Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem SGB XII
Art der Auszahlung
Unterbliebene Bestellung eines besonderen Vertreters für einen prozessunfähigen Kläger
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Art
der Auszahlung von Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch
Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Der dauerhaft erwerbsgeminderte
Kläger, der nicht unter Betreuung steht, bezieht neben Leistungen der
Rentenversicherung von der Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem 4. Kapitel des SGB
XII. Für seine Ein-Zimmer-Wohnung (Kaltmiete 400 Euro, Heiz- und Nebenkosten
100 Euro) bewilligte die Beklagte nur die aus ihrer Sicht angemessenen Kosten
(Kaltmiete 321 Euro, Heiz- und Nebenkosten 50,16 Euro). Nachdem der Kläger in
einem Rechtsstreit hierüber teilweise obsiegt hatte (Urteil des
Bayerischen Landessozialgerichts <LSG> vom 20.3.2014), erhöhte
die Beklagte die Leistungen für Unterkunft und Heizung und zahlte nach Anhörung
des Klägers und unter Hinweis auf eine anhängige Räumungsklage des Vermieters
des Klägers den Nachzahlungsbetrag in Höhe von 2045,84 Euro im Juni 2014 direkt
an den Vermieter aus (Bescheid vom 11.6.2014; Widerspruchsbescheid vom
15.2.2016). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg
(Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Augsburg vom 28.6.2016;
Urteil des LSG vom 29.11.2018). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt,
wegen der anhängigen Räumungsklage sei die Direktzahlung an den Vermieter
rechtmäßig gewesen; die Beklagte habe im Zeitpunkt der Auszahlung noch davon
ausgehen können, dass die Kündigung zurückgenommen werde.
Gegen die Nichtzulassung der Revision
im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit der Beschwerde und macht ua
geltend, schon das LSG sei davon ausgegangen, es liege bei ihm eine
Wahnkrankheit vor, ohne allerdings die Prozessfähigkeit zu klären. Er sei wegen
dieser Erkrankung nicht prozessfähig und also nicht ordnungsgemäß vertreten
gewesen.
II
Die Beschwerde ist zulässig und
begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72
Abs 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG), weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung
eines besonderen Vertreters für den bereits im Klage- und Berufungsverfahren
prozessunfähigen Kläger abgesehen hat. Dieser war dadurch in der mündlichen
Verhandlung beim LSG, auf die das Urteil ergangen ist, nicht wirksam vertreten
(§
202 SGG iVm §
547 Nr 4
Zivilprozessordnung <ZPO>);
hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das
Urteil des LSG auf ihm beruht. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit
Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a
Abs 5
SGG).
Die Prozessunfähigkeit des Klägers
stellt kein Verfahrenshindernis für die vorliegende Beschwerde dar. Ein
Rechtsmittel, mit dem sich ein Beteiligter auf seine Prozessunfähigkeit beruft,
ist zunächst ohne Rücksicht auf eine möglicherweise bestehende
Prozessunfähigkeit zulässig; entsprechend ist auch die zur Einlegung des
Rechtsmittels erteilte Prozessvollmacht wirksam. Die Prozessfähigkeit ist
grundsätzlich solange zu unterstellen, bis darüber rechtskräftig entschieden
ist (vgl nur Bundessozialgericht <BSG> vom 3.7.2003 - B 7 AL
216/02 B - BSGE 91, 146 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1, RdNr 6). Der Senat
musste dem Kläger für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde keinen
besonderen Vertreter (vgl §
72 SGG) bestellen ("kann"),
nachdem er zur Überzeugung gelangt ist, dass eine Prozessunfähigkeit vorliegt
(dazu sogleich). Im vorliegenden Verfahren war dem
gesetzgeberischen Anliegen, dass der Prozessunfähige im Verfahren durch einen
Prozessfähigen handeln kann, jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass er
durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten und der Rechtsstreit wegen eines
von ihm gerügten Verfahrensmangels ohnehin an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen war (vgl zuletzt BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 57/14 B -
juris RdNr 6 mwN).
Gemäß §
72 Abs
1 SGG kann der
Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen
Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes,
Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen,
dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist
eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71
Abs 1
SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104
Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) ist, weil sie sich gemäß §
104 Nr 2
BGB in einem
nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage
ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen
(vgl BSG vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B - SozR 3-1500 § 160a Nr
32).
Zur Überzeugung des Senats liegt bei
dem Kläger eine generelle Prozessunfähigkeit zur Führung sozialgerichtlicher
Verfahren vor. Nach den Feststellungen des Facharztes für Psychiatrie und
Psychotherapie Dr. S. in seinem Sachverständigengutachten vom 18.7.2020, das er
nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstellt hat, liegt bei dem Kläger
eine chronifizierte paranoide Schizophrenie (ICD-10 F 20.0) mit formalen
Denkstörungen und wahnhaften Realitätsverkennungen vor. Zur Begründung seiner
Diagnosestellung hat der Sachverständige ausgeführt, dass eine Vielzahl von
Auffälligkeiten auf psychopathologischer Ebene bestünden, insbesondere ein
erheblich gestörtes formales Denken, einhergehend mit einem wahnhaften
Beeinträchtigungserleben (im Sinne einer wahnhaften Realitätsverkennung),
sodass das Vollbild eines Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahns bestehe.
Neben dem vorliegenden sog Erstrangkriterium einer paranoiden Schizophrenie
(Beeinflussungs-, Verfolgungs- und Querulantenwahn), die über das
Krankheitsbild einer wahnhaften Störung deutlich hinausginge, bestünden auch
sog Zweitrangkriterien (Neologismen, Störungen des Gedankenflusses,
Danebenreden). Die Schizophrenie sei vorliegend wesentliche Grundlage für das
Symptom der Querulanz. Die mit einer nicht nur vorübergehenden Störung der
Geistestätigkeit verbundene Erkrankung habe aufgrund der Generalisierung der
gestörten Denkinhalte und der Durchdringung dieser in nahezu alle
Lebensbereiche nicht nur partielle Auswirkungen. Dem Kläger seien Betrachtungen
(seiner Umwelt) nur von seinem krankhaft veränderten Standpunkt aus möglich.
Selbstreflexivität, Einsichtsfähigkeit, Realitätsbezug, die Fähigkeit zur
kritischen Distanzierung von bestimmten Vorstellungen und ein Abwägenkönnen
seien allesamt in massiver, tiefgreifender und chronischer Art gestört. Dieser
Zustand liege seit vielen Jahren vor, in jedem Fall während des vorangegangenen
Klage- und Berufungsverfahrens; das Krankheitsbild sei
hochchronifiziert.
Dem Schluss des Sachverständigen,
dass aufgrund der vorliegenden Erkrankung beim Kläger eine Einschränkung der
freien Willensbildung und somit der prozessualen Geschäftsfähigkeit vorliegt,
folgt der Senat nach eigener Prüfung uneingeschränkt. Die Kernaussagen des
Gutachtens sind insbesondere im Verhalten des Klägers gegenüber dem Gericht
vollumfänglich nachvollziehbar; es wird sowohl das von dem Sachverständigen
beschriebene Krankheitsbild erkennbar als auch die Auswirkungen auf die
Prozessführung. Der Kläger hat während des Gerichtsverfahrens mehrfach Anfragen
des LSG erst nach mehrmaliger Erinnerung und dann nicht sachbezogen
beantwortet; er hat immer wieder Schreiben übersandt, deren Inhalt von dem vom
Sachverständigen beschriebenen wahnhaften Verfolgungs- und
Beeinträchtigungserleben geprägt sind und die mit dem eigentlichen Klageziel in
keinerlei nachvollziehbarem Zusammenhang stehen. Dieses Verhalten widerspricht
einer vernünftigen Prozessführung und macht die von dem Sachverständigen
beschriebene Durchdringung der gestörten Denkinhalte in nahezu alle
Lebensbereiche und die Überlagerung der Willensbestimmung von Wahninhalten
nachvollziehbar.
Das LSG hätte daher einen besonderen
Vertreter bestellen müssen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest,
muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden,
wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer
nicht bestellt ist (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 23/11 R - SozR
4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9; BSG vom 28.8.2018 - B 8 SO 13/18 B - juris RdNr
6). Hiervon kann zwar ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter
Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen
"offensichtlich haltlos" ist (vgl BSG vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 - BSGE
5, 176 = Breith 1958, 284); dies kann insbesondere bei absurden
Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich
unschlüssigem Vorbringen anzunehmen sein, etwa wenn kein konkreter
Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen
Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits
mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl BSG vom
15.11.2012, aaO, RdNr 10 ff mwN). Eine solche Fallgestaltung liegt
hier aber bei der vorliegend im Streit stehenden, gegen den Willen des
Leistungsberechtigten erfolgten Art der Leistungserbringung nach § 42 Nr 4
(in der bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung) iVm § 35 Abs 1
Satz 3 bis 5 SGB XII erkennbar nicht vor.
Das LSG wird ggf auch über die
Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.