Gründe:
I
Streitig ist die Zuerkennung verschiedener Versorgungsleistungen an die Kläger nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz.
Die Kläger sind die Eltern des am 23.9.1991 geborenen und am 19.2.1997 unter bisher nicht vollständig aufgeklärten Umständen
in dem Fluss N. ertrunkenen F.. Insbesondere ist nicht vollständig geklärt, wie F. in den Hochwasser führenden Fluss geraten
ist. Die Kläger machen geltend, er sei von dem am 23.8.1992 geborenen Y. in den Fluss gestoßen worden.
Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurden von verschiedenen Beamten mehrere Kinder vernommen, die Y. und F. auf bzw in
der Nähe einer Brücke über die N. gesehen hatten. Ferner wurden der Bruder sowie die Mutter von Y. über dessen Äußerungen
nach dem Vorfall befragt.
Die im Juni 1998 von den Klägern gestellten Versorgungsanträge lehnte das beklagte Land mit Bescheiden vom 20.3.2000 und 31.3.2000
in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 29.8.2000 und 6.9.2000 ab, weil ein vorsätzlich tätlicher Angriff auf F. nicht
feststellbar nachgewiesen sei. Es sei nicht bewiesen, dass Y. den F. gewaltsam und in feindlicher Absicht in den Fluss geschubst
habe.
Das von den Klägern angerufene Sozialgericht Hildesheim (SG) hat durch Urteil vom 10.6.2004 (S 7 VG 31/00) und Gerichtsbescheid vom 23.3.2005 (S 7 VG 29/00) die Klagen abgewiesen. Mit Urteilen vom 19.7.2006 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) die Berufungen
zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Ansprüche scheiterten daran, dass es sich bei dem Ereignis vom 19.2.1997
nach allen drei denkbaren Sachverhaltsvarianten nicht um einen vorsätzlichen tätlichen Angriff gehandelt habe. Selbst wenn
Y. den F. in den Fluss geschubst haben sollte, fehle es an einem tätlichen Angriff oder zumindest am Vorsatz. In diesem Fall
liege nach Auffassung der gehörten Sachverständigen aus entwicklungspsychologischer Sicht keine willentliche Handlung des
Y. vor.
Auf die dagegen eingelegten Revisionen der Kläger hat das Bundessozialgericht (BSG) mit zwei Urteilen vom 8.11.2007 (- B 9/9a
VG 2/06 R - und - B 9/9a VG 3/06 R - = SozR 4-3800 § 1 Nr 11) die Urteile des LSG aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen: Entgegen der Auffassung des LSG lasse sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger
tätlicher Angriff des Y. auf F. nach dem Stand der Sachverhaltsaufklärung nicht aus Rechtsgründen ausschließen. Mit natürlichem
Vorsatz vermöge auch zu handeln, wer weder seine Tat moralisch bewerten noch seine Impulse kontrollieren könne. Die Unfähigkeit,
das Unrecht der Tat einzusehen, betreffe die Schuldfähigkeit des Täters, auf die es nach §
1 OEG nicht ankomme. Dass es sich bei dem Vorfall am 19.2.1997 lediglich um eine unter Kindern übliche Rangelei oder Schubserei
gehandelt habe, sei bisher nicht festgestellt. Danach komme es entscheidend auf den äußeren Ablauf des Geschehens an, den
das LSG, allein gestützt auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle von Zeugen - nicht aber des Y. -, noch nicht hinreichend aufgeklärt
und auch mit den von ihm angenommenen Sachverhaltsvarianten nicht erschöpfend beschrieben habe.
Das LSG hat danach die beiden Rechtsstreite zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Sodann hat es in der mündlichen
Verhandlung vom 22.4.2010 die Zeugen Y. und G. sowie C. vernommen. Durch seine Berichterstatterin hat es im Termin am 27.5.2010
die Zeugen M. (vormals W.) und S. gehört. In der mündlichen Verhandlung des LSG vom 22.7.2010 haben die Kläger neben ihren
Sachanträgen hilfsweise beantragt,
die damals aufnehmenden Polizeibeamten KHM G., POK B. und PKH S. - sowie den Polizisten namens K., wie im Schriftsatz vom
14.6.2010 benannt, zeugenschaftlich zu vernehmen zu dem Beweisthema, dass ihr Sohn zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw
Opfer eines tätlichen Angriffs war.
Durch Urteil vom 22.7.2010 hat das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen
auf folgende Erwägungen gestützt: Nach Ausschöpfung sämtlicher Beweismittel habe der Ablauf des Geschehens am 19.2.1997 nicht
mehr aufgeklärt werden können. Bedeutende Beweismittel seien die polizeilichen Vernehmungsprotokolle, die im unmittelbaren
bzw zeitnahen Anschluss an das Geschehen aufgrund der Aussagen der Kinder C., G. und M. angefertigt worden und im vorliegenden
Rechtsstreit urkundsbeweislich heranzuziehen seien. Aus diesen zeitnahen polizeilichen Vernehmungsprotokollen lasse sich nicht
eindeutig auf einen bestimmten Geschehensablauf schließen. Auch die Vernehmung der Zeugen durch den Senat habe keine weitere
Aufklärung des Geschehenshergangs erbringen können. Die Vernehmung weiterer Zeugen erachte der Senat nicht für erforderlich.
Insbesondere sei die von den Klägern hilfsweise beantragte Vernehmung der namentlich genannten Polizeibeamten nicht geboten.
Denn insoweit könne der Senat unterstellen, dass die Aussagen der Kinder von diesen Beamten richtig und vollständig in den
Protokollen niedergelegt worden seien. Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeibeamten selbst Zeugen des Geschehens am 19.2.1997
gewesen seien, lägen nicht vor. Dies sei auch von den Klägern nicht behauptet worden.
Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger als Verfahrensmangel
die Verletzung des §
103 SGG geltend. Das LSG sei ohne hinreichende Begründung ihrem mit Schriftsatz vom 14.6.2010 und erneut in der mündlichen Verhandlung
gestellten Beweisantrag auf Vernehmung der Polizeibeamten nicht gefolgt, die im Februar 1997 die Kinder vernommen hätten.
Diese hätten als Zeugen auch Angaben über das Verhalten der Kinder während der Vernehmungen machen können. Dies gelte insbesondere
für KHM G., der den Augenzeugen C. vernommen habe. Zudem habe das LSG die vorliegenden Beweismittel unzutreffend gewürdigt.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 22.7.2010 ist unter
Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§
103 SGG) ergangen. Dieser Verfahrensmangel ist von den Klägern schlüssig gerügt worden. Er führt, anders als die gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossene Rüge unzutreffender Beweiswürdigung (§
128 Abs
1 Satz 1
SGG), gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 iVm §
160a Abs
5 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Das LSG hat seine in §
103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es entgegen dem von den Klägern in der mündlichen
Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag, die im Februar 1997 im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen tätig gewesenen
Polizeibeamten nicht als Zeugen ua dazu befragt hat, wie sich die Kinder während ihrer damaligen Vernehmungen verhalten haben.
Zwar ist das im Rahmen des Hilfsantrags aufgeführte Beweisthema, dass F. "zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw Opfer eines
tätlichen Angriffs war", einerseits zu allgemein formuliert und andererseits nicht allein auf die Aufklärung von Tatsachen
gerichtet ("tätlicher Angriff" ist ein Rechtsbegriff). Die Kläger hatten jedoch mit Schriftsatz vom 14.6.2010, auf den sie
in ihrem Beweisantrag ausdrücklich verwiesen haben, hinreichend deutlich gemacht, dass insbesondere KHM G. zu seinen Erinnerungen
an die Aussagen der Kinder befragt werden sollte. Danach ging es nicht um die Frage, ob die Aussagen der Kinder seinerzeit
vollständig und richtig protokolliert worden sind und/oder ob die Polizeibeamten etwa selbst Augenzeugen des Vorfalls gewesen
sind, sondern um die näheren Umstände der Vernehmungen, insbesondere das dabei von den Kindern gezeigte Verhalten.
Soweit das LSG die Befragung der Polizeibeamten für nicht geboten erachtet hat, weil es unterstelle, dass die protokollierten
Aussagen richtig und vollständig niedergelegt worden seien, und Anhaltspunkte dafür nicht vorlägen, dass die Beamten selbst
Augenzeugen des Geschehens am 19.2.1997 gewesen seien, hat es das mit dem Beweisantrag erkennbar verfolgte Anliegen der Kläger
nicht hinreichend berücksichtigt. Etwaige Zweifel betreffend das genaue Beweisthema hätte es ausräumen müssen (vgl §
106 Abs
1, §
112 Abs
2 SGG). Das LSG ist damit dem Beweisantrag schon ohne hinreichende "Begründung" nicht gefolgt.
Überdies bestand auch in der Sache kein hinreichender Grund, den Beweisantrag abzulehnen. Ohne hinreichende Begründung iS
des §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG bedeutet, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben
(BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 49). Es bestand hier zwingende Veranlassung, dem Beweisantrag zu folgen. Das LSG hat entgegen seiner Pflicht aus §
103 SGG eine Beweislastentscheidung zu Lasten der Kläger getroffen, ohne alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft zu haben. Dem
Verhalten der Kinder während ihrer polizeilichen Vernehmung könnten durchaus Anhaltspunkte zur Beurteilung ihrer persönlichen
Glaubwürdigkeit und zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen entnommen werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf den von KHM G.
befragten Augenzeugen C.. Insoweit hat das LSG noch nicht alle geeigneten Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts genutzt.
Auf diesem Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Zeugenvernehmungen der Rechtsstreit einer
anderen, für die Kläger günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.