Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren
Bezeichnung des Verfahrensmangels des Fehlens einer ordnungsgemäßen Vertretung
Anforderungen an die partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten
Gründe:
I
Im Streit sind Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem 4. Kapitel
des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Der Kläger, der eine Rente wegen Alters bezieht, beantragte für die Zeit ab Dezember 2012 vom beklagten Träger der Sozialhilfe
die ergänzende Gewährung von Grundsicherungsleistungen, die dieser ablehnte. Die Klage hat im Wesentlichen keinen Erfolg gehabt
(Urteil des Sozialgerichts [SG] Augsburg vom 14.10.2014). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten zur Zahlung
von bezifferten Leistungen für einige, im Einzelnen aufgeführte Monate der Jahre 2013, 2014, 2015, 2016 verurteilt und die
Berufung des Klägers im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 26.9.2016).
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde an das Bundessozialgericht (BSG). Der Vorsitzende hat nach Eingang eines vom Amtsgericht (AG) Aichach zu den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuung
eingeholten psychiatrischen Gutachtens Rechtsanwältin F. als besondere Vertreterin für den Kläger bestellt (Beschluss vom
1.9.2017; zugestellt am 7.9.2017). Diese macht geltend, das LSG habe nicht beachtet, dass der Kläger prozessunfähig sei.
II
Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen
des §
160a Abs
2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Die Beschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensverstoß, weil das LSG zu Unrecht
von einer Prozessfähigkeit des Klägers ausgegangen ist und er deshalb nicht wirksam vertreten war (§
202 SGG iVm §
547 Nr 4
Zivilprozessordnung [ZPO]); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht. Der
Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl §
160a Abs
5 SGG).
Der Kläger ist und war im gesamten Verfahren prozessunfähig. Ihm ist eine sachgerechte Prozessführung nicht möglich. Prozessunfähig
ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl §
71 Abs
1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des §
104 Bürgerlichen Gesetzbuches (
BGB) ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung
der Geistestätigkeit befindet (vgl §
104 Nr 2
BGB) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (dazu etwa Lange in
jurisPK-
BGB, 8. Aufl 2017, §
104 RdNr 12 ff mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen (Geschäfts- und) Prozessunfähigkeit
führen, bei der sich die Prozessunfähigkeit auf einen gegenständlich begrenzten Lebensbereich beschränkt (stRspr seit BGHZ
18, 184, 186 f; 30, 112, 117 f). Soweit eine solche partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten
Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65). Eine Prozessunfähigkeit zumindest bezogen auf die Führung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren liegt und lag
nach dem Ergebnis der Ermittlungen zur Überzeugung des Senats vor; ob die Geschäftsfähigkeit des Klägers in weiteren Bereichen
aufgehoben ist, wovon die vom AG Aichach bestellten Sachverständigen ausgehen, kann offenbleiben.
Nach den Feststellungen des Psychiaters und früheren Leiters der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen
Klinik und Poliklinik der L. -M. -U. M. Prof. Dr. N. N. sowie des Dr. med. Dipl.-Psych. J. K. in dem vom AG Aichach in Auftrag
gegebenen neuropsychiatrischen Gutachten (vom 25.4.2017) besteht beim Kläger eine anhaltende wahnhafte Störung (ICD-10 F22),
wobei differentialdiagnostisch eine organisch wahnhafte Störung (ICD-10 F09) in Betracht zu ziehen sei. Nach den Ausführungen
der Sachverständigen zeigen sich auf Grundlage der Akten und der Exploration deutliche Hinweise auf das Vorliegen von inhaltlichen
Denkstörungen in Form von Beeinträchtigungs- und Verfolgungserleben, die seit mehreren Jahren bestehen und sich zunehmend
verfestigen. Krankheitsbedingt sei eine Einengung auf die inhaltlichen Denkstörungen zu erkennen; daneben ergäben sich auf
Grundlage einer Testuntersuchung ("Montreal-Cognitive-Assessment") Hinweise auf eine Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit
und der Gedächtnisfähigkeit und damit auf eine neurodegenerative Erkrankung.
Auf Grundlage dieser nachvollziehbar erhobenen Befunde haben die Sachverständigen im Einzelnen überzeugend ausgeführt, dass
wegen der bestehenden Wahnsymptome eine mangelnde Wahrnehmung der Realität vorliegt und sich ausreichende Hinweise dafür ergeben
haben, dass der Kläger nicht in der Lage ist, seinen Willen in den Bereichen, die vom Wahn betroffen sind, frei zu bestimmen
und entsprechend seiner Einsicht zu handeln. Die Symptomatik besteht danach schon langfristig. Dem Schluss der Sachverständigen,
die Fähigkeit, eigene Angelegenheiten vor Gericht zu vertreten, sei durchgehend massiv eingeschränkt und eingeschränkt gewesen,
folgt der Senat nach eigener Prüfung uneingeschränkt. Die Einschätzung der auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie und
damit bei der Beurteilung von Schuld- und Prozessfähigkeit erfahrenen Sachverständigen wird durch das Verhalten des Klägers
im Verlauf des Prozesses bestätigt. Die von den Sachverständigen beschriebenen Defizite sind in den Schreiben des Klägers
erkennbar; insbesondere hat der Kläger selbst in verschiedenen Schriftsätzen an das LSG das vorliegende Verfahren mit den
verschiedenen Anschuldigungen an seine Nachbarn verknüpft, die nach den Feststellungen der Sachverständigen Ausdruck seiner
wahnhaften Störung sind. Zur Überzeugung des Senats ist damit von Klageerhebung an von (zumindest partieller) Prozessunfähigkeit
auszugehen; ein Fall der Unterbrechung nach §
202 SGG iVm §
241 ZPO liegt deshalb nicht vor.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.