliche Folgeverordnung über HKP in Form von täglich drei Medikamentengaben bewilligte die Beklagte für die streitige
Zeit nur das Richten der Medikamente in einem Wochendispenser. Die verordneten Leistungen rechneten zur einfachsten Behandlungspflege
und seien durch das in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft präsente Personal unentgeltlich zu erbringen (Bescheid vom
25.1.2019; Widerspruchsbescheid vom 22.3.2019). Die Rechnungen des durch die Versicherte mit der verordneten Medikamentengabe
beauftragten Pflegedienstes für die streitige Zeit iH von insgesamt 633,66 Euro sind noch offen.
Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, die Versicherte von den Kosten für HKP vom 1.2. bis 31.3.2019
iH von 633,66 Euro freizustellen (Urteil vom 18.6.2019). Das LSG hat die vom SG zugelassene Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.8.2019): Die Versicherte habe Anspruch auf Freistellung von den Kosten
der Medikamentengabe auch in der ambulant betreuten Wohngruppe. Diese sei ein geeigneter Ort iS von §
37 Abs
2 SGB V und dem Freistellungsbegehren stehe kein vorrangiger gesetzlicher oder vertraglicher Anspruch auf Hilfe bei der Einnahme
der Medikamente gegen in der Wohngruppe tätige Personen oder Dienste entgegen. Insbesondere seien behandlungspflegerische
Maßnahmen nach §
37 SGB V vom Leistungsinhalt des Betreuungsvertrags rechtswirksam ausgeschlossen.
Die Beklagte rügt mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision die Verletzung von §
37 Abs
2 SGB V. Ein Anspruch zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung habe nicht bestanden. Die Maßstäbe des BSG für HKP in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, nach denen diese zur Erbringung einfachster Maßnahmen der Behandlungspflege
selbst verpflichtet seien, würden auch für neue Wohnformen wie ambulant betreute Wohngruppen gelten, die - wie hier - einem
stationären Setting mit Rundumversorgung entsprächen. Hierzu stehe die Auffassung des LSG von einem rechtswirksamen Ausschluss
behandlungspflegerischer Maßnahmen vom Leistungsinhalt des Betreuungsvertrags in Widerspruch.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. August 2019 und des Sozialgerichts Landshut vom 18. Juni 2019 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Der Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag und schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Versicherte von der Beklagten in der ambulant betreuten Wohngruppe Leistungen
für eine dreimal tägliche Medikamentengabe selbst als einfachste Maßnahme der HKP beanspruchen konnte und von den Kosten dieser
Versorgung freizustellen war.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die vorinstanzlichen Urteile, durch die die Beklagte zur Leistung verurteilt
worden ist und deren Aufhebung sie begehrt, sowie der Bescheid der Beklagten vom 25.1.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 22.3.2019, durch die sie die vom 1.2. bis 31.3.2019 begehrten Leistungen der Medikamentengabe abgelehnt hatte. Gegen diese
Bescheide wandte sich die verstorbene Versicherte zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
1 Satz 1, Abs
4 SGG), gerichtet auf Änderung der angefochtenen Bescheide, weil die Beklagte durch diese für die streitige Zeit statt der beantragten
Medikamentengabe das Richten von Medikamenten in einem Wochendispenser bewilligt hatte. Auf die Freistellung von darüber hinausgehenden
Kosten für die erbrachte Medikamentengabe haben die Beteiligten den Streitgegenstand im Revisionsverfahren übereinstimmend
begrenzt.
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Durch den Tod der Versicherten
im Revisionsverfahren ist eine Unterbrechung des Verfahrens nicht eingetreten, da sie durch einen Prozessbevollmächtigten
vertreten worden ist (§
202 Satz 1
SGG iVm §
246 Abs
1 Halbsatz 1
ZPO). Rechtsnachfolger der Versicherten sind zwar derzeit nicht bekannt und noch zu ermitteln. Indes kann der Rechtsstreit durch
den Prozessbevollmächtigten auch für die unbekannten Rechtsnachfolger fortgeführt werden (vgl BSG vom 23.7.2014 - B 8 SO 14/13 R - BSGE 116, 210 = SozR 4-3500 § 28 Nr 9, RdNr 10; BSG vom 12.5.2017 - B 8 SO 14/16 R - BSGE 123, 171 = SozR 4-3500 § 66 Nr 1, RdNr 12; BSG vom 21.9.2017 - B 8 SO 4/16 R - SozR 4-3500 § 17 Nr 1 RdNr 13). Eine Rechtsnachfolge in den Anspruch auf Kostenfreistellung
kommt nach §§
58,
59 SGB I iVm §
1922 Abs
1, §
2039 BGB auch in Betracht (BSG vom 24.9.2002 - B 3 KR 15/02 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 47 S 261; BSG vom 3.8.2006 - B 3 KR 24/05 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 10 RdNr 13 ff; BSG vom 30.11.2017 - B 3 KR 11/16 R - SozR 4-2500 § 37 Nr 15 RdNr 12).
3. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Freistellung von Kosten für HKP ist vorliegend §
37 Abs
4 Alt 1
SGB V (hier §
37 SGB V idF des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes - PpSG vom 11.12.2018, BGBl I 2394). Danach sind den Versicherten die Kosten für
eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse keine Kraft für die HKP stellen kann.
Dies setzt voraus, dass der Versicherte einen Antrag auf die Sachleistung an die Krankenkasse gerichtet und diese einen Anspruch
auf HKP grundsätzlich anerkannt hat. Sind die weiteren Voraussetzungen des §
37 Abs
4 Alt 1
SGB V erfüllt, wandelt sich der die HKP betreffende Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungsanspruch um. Das Vorliegen
der Voraussetzungen des §
37 Abs
4 Alt 1
SGB V einschließlich der Angemessenheit der entstandenen Kosten hat das LSG - vorbehaltlich des Bestehens eines Sachleistungsanspruchs
- zutreffend auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen bejaht.
Über den ausdrücklich geregelten Kostenerstattungsanspruch hinaus ist §
37 Abs
4 Alt 1
SGB V auch auf Fälle der - wie hier - Kostenfreistellung anzuwenden (vgl zur Ergänzung eines Erstattungs- durch einen Freistellungsanspruch
BSG vom 18.6.2020 - B 3 KR 14/18 R - vorgesehen für BSGE = SozR 4-2500 § 13 Nr 52, RdNr 25).
4. Der Kostenfreistellungsanspruch nach §
37 Abs
4 Alt 1
SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch und setzt voraus, dass die selbstbeschaffte HKP zu den Leistungen
gehört, welche die Krankenkasse allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hat (vgl zB BSG vom 30.11.2017 - B 3 KR 11/16 R - SozR 4-2500 § 37 Nr 15 RdNr
15). Rechtsgrundlage für den Sachleistungsanspruch ist hier §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V. Danach erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten
Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen als HKP
Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (Behandlungssicherungspflege).
Nach §
37 Abs
3 SGB V besteht der Anspruch auf HKP nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen
und versorgen kann. Nach §
37 Abs
6 SGB V legt der GBA in Richtlinien nach §
92 SGB V ua fest, an welchen Orten und in welchen Fällen Leistungen nach §
37 Abs
2 SGB V auch außerhalb des Haushalts und der Familie des Versicherten erbracht werden können (hier HKP-RL idF vom 17.9.2009, geändert
am 20.9.2018 mWv 1.12.2018, BAnz AT 30.11.2018 B4, und am 17.1.2019 mWv 22.2.2019, BAnz AT 21.2.2019 B2).
Diese Regelungen für den Anspruch auf Behandlungssicherungspflege hat der Senat dahin konkretisiert, dass der Anspruch zunächst
an allen geeigneten Orten besteht, an denen sich der Versicherte regelmäßig wiederkehrend aufhält, wenn die Leistung aus medizinisch-pflegerischen
Gründen während des Aufenthalts an diesem Ort notwendig ist. Einschränkungen in Bezug auf den Aufenthaltsort ergeben sich
aus der Geeignetheit der räumlichen Verhältnisse und für die Zeit des Aufenthalts in Einrichtungen nur dann, wenn nach den
gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege durch die Einrichtung besteht (BSG vom 30.11.2017 - B 3 KR 11/16 R - SozR 4-2500 § 37 Nr 15 RdNr 25; zuletzt BSG vom 7.5.2020 - B 3 KR 4/19 R - juris RdNr 19).
5. Hiernach lebte die Versicherte in der streitigen Zeit an einem für die Leistung von HKP nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V geeigneten Ort. Nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§
163 SGG), die dieses auch rechtlich zutreffend gewürdigt hat, lebte die Versicherte in einer ambulant betreuten Wohngruppe nach §
38a SGB XI (zu den rechtlichen Maßstäben hierfür BSG vom 10.9.2020 - B 3 P 1/20 R - SozR 4-3300 § 38a Nr 3; BSG vom 10.9.2020 - B 3 P 2/19 R - SozR 4-3300 § 38a Nr 4; BSG vom 10.9.2020 - B 3 P 3/19 R - SozR 4-3300 § 38a Nr 5). Sie hatte in dieser - was hier zu Recht allein im Streit steht - keinen von der Erteilung entsprechender
Einzelaufträge unabhängigen vertraglichen Anspruch auf die Erbringung von Medikamentengabe als einfachster Behandlungspflege
durch in der Wohngruppe tätige Personen oder Dienste (dazu 6.). Dies steht mit den gesetzlichen Bestimmungen im Einklang (dazu
7.). Eine Umgehung der Abgrenzung von ambulanter und stationärer pflegerischer Versorgung liegt hierin nicht (dazu 8.).
6. Einen vertraglichen Anspruch hat das LSG frei von Rechtsfehlern ausgeschlossen, weil weder der Mietvertrag noch die Verträge
der Bewohner untereinander (Gremiumsvereinbarung) oder mit von ihnen beauftragten Personen und Diensten (Präsenzkraftvereinbarung,
Betreuungsvertrag, Pflegevertrag) der Versicherten Anspruch darauf vermittelten, durch eine der in der Wohngruppe anwesenden
oder für deren Mitglieder tätigen Personen oder Dienste dreimal täglich die notwendige Hilfe bei der Einnahme ihrer Medikamente
zu erhalten, ohne dass es dazu eines gesonderten Auftrags durch sie selbst an einen Dienstleister bedurft hätte.
Dass das LSG bei seiner Auslegung der von ihm festgestellten von der Versicherten geschlossenen Verträge und insbesondere
des Betreuungsvertrags revisionsrechtlich zu beachtende Grenzen der Vertragsauslegung verkannt haben könnte, macht die Beklagte
nicht geltend. Die revisionsgerichtliche Überprüfung der Würdigung sogenannter nicht typischer Verträge durch das Tatsachengericht
ist darauf beschränkt, ob dieses Gericht Bundesrecht (§
162 SGG) verletzt hat, also insbesondere die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§
133,
157 BGB) nicht beachtet oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl näher zu den Maßstäben BSG vom 5.3.2014 - B 12 KR 22/12 R - SozR 4-2500 § 229 Nr 17 RdNr 25; BSG vom 25.10.2016 - B 1 KR 6/16 R - SozR 4-2500 § 109 Nr 59 RdNr 19 f). Das ist vorliegend nicht ersichtlich (vgl zur Beanstandung einer Vertragsauslegung
BSG vom 28.5.2003 - B 3 KR 32/02 R - SozR 4-2500 § 37 Nr 2).
Ein Anspruch lässt sich insbesondere nicht den Bestimmungen des vom LSG festgestellten und ausgelegten Betreuungsvertrags
der Versicherten mit dem gemeinschaftlich von den Bewohnern ausgewählten Pflegedienst entnehmen, bei dem es sich nicht um
einen typischen Formularvertrag handelt. Nach der Würdigung des LSG sieht der Vertrag zwar die ständige Anwesenheit eines
Mitarbeiters des Pflegedienstes in der Wohngruppe vor, beschränkt den Leistungsumfang indes auf Leistungen der psychosozialen
Betreuung und Begleitung nach dem
SGB XI gegen eine monatliche Betreuungspauschale von 680 Euro und schließt die Erbringung von Leistungen der HKP nach dem
SGB V vom Leistungsumfang aus.
Nach den Feststellungen des LSG sind Ansprüche auf HKP-Leistungen ersichtlich nicht Regelungsgegenstand des Mietvertrags der
Versicherten. Von vornherein nicht richten können sich solche Ansprüche gegen die von den Bewohnern gemeinschaftlich beauftragte
Person nach §
38a Abs
1 Satz 1 Nr
3 SGB XI, die gesetzlich vorgegeben nur mit Tätigkeiten unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung beauftragt werden
darf. Der Pflegevertrag beinhaltet nach seinem festgestellten Inhalt nur Leistungen der ambulanten Pflege nach §§
36,
38 SGB XI.
7. Gesetzliche Grenzen der möglichen Gestaltung des Leistungsgeschehens in ambulant betreuten Wohngruppen verletzen diese
Verträge nicht. Versicherte verlieren ihren Anspruch auf einfachste Behandlungspflege gegen die Krankenkasse nicht dadurch,
dass sie ihre Versorgung mit häuslicher Pflege gemeinschaftlich mit anderen Pflegebedürftigen organisiert haben.
a) Auf die Erbringung einfachster Behandlungspflege besteht in einer ambulant betreuten Wohngruppe (§
38a SGB XI) kein Anspruch aufgrund gesetzlicher Bestimmungen gegen in ihr tätige Personen oder Dienste. Weder die Regelungen des
SGB V zur Erbringung von HKP noch die des
SGB XI zur Erbringung von Leistungen bei häuslicher Pflege und zur gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung in einer
ambulant betreuten Wohngruppe sehen vor, dass in einer Wohngruppe nach dem
SGB XI der Anspruch auf HKP nach dem
SGB V ausgeschlossen oder auch nur beschränkt ist.
Nach der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung bei ambulanter
pflegerischer Versorgung können Versicherte vielmehr Leistungen der Behandlungspflege als HKP einschließlich der einfachsten
Maßnahmen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann beanspruchen, wenn sie zugleich ambulante Pflegeleistungen
im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung beziehen. Das hat der Gesetzgeber bei Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
zum 1.1.2017 durch die Neufassung von §
13 Abs
2 SGB XI ausdrücklich bekräftigt (Art 2 Nr 6 des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes - PSG II vom 21.12.2015, BGBl I 2424). Danach bleiben die Leistungen nach dem
SGB V einschließlich der Leistungen der HKP nach §
37 SGB V unberührt und es gilt dies auch für krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, soweit diese im Rahmen der HKP nach §
37 SGB V zu leisten sind. Zu einem Zusammentreffen von Leistungen der Krankenkasse zur Behandlungspflege nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V mit Leistungen der Pflegekasse bei häuslicher Pflege kann es danach regelhaft nicht kommen; diese Leistungen sind grundsätzlich
nicht deckungsgleich (vgl zum Verhältnis von HKP nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V zur häuslichen Pflegehilfe nach §
36 SGB XI Kruse in LPK-
SGB XI, 5. Aufl 2018, §
13 RdNr 12; Luik in jurisPK-
SGB XI, 2. Aufl 2017, §
13 RdNr 52,
86, 92, Stand 27.7.2020; Udsching in Udsching/Schütze,
SGB XI, 5. Aufl 2018, §
13 RdNr 8, dort auch RdNr 9a zur Sonderlage der Intensivpflege mwN zur Rechtsprechung des Senats).
b) Das gilt auch, soweit in die Pflegebegutachtung seit 1.1.2017 nach §
15 Abs
2 Satz 1 iVm §
14 Abs
2 Nr
5 Buchst a
SGB XI die Bewältigung von und der selbständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug
ua auf Medikation eingehen sollen (sog Modul 5).
Dass in die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit insoweit Beeinträchtigungen einfließen, deren Kompensation Leistungen
der HKP wie die Medikamentengabe dienen, lässt die gesetzliche Zuständigkeitsabgrenzung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung
und sozialer Pflegeversicherung bei ambulanter pflegerischer Versorgung unberührt und führt zu keinen Leistungsverschiebungen
zwischen beiden Leistungssystemen. Dies zeigt zum einen §
15 Abs
5 SGB XI. Danach sind bei der Pflegebegutachtung auch solche Kriterien zu berücksichtigen, die zu einem Hilfebedarf führen, für den
Leistungen des
SGB V vorgesehen sind, und es gilt dies auch für krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, dh Maßnahmen der Behandlungspflege, bei
denen der behandlungspflegerische Hilfebedarf aus medizinisch-pflegerischen Gründen regelmäßig und auf Dauer untrennbarer
Bestandteil einer pflegerischen Maßnahme in den in §
14 Abs
2 SGB XI genannten sechs Bereichen ist oder mit einer solchen notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang
steht. Zum anderen ist es ausweislich der Gesetzesmaterialien zum PSG II Teil der gesetzlichen Regelungskonzeption, dass der
Bereich Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen Kriterien
erfasst, die dem Themenkreis der selbständigen Krankheitsbewältigung zuzuordnen sind, und dass es hierbei ausdrücklich nicht
darum geht, den Bedarf an Maßnahmen der HKP nach dem
SGB V einzuschätzen. Insoweit gilt §
13 Abs
2 SGB XI, dh diese Leistungen werden auch weiterhin in der häuslichen Versorgung von der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht
und in der vollstationären Versorgung nach §
43 SGB XI von der sozialen Pflegeversicherung (BT-Drucks 18/5926 S 110, 114).
Dass also Hilfebedarfe, für die Leistungen der HKP nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V vorgesehen sind, in die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit einfließen, führt nicht zugleich dazu, dass diese Bedarfe
durch Leistungen der sozialen Pflegeversicherung zu decken sind. Die Einbeziehung dieses Aspekts in die Bewertung von Pflegebedürftigkeit
berührt nicht die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für Maßnahmen der HKP und lässt den Vorrang der gesetzlichen
Krankenversicherung nach §
13 Abs
2 SGB XI uneingeschränkt bestehen (Udsching in Udsching/Schütze,
SGB XI, 5. Aufl 2018, §
14 RdNr 18 und §
15 RdNr 37; Udsching in Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl 2018, §
36 SGB XI RdNr 4).
Das ist auch konsequent. Denn zum einen bezieht sich das Modul 5 weitgehend auf die eigenständige Durchführung und selbständige
Bewältigung krankheitsbezogener Arbeit durch die Betroffenen, womit häufig ein Hilfebedarf bei der Anleitung und Motivation
oder Schulung, also an unterstützenden Betreuungsleistungen, verknüpft ist (BT-Drucks 18/5926 S 110). Solche pflegerischen
Betreuungsmaßnahmen nach §
36 Abs
1 Satz 1, Abs
2 Satz 3
SGB XI sind aber nicht deckungsgleich mit Maßnahmen der HKP nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V, die nach der HKP-RL erforderlich sind, wenn und weil die eigenständige Durchführung und selbständige Bewältigung krankheitsbezogener
Arbeit nicht (mehr) möglich ist, und durch die nicht unterstützende Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird, sondern mit der
die Maßnahmen und Handlungen durch einen Dritten geleistet werden.
Und zum anderen: Würde die Berücksichtigung von Beeinträchtigungen im Bereich des Moduls 5 bei der Ermittlung der Pflegebedürftigkeit
zum Ausschluss von HKP nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V führen, müssten die Hilfebedarfe durch Pflegesachleistungen nach §
36 SGB XI gedeckt werden, die indes im Unterschied zu den Leistungen nach dem
SGB V gedeckelt sind, oder durch selbstbeschaffte Leistungen der Betroffenen auf eigene Kosten. Die Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
sollte indes weder mit Leistungsverschiebungen zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung
verbunden sein (BT-Drucks 18/5926 S 148 f), noch sollte diese zu einer Schlechterstellung der Betroffenen führen (BT-Drucks
18/5926 S 82, 140 f, 144).
c) Das ändert sich auch dann nicht, wenn mehrere Pflegeversicherte Leistungen der häuslichen Pflegehilfe gemeinsam in Anspruch
nehmen.
Diese Möglichkeit besteht seit 1.7.2008 zunächst nach §
36 Abs
1 Satz 5
SGB XI (Art 1 Nr 17 Buchst a des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vom 28.5.2008, BGBl I 874) und nunmehr §
36 Abs
4 Satz 4
SGB XI explizit mit dem Ziel, bei ambulanter Versorgung durch das "Poolen" von Leistungsansprüchen, dh den gemeinsamen Abruf von
Pflege- und Betreuungsleistungen nach dem
SGB XI, im Interesse der Pflegebedürftigen eine wirtschaftlichere Versorgung mit diesen Leistungen zu ermöglichen (BT-Drucks 16/7439
S 38, 54 f). Im Ergebnis können hierdurch die ungedeckten Pflegekosten der Betroffenen geringer gehalten werden. Diesem Regelungsziel
widerspricht es nicht, wenn Versicherte im Rahmen ihrer gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung die Inanspruchnahme
gemeinsam abgerufener häuslicher Pflegehilfe vertraglich auf die Leistungszwecke des
SGB XI beschränken und sich hinsichtlich der Behandlungspflege - auch der einfachsten Art - gegenseitig auf die Geltendmachung ihrer
Ansprüche nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V verweisen.
Anders ist das mit dem "Poolen" verfolgte Ziel auch nicht zu verwirklichen. Mit einer monatlichen Betreuungspauschale von
680 Euro hätte die Versicherte nicht für sich allein die ständige Anwesenheit eines Mitarbeiters des Pflegedienstes sicherstellen
können, dies bedurfte der gemeinschaftlichen Organisation und gemeinsamen Inanspruchnahme der Betreuungsleistungen mit anderen
Pflegebedürftigen. Dieses "Poolen" verlöre aber für die Pflegebedürftigen und den betreuenden Pflegedienst seinen Sinn, wenn
dem Dienst die Erbringung auch individuell verschiedener einfachster Behandlungspflege gegenüber den einzelnen Pflegebedürftigen
als Teil seiner Betreuungsaufgaben gegenüber der Gemeinschaft der Pflegebedürftigen zugewiesen wäre, und zwar nur deshalb,
weil ein Mitarbeiter ständig anwesend ist und diese Behandlungspflegemaßnahmen faktisch womöglich erbringen könnte.
d) Dem steht die Rechtsprechung des Senats zum Anspruch auf die Erbringung von einfachsten Maßnahmen der Behandlungspflege
durch Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht entgegen.
Der Senat hat für Einrichtungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII (bis 31.12.2019; seit 1.1.2020 Neuregelung in Teil 2 des
SGB IX) entschieden, dass diese ein geeigneter Ort für HKP-Leistungen nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V sein können, wenn die Einrichtung die Leistung nicht selbst schuldet. Einrichtungen schulden grundsätzlich selbst einfachste
Maßnahmen der HKP, die für Versicherte in einem Haushalt praktisch von jedem erwachsenen Haushaltsangehörigen erbracht werden
können (vgl §
37 Abs
3 SGB V). Diese gehören in der Regel als gesetzlicher Bestandteil der Eingliederungshilfe und aufgrund der nach den Vereinbarungen
nach §§ 75 ff SGB XII vorzuhaltenden sächlichen und personellen Ausstattung zu den Maßnahmen, die von der Einrichtung der Natur der Sache nach
zu erbringen sind. HKP ist dann insoweit nicht erforderlich (BSG vom 25.2.2015 - B 3 KR 11/14 R - BSGE 118, 122 = SozR 4-2500 § 37 Nr 13).
So liegt es hier bei der von Pflegebedürftigen gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung in einer ambulant betreuten
Wohngruppe (§
38a SGB XI) nach ihrer abweichenden gesetzlichen Regelungskonzeption nicht. Die Rechtsprechung des Senats zur Erbringung von einfachster
Behandlungspflege durch Einrichtungen der Eingliederungshilfe ist daher nicht auf ambulant betreute Wohngruppen übertragbar.
8. Die gesetzeskonforme vertragliche Gestaltung der Leistungserbringung in der Wohngruppe der Versicherten ist im Verhältnis
zur Beklagten entgegen ihrem Vorbringen nicht deshalb unbeachtlich, weil die Versorgung der Pflegebedürftigen in der Wohngruppe
hier ihrer Art nach als vollstationär zu qualifizieren wäre.
In vollstationären Pflegeeinrichtungen nach §
71 Abs
2 SGB XI sind HKP-Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich ausgeschlossen. Die Grenze zwischen ambulanter
und stationärer Pflegeversorgung iS des
SGB XI verläuft für ambulant betreute Wohngruppen nach §
38a Abs
1 Satz 1 Nr
4 Halbsatz 1
SGB XI dort, wo ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen "Leistungen anbietet oder gewährleistet, die
dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach §
75 Abs
1 SGB XI für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen". Abgrenzungsrelevant ist danach weniger die
rechtliche und/oder personelle Gestaltung auf der Anbieterseite als der Umfang der den Pflegebedürftigen zu gewährleistenden
Leistungen. Diese dürfen einem vollstationären Leistungsumfang entsprechen, aber nicht weitgehend entsprechen. Den Pflegebedürftigen
müssen für ihre Ausgestaltung Wahlmöglichkeiten verblieben sein (vgl dazu BSG vom 10.9.2020 - B 3 P 2/19 R - SozR 4-3300 § 38a Nr 4 RdNr 29; BSG vom 10.9.2020 - B 3 P 3/19 R - SozR 4-3300 § 38a Nr 5 RdNr 25).
Dass die Versicherte auf eine iS des §
38a Abs
1 Satz 1 Nr
4 Halbsatz 1
SGB XI weitgehend einer vollstationären pflegerischen Versorgung entsprechende Betreuung in der Wohngruppe verwiesen war und ihr
Wahlmöglichkeiten nicht verblieben waren, ist nach den vom LSG festgestellten und in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender
Weise ausgelegten Verträgen nicht zu erkennen. Dagegen spricht zudem, dass die Versicherte in der streitigen Zeit in einer
nach dem Bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz anerkannten ambulant betreuten Wohngemeinschaft lebte, in der sie Leistungen bei häuslicher Pflege einschließlich des Wohngruppenzuschlags
nach §
38a SGB XI von der Pflegekasse bezogen sowie Leistungen der HKP nach §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V von der Krankenkasse bewilligt erhalten hat, womit die Versorgung der Versicherten von der Beigeladenen wie von der Beklagten
implizit als ambulant qualifiziert worden ist.
9. Soweit aus Sicht von Krankenkassen und Pflegekassen durch die Erbringung von HKP-Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung
und Leistungen bei häuslicher Pflege zulasten der sozialen Pflegeversicherung gegenüber Versicherten in ambulant betreuten
Wohngruppen die Gefahr von Überzahlungen der diese Leistungen erbringenden Dienste bestehen sollte, ist dieser durch die Ausgestaltung
der entsprechenden Vergütungsvereinbarungen mit den ambulanten Diensten zu begegnen. Die Leistungsansprüche der Versicherten
werden hiervon nicht berührt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.