Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels; Verletzung des
Anspruchs eines privaten Pflegeversicherungsunternehmens auf rechtliches Gehör
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach der Pflegestufe I ab Januar
2003. Die Beklagte - ein privates Versicherungsunternehmen - lehnte einen entsprechenden Antrag des Klägers nach medizinischer
Begutachtung ab, weil die maßgeblichen Voraussetzungen zur Anerkennung von Pflegebedürftigkeit nicht erfüllt seien. Das daraufhin
angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab Januar 2003 verurteilt (Urteil vom 30.3.2006).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und hinsichtlich des Zinsausspruches ergänzt
(Urteil vom 11.12.2008). Hiergegen richtet sich die von der Beklagten eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde, mit der das Vorliegen
eines erheblichen Verfahrensmangels gerügt wird.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde - ihre Zulässigkeit unterstellt - ist unbegründet. Es ist nicht ersichtlich, dass dem LSG der
von der Beklagten behauptete Verfahrensmangel unterlaufen ist.
1. Zuvorderst rügt die Beklagte die Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und damit verbunden des Rechts
auf ein faires Verfahren, weil sie am 2.4.2009 ein berufungszurückweisendes Urteil des LSG zugestellt bekommen habe, welches
auf Grund einer mündlichen Verhandlung vom 11.12.2008 ergangen sei, zu der sie aber keine Ladung erhalten habe. Sie habe mit
einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gerechnet, weil sie dazu bereits mit Schriftsatz vom 24.7.2007 ihr Einverständnis
erteilt habe; eine etwaige spätere Terminsladung sei ihr nicht zugegangen.
a) Ein solcher Verfahrensablauf - seine Richtigkeit unterstellt - könnte grundsätzlich geeignet sein, den behaupteten Verfahrensfehler
zu ergeben, denn nach §
62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. §
62 SGG konkretisiert dabei den verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 GG) für das sozialgerichtliche Verfahren. Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht
werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (§
128 Abs
2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 §
153 Nr
1; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird
(BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f; BSG, Beschluss vom 18.2.2009 - B 9 VJ 7/08 B - mwN). Dazu gehört auch, dass ein Beteiligter die Möglichkeit haben muss, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen (vgl
Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, §
62 RdNr 6a mwN).
b) Der vorliegende Fall zeichnet sich ausweislich der erst- und zweitinstanzlichen Streitakten und nach dem Ergebnis des vom
Senatsvorsitzenden am 20.7.2009 durchgeführten Erörterungstermins allerdings durch folgende Auffälligkeiten aus:
- Die mit einfachem Brief versandte Ladung des SG zum Termin am 30.3.2006 ist der Beklagten zugegangen, nicht jedoch die mit einfachem Brief und gegen Empfangsbekenntnis (EB)
am 10.5.2006 verschickte Ausfertigung des SG-Urteils vom 30.3.2006; ein Briefrücklauf an das SG ist nach Aktenlage nicht festzustellen. Erst die erneute Zustellung des erstinstanzlichen Urteils gemäß §
63 Abs
2 Satz 1
SGG, §
176 ZPO mit Postzustellungsurkunde (PZU) vom 20.6.2006 ist erfolgreich gewesen.
- Die Terminsladung des LSG zur mündlichen Verhandlung am 11.12.2008 ist mit einfachem Brief am 11.11.2008 durch die Geschäftsstelle
versandt worden. Diese Ladung hat die Beklagte nach ihrem Vortrag nicht erhalten; ein Briefrücklauf an das LSG ist nach Aktenlage
nicht festzustellen.
- Die mit einfachem Brief versandte Niederschrift des LSG vom 11.12.2008 hat die Beklagte am 29.12.2008 erhalten, nicht jedoch
die mit einfachem Brief und gegen EB am 17.3.2009 verschickte Ausfertigung des LSG-Urteils vom 11.12.2008; ein Briefrücklauf
an das LSG ist nach Aktenlage nicht festzustellen. Erst die erneute Zustellung des zweitinstanzlichen Urteils gemäß §
63 Abs
2 Satz 1
SGG, §
176 ZPO mit PZU vom 2.4.2009 ist erfolgreich gewesen.
- Alle bei der Beklagten nicht angekommenen Schriftstücke sind parallel auch an den Prozessbevollmächtigten des Klägers versandt
worden und dort zeitnah und bestimmungsgemäß eingegangen.
Der Senat hat versucht, diese Auffälligkeiten aufzuklären, und ua einen Erörterungstermin mit Beweisaufnahme durchgeführt
(zu deren Zulässigkeit auch im Revisionsverfahren vgl Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 163 RdNr 6 mwN).
Die Beklagte hat dazu erklärt, der als Zeuge geladene Vorsitzende des Vorstandes könne keine Auskünfte zu organisatorischen
Abläufen erteilen und werde nicht erscheinen; hierzu sei allenfalls der Leiter des Referats "Private Pflegeversicherung" in
der Lage. Dessen Ladung sei jedoch überflüssig, weil auch dieser nur bestätigen könne, dass richtig adressierte Schreiben
von der Poststelle angenommen und unverzüglich an den zuständigen Fachbereich weitergeleitet würden; dort würden sie den jeweils
bearbeitenden Mitarbeiter erreichen. Weitere Angaben könne sie zu diesem Thema nicht machen; dies hat sie durch eine schriftliche
"Bestätigung" ihres Vorstandes vom 4.8.2009 nochmals bekräftigt.
c) Terminsbestimmungen und Ladungen sind nach §
63 Abs
1 Satz 2
SGG idF durch das 6. SGGÄndG vom 17.8.2001 (BGBl I S 2144) grundsätzlich nicht mehr zuzustellen, sondern "nur" noch bekannt zu
geben. Erfolgt gleichwohl eine förmliche Zustellung der Ladung - etwa gegen EB oder mit PZU -, so wird damit der Nachweis
der Bekanntgabe erbracht; der mögliche Vorwurf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist in aller Regel ausgeräumt.
Daraus folgt aber nicht, dass in allen anderen Fällen der "schlichten" Bekanntgabe der Ladung immer von einer Verletzung des
§
62 SGG auszugehen ist, wenn von Seiten eines Beteiligten behauptet wird, die Ladung nicht erhalten zu haben. Ob dies zutrifft, hat
das Gericht - auch noch im Rechtsmittelverfahren - von Amts wegen zu prüfen. Dabei ist es nicht an die allgemeinen Vorschriften
über das Beweisverfahren gebunden, sondern es entscheidet im Wege des sog Freibeweises; die richterliche Überzeugungsbildung
muss sich nicht auf ein förmliches Beweisverfahren gründen, gleichwohl sind aber die Garantien des rechtsstaatlichen Verfahrens
zu beachten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, Vor § 51 RdNr 20 und § 64 RdNr 6a - jew mit zahlr Nachw aus der
Rspr). Dies gilt für alle prozessualen Komponenten des Verfahrens und damit auch für die Frage, ob eine ordnungsgemäße Ladung
der Beteiligten erfolgt ist.
Hiervon ausgehend ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass die am 11.11.2008 vom
LSG gefertigte und abgesandte Terminsladung nicht bestimmungsgemäß in den Herrschaftsbereich der Beklagten gelangt ist. Hiergegen
spricht vor allem, dass weder ein entsprechender Briefrücklauf beim LSG zu verzeichnen ist noch Gründe erkennbar sind, weshalb
das ordnungsgemäß adressierte Schriftstück des LSG nicht in München angekommen sein sollte. Zudem ist die Häufung angeblicher
Zustellungsmängel allein in diesem Verfahren - gerade bei Zusendung von Schriftstücken gegen EB - nicht nachvollziehbar, zumal
die Beklagte hierfür keine Begründung angeben kann. Dies gilt umso mehr, als die an den Prozessbevollmächtigten des Klägers
parallel verschickten Postsendungen dort zeitnah und bestimmungsgemäß angekommen sind. Sowohl die Beklagte (Sitz in München)
als auch der Prozessbevollmächtigte des Klägers (Kanzlei in Berlin) sind nicht am Gerichtsort des LSG in Potsdam ansässig;
in beiden Fällen handelt es sich also um überörtliche und nicht am Gerichtssitz bewirkte Zustellungen, so dass auch insoweit
keine unterschiedliche Sachverhaltsbewertung begründet ist.
Für eine weitere Beweiserhebung - etwa durch Ladung und Vernehmung des Leiters des Referats "Private Pflegeversicherung" bei
der Beklagten - hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Wie die Beklagte durch schriftliche "Bestätigung" ihres Vorstandes
vom 4.8.2009 unmissverständlich ausgeführt und in ihrem Schriftsatz vom 7.8.2009 nochmals bekräftigt hat, ist keine weitere
sachliche Aufklärung zu erwarten; deshalb besteht auch für den Senat keine weitergehende Verpflichtung, in Erfüllung seiner
Amtsermittlungspflicht (§
103 Satz 1
SGG) tätig zu werden.
2. Darüber hinaus rügt die Beklagte das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung, weil das LSG unter dem 30.7.2007 mitgeteilt
hat: "Der erkennende Senat (auch der Berichterstatter) teilt die dargelegte Auffassung zu den Schiedsgutachten in der Privaten
Krankenversicherung. Ich gebe Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme". Daraus habe sie entnommen, dass das LSG ihrer Argumentation
folgen wolle; das anschließende und für sie negative Berufungsurteil habe sie völlig überrascht. Der Senat vermag indes einen
Verfahrensfehler nicht zu erkennen. Zum einen konnte die Beklagte nach dem Hinweis des LSG keinesfalls davon ausgehen, ihrer
Berufung werde stattgegeben. Denn der Hinweis bezog sich auf den vorangegangenen Schriftsatz der Beklagten vom 24.7.2007,
in welchem diese die ihrer Meinung nach einschlägige BSG-Rechtsprechung zu den Schiedsgutachten wiedergegeben hatte. Eine
inhaltliche Festlegung des LSG auf einen bestimmten Ausgang des Rechtsstreits war damit nicht verbunden. Zum anderen muss
ein Gericht nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden; eine unfaire Überraschungsentscheidung und damit
ein durchgreifender Verfahrensfehler ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt
(vgl BVerfG vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 -, BVerfGE 22, 267; BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 -, BVerfGE 96, 205), etwa wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, wenn es den Vortrag
eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt oder wenn es auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage,
die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht (vgl BSG, Beschluss vom 18.2.2009 - B 9 VJ 7/08 B - mwN). Eine derartige besondere Fallgestaltung ist vorliegend nicht ersichtlich.
3. Der Senat sieht Veranlassung, darauf hinzuweisen, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Streitsachen der privaten
Pflegeversicherung nach dem
SGB XI gerichtliche Zustellungen an private Versicherungsunternehmen gemäß §
63 Abs
2 SGG iVm §
174 ZPO auch gegen EB bewirken können. Denn nach §
174 Abs
1 ZPO kann ein Schriftstück an einen Rechtsanwalt, Notar, Gerichtsvollzieher, Steuerberater oder an eine sonstige Person, bei der
auf Grund ihres Berufes von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann, sowie an eine Behörde, Körperschaft oder
Anstalt des öffentlichen Rechts gegen EB zugestellt werden. Die privaten Pflegeversicherungsunternehmen sind dabei nicht ausdrücklich
genannt; sie sind auch keine Behörden iS von § 1 Abs 2 SGB X. Sie gelten aber - ähnlich wie Behörden - als juristische Personen mit "erhöhter Zuverlässigkeit". Das ergibt sich zum einen
aus §
63 Abs
2 Satz 2
SGG, wonach die Regelung des §
174 ZPO auch auf die nach §
73 Abs
2 Satz 2 Nr
3 bis 9
SGG zur Prozessvertretung zugelassenen Personen anzuwenden sind. Das sind ua berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft
(Nr 6), Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (Nr 7) sowie bestimmte rechtsberatende bzw prozessvertretende Organisationen
(Nr 9). Privatrechtlich verfasste Pflegeversicherungsunternehmen sind dort nicht gelistet, wohl aber in §
73 Abs
4 Satz 4
SGG; dort wird ihnen wie Behörden und juristischen Personen des öffentlichen Rechts ausdrücklich ein Selbstvertretungsrecht vor
dem BSG eingeräumt. Private Pflegeversicherungsunternehmen genießen damit das sog Behördenprivileg (vgl dazu Leitherer in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 73 RdNr 51) und besitzen ähnlich wie die in §
73 Abs
2 Satz 2 Nr
3 bis 9
SGG genannten Institutionen eine besondere Stellung im sozialgerichtlichen Verfahren. Zum anderen räumt das
SGB XI den privaten Pflegeversicherungsunternehmen einen Stellenwert ein, der demjenigen der Pflegekassen in der sozialen Pflegeversicherung
vergleichbar ist (§
1 Abs
2 SGB XI): So besteht Versicherungspflicht nach §
23 Abs
1 SGB XI, es gelten weitgehend einheitliche Versicherungsbedingungen (vgl §
110 SGB XI) und es ist das Gleichwertigkeitsgebot des §
23 Abs
2 SGB XI zu beachten. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist mithin als pluralistisches System ausgestaltet, dem die Träger der sozialen
und privaten Pflegeversicherung gleichermaßen verpflichtet sind. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, Pflegekassen und private
Pflegeversicherungsunternehmen bei der Frage, ob ihnen gerichtliche Schriftstücke gegen EB zugestellt werden können, gleich
zu behandeln (vgl auch BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 13, juris RdNr 8).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.