Anspruch auf Gewaltopferentschädigung bei Stalking)
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Feststellungen von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem
Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (
OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der gesundheitlichen Folgen von Nachstellungen (sog "Stalking").
Die 1950 geborene Klägerin hat zwei erwachsene Kinder, ist von Beruf Sozialpädagogin und war als Nachtwache in einer Wohnstätte
für behinderte Menschen in B. beschäftigt. Seit Mai 2001 lebte sie in einer Beziehung mit dem 1960 geborenen H. (im Folgenden:
H.). Die Beziehung mit H. entwickelte sich konfliktreich, so dass die Klägerin sie bereits ab Oktober 2001 wieder zu beenden
versuchte.
H. akzeptierte das nicht. Er belegte die Klägerin in der Folgezeit mit zahlreichen Telefonanrufen und elektronischen Kurznachrichten
(SMS). Zudem alarmierte er wiederholt die Polizei, die Feuerwehr und den Notarzt zu vorgeblichen Streitigkeiten, Schlägereien
bzw Bränden in der Wohnung der Klägerin, ohne dass bei Eintreffen der Einsatzkräfte entsprechende Gefährdungs- oder Schadenslagen
festgestellt werden konnten. H. bestellte ua auch - ohne entsprechenden Bedarf - mehrfach Taxen zur Wohnanschrift der Klägerin.
Ferner ließ er am Arbeitsplatz der Klägerin ausrichten, demnächst werde ein Gerichtsvollzieher "vor ihrer Tür stehen".
Die Klägerin erwirkte daraufhin erstmals am 7.1.2002 eine einstweilige Verfügung des Amtsgerichts (AG) B., nach der H. unter
Androhung von Ordnungsgeld, ersatzweise Ordnungshaft, untersagt wurde, die Klägerin zu bedrohen oder zu belästigen sowie in
ihrem Namen "die Polizei und Feuerwehr, andere Rettungsdienste, Bestattungsunternehmen, Taxiunternehmen und so weiter zu alarmieren".
Dies veranlasste H. indes nicht, sein Verhalten gegenüber der Klägerin zu ändern. Unter anderem ereigneten sich im Weiteren
die folgenden Vorfälle:
So drohte (vermutlich) H. telefonisch beim Arbeitsplatz der Klägerin mit Bombenexplosionen, insbesondere für den Fall, dass
die Klägerin "noch mal in das Haus kommt". Weiter kündigte H. der - seinerzeit 81-jährigen - Mutter der Klägerin telefonisch
den bevorstehenden Tod der Klägerin an und teilte ihr einige Minuten später telefonisch mit, dass die Klägerin nunmehr tot
sei. Einem daraufhin alarmierten Polizeibeamten, der den Anruf in der Wohnung der Klägerin entgegennahm, teilte (vermutlich)
H. wörtlich mit: "Jetzt muss sie fürchterliche Angst haben!" und legte auf. Am Abend desselben Tages meldeten sich mehrere
"Pizza-Services" bei der Klägerin, die ihr eine vermeintlich von ihr bestellte Pizza bringen wollten.
Derartige Telefonanrufe wiederholten sich auch in der Folgezeit mehrfach sowohl gegenüber der Klägerin als auch gegenüber
ihrer Mutter und ihren Arbeitskollegen. Einen daraufhin von der Klägerin gestellten Antrag, entsprechend der einstweiligen
Verfügung vom 7.1.2002 ein Ordnungsgeld gegen H. festzusetzen, nahm die Klägerin am 22.5.2002 zurück, nachdem sich H. am 18.4.2002
ihr gegenüber verpflichtet hatte, entsprechende Anrufe zu unterlassen, in seinem Besitz befindliche persönliche Daten der
Klägerin zu löschen, an ihrer Wohnung nicht mehr aufzutauchen oder zu klingeln, sie nicht mehr anzusprechen, "jegliche Kontaktaufnahme
bei zufälligem Zusammentreffen" zu unterlassen und nichts mehr zu tun oder zu veranlassen, "was (der Klägerin) persönlich
oder ihrer Familie schadet oder schaden könnte". Die Klägerin erklärte sich im Gegenzug bereit "zu dulden", dass H. ihr "ab
und zu einen Brief" schreibt, "der per Post zugestellt wird".
Ende März 2003 bedrohte der H. die Klägerin erneut in deren Haus. Er schrie sie an, sie werde ihn nun "von einer anderen Seite"
kennen lernen; sie wisse nicht, wozu er fähig sei. Er fange zuerst mit der Tochter (der Klägerin) an; er habe "Beziehungen"
in ganz O. (dem damaligen Wohnort der Tochter). Dann komme der Sohn (der Klägerin) "dran"; er solle auf sein Auto aufpassen.
Der H. fügte hinzu: "Wenn du überfallen, vergewaltigt oder belästigt wirst, habe ich nichts damit zu tun. Ich wasche meine
Hände in Unschuld. Du hast Zeit bis morgen, um mit mir zu reden. Dann geht der Tanz los. Du hast selber schuld, du hast mich
fallen lassen!". Abschließend sagte er: "In vier Wochen sind F. und J. (die Kinder der Klägerin) tot."
H. richtete an die Klägerin zudem eine Vielzahl von Briefen und Postkarten, teils beleidigenden, teils versöhnlichen Inhalts,
lauerte ihr am Arbeitsplatz und vor ihrer Haustür auf, verfolgte sie, sprach sie an, belästigte und bedrohte sie und ihre
Kinder, bestellte auf den Namen der Klägerin ungefragt Versandhausartikel und beauftragte ua ein Bestattungsunternehmen sowie
einen Schlüsseldienst zur Wohnanschrift der Klägerin. Er rief auch wiederholt die Notrufnummer der Polizei an unter Vorgabe
vermeintlicher Gewalttaten zu Lasten der Klägerin bzw seines eigenen (angeblich) bevorstehenden Freitodes, um entsprechende
Einsätze zu bewirken.
Am 18.7.2003 erwartete er die Klägerin vor dem Hauseingang ihrer Wohnung in B. und folgte ihr von dort bis zur Bushaltestelle,
während er ununterbrochen auf sie einredete. Er bestieg sodann denselben Bus wie die Klägerin und folgte ihr nach dem Aussteigen
unter weiterem Einreden weiter. Vor dem Eingang eines Copy-Geschäfts hielt er die Klägerin am Arm fest und riss sie zu sich
herum, ließ sie dann jedoch wieder los, worauf die Klägerin in dem Copy-Geschäft um Verständigung der Polizei bat.
Am 26.7.2003 fand die Klägerin in ihrem Briefkasten einen von H. handschriftlich verfassten Brief vor, in dem es ua hieß:
"Melde Dich doch wegen dem Geld. Du bekommst ab dem 2.8. Deine Ruhe, aber anders als Du denkst. Ich habe sehr viel angeleiert.
H.."
Mit Verfügung vom 28.7.2003 erließ die Ortspolizeibehörde B. daraufhin eine Wohnungsverweisungsverfügung mit Rückkehrverbot
gegen H., ihm wurde verboten, sich ab dem 28.7.2003, 12.00 Uhr, bis zum 7.8.2003, 24.00 Uhr, in der Wohnung der Klägerin sowie
einem Radius von 100 Metern darum aufzuhalten (Maßnahme nach § 14a Abs 1 Bremisches Polizeigesetz).
Mit Beschluss des AG B. vom 19.8.2003 wurde H. im Wege einer weiteren einstweiligen Verfügung unter Androhung von Ordnungsgeld
bzw Ordnungshaft aufgegeben, es zu unterlassen, die Klägerin zu bedrohen, zu verletzen oder sonst körperlich zu misshandeln,
ihr nachzustellen, in irgendeiner Form Kontakt zu ihr aufzunehmen, die Wohnung der Klägerin zu betreten oder sich auf der
Straße vor ihrem Haus bzw gegenüber dem Grundstück aufzuhalten, sich der Klägerin außerhalb der Wohnung auf eine Entfernung
von weniger als 100 Metern zu nähern, sie anzusprechen, ihr zu folgen oder hinterherzulaufen und den Arbeitsplatz der Klägerin
zu betreten oder sich ihm auf eine Entfernung von weniger als 100 Metern zu nähern.
Diesen Anforderungen kam H. erneut nicht nach: Er warf ua immer wieder lose Zettel, Postkarten und Briefe in den Briefkasten
der Klägerin und klingelte nahezu täglich an ihrer Haustür oder meldete sich telefonisch. Am 20.9.2003 belästigte und bedrohte
er sie in einem öffentlichen Bus. Am 2. und 3.10.2003 wartete er vor dem Haus der Klägerin und ging auf sie zu, als sie das
Haus auf dem Weg zur Arbeit verließ. Die Klägerin sah sich dadurch veranlasst, zunächst in das Haus zurückzukehren und sich
zur Arbeit abholen zu lassen, was auch geschah. Darüber hinaus begegnete H. der Klägerin mehrfach offenbar absichtsvoll in
verschiedenen Straßen B. und verfolgte sie, auch nachdem sie zur Vermeidung einer unmittelbaren Begegnung die Straßenseite
gewechselt hatte.
Das AG B. setzte daraufhin mit Ergänzungsbeschluss vom 13.11.2003 ein Ordnungsgeld in Höhe von 1000 Euro, ersatzweise für
je 100 Euro einen Tag Ordnungshaft, gegen H. fest. Die dagegen erhobene Beschwerde nahm H. nach Reduzierung des Ordnungsgeldes
auf 150 Euro zurück; zu einer Änderung seines Verhaltens kam es nicht.
Schließlich wurde H. auf Strafanzeigen der Klägerin nach Verbindung mehrerer Verfahren vom AG B. mit Urteil vom 23.11.2004
(- 21 Gs 962 Js 31324/04 -) wegen Bedrohung (§
241 Strafgesetzbuch -
StGB) und Verstoßes gegen eine vollstreckbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz (GewSchG) in 14 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt
wurde. Nach weiteren wiederholten Nachstellungen wurde die Strafaussetzung zur Bewährung mit Beschluss des AG B. vom 7.3.2005
widerrufen. H. verbüßte daraufhin vom 13.9.2005 bis 23.5.2006 die ihm auferlegte Freiheitsstrafe, bevor der Strafrest nach
zwei Dritteln erneut zur Bewährung (Bewährungszeit: 2 Jahre) und mit der Auflage, sich umgehend einer ambulanten Alkoholentziehungstherapie
zu unterziehen, ausgesetzt wurde (§
57 Abs
1 StGB). Eine mit weiterem Urteil des AG B. vom 4.10.2005 (- 21 Ds 990 Js 16758/05 -) ergänzend ausgesprochene Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wurde auf Berufung des H. mit Urteil des Landgerichts
B. vom 31.5.2006 (- 26 Ns 990 Js 16758/05 -) ebenfalls (mit weiteren Auflagen) zur Bewährung (Bewährungszeit: 3 Jahre) ausgesetzt.
Die Klägerin wechselte im Verlaufe der Nachstellungen zweimal die Wohnanschrift, kam zeitweilig bei Bekannten unter und veranlasste
eine Auskunftssperre bei der Meldebehörde. Zudem ließ sie sich vorübergehend eine Telefonnummer mit Auskunftssperre einrichten.
Gleichwohl ermittelte H. jeweils nach kurzer Zeit erneut ihre Anschrift bzw Telefonnummer und setzte seine Annäherungshandlungen
fort.
Infolge der Nachstellungen leidet die Klägerin unter psychischen Beschwerden im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung
mit Erschöpfungs- und Angstzuständen, Nervosität, Konzentrations- und Schlafstörungen, die ua eine psychopharmakologische
Medikation und einen stationären Aufenthalt in der Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Dr. He., B.,
vom 2.3. bis 11.5.2004 erforderlich machten. Bei der Klägerin wurde wegen eines "psychischen Leidens" ein Grad der Behinderung
von 50 ab dem 7.3.2005 festgestellt.
Den Antrag der Klägerin vom 7.2.2005 auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem
OEG lehnte die beklagte Freie Hansestadt durch Bescheid vom 23.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2005
mit der Begründung ab, dass die von der Klägerin geltend gemachten "Stalking"-Aktivitäten, wie etwa Morddrohung, Verfolgung,
nicht erwünschte Brief- und Telefonkontakte, Warenbestellungen auf ihren Namen etc, als "gewaltlose" Handlungen nicht unter
den Begriff des tätlichen Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG fallen würden. Dieses Tatbestandsmerkmal setze eine unmittelbar auf den Körper des anderen abzielende Einwirkung, zB einen
Schlag, voraus, die im Fall der Klägerin nicht vorliege. Nach dem
OEG würden nicht ausnahmslos alle Opfer von Straftaten entschädigt, sondern nur Betroffene einer Straftat mit Gewaltanwendung.
Nach erfolgloser Klage (Urteil des Sozialgerichts [SG] B. am 20.10.2006) hat die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen
Berufung eingelegt. Mit Urteil vom 18.3.2010 hat das LSG die ablehnenden Entscheidungen des SG und der Beklagten aufgehoben sowie Letztere verurteilt, bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge
nach dem
OEG festzustellen und eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 ab dem 1.2.2005 zu gewähren.
Es hat sein Urteil auf folgende Erwägungen gestützt:
Für die Annahme eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG reiche es aus, dass H. durch seine Übergriffe den seit 31.3.2007 geltenden Straftatbestand der Nachstellung (§
238 StGB) verwirkliche, die Schädigung der Gesundheit der Klägerin zumindest billigend in Kauf genommen und seine Handlungen gerade
auch mittels physischer Präsenz "unterstrichen" habe. Auch mit Rücksicht auf das strafrechtliche absolute Rückwirkungsverbot
nach Art
103 Abs
2 GG könnten insoweit zwischenzeitliche Rechtsentwicklungen (§
238 StGB) opferentschädigungsrechtlich nicht unberücksichtigt bleiben. Die einzelnen Handlungen des H. seien bei der opferentschädigungsrechtlichen
Bewertung des Gesamtgeschehens nicht jeweils für sich als isolierte Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen etc, sondern
deliktstypisch in ihrer Gesamtheit als beharrliche, systematische Belästigungen und Nachstellungen und (insgesamt) als tätlicher
Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG anzusehen. Das Handeln des H. weise keinen qualitativen Unterschied gegenüber einem Angriff auf, bei dem der Angreifer seinen
Drohungen durch begleitende oder vorbereitende Sachbeschädigungen "körperlichen" Nachdruck verleihe oder das Opfer durch Versperren
des Weges zu einem Flucht- oder Ausweichverhalten veranlasse, das zu einer Gesundheitsschädigung führe. Die Einordnung der
Nachstellungen als tätlicher Angriff entspreche auch dem Schutzzweck des
OEG, da der staatliche Schutz der Klägerin vor Gesundheitsschäden mit den (seinerzeit verfügbaren) Mitteln des GewSchG, des
StGB, aber auch des allgemeinen Polizeirechts, unzureichend geblieben sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Mit Beschluss vom 8.3.2011 hat der Senat
die Bundesrepublik Deutschland auf ihren Antrag zum Revisionsverfahren beigeladen. Zur Begründung ihrer Revision rügt die
Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§
1 Abs
1 Satz 1
OEG):
Das LSG habe in rechtlich fehlerhafter Weise das Verhalten des H. als vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des
§
1 Abs
1 Satz 1
OEG bewertet. Dieser Begriff erfordere grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines Anderen
zielende gewaltsame und in der Regel auch handgreifliche Einwirkung. Ausnahmen von der Körperlichkeit des Angriffs seien vom
Bundessozialgericht (BSG) nur vereinzelt und unter exakt definierten Kriterien entwickelt worden; weder die Rechtsprechung zum sexuellen Missbrauch
von Kindern noch die Grundsätze zur opferentschädigungsrechtlichen Bewertung von sog Schockschadensopfern seien auf die vorliegende
Fallgestaltung zu übertragen. Bei einer Bedrohung oder der Drohung mit Gewalt sei maßgeblich auf eine objektiv hohe Gefährdungslage
des Opfers abzustellen.
Im vorliegenden Fall liege - von dem einmaligen Festhalten der Klägerin am Arm abgesehen - weder eine gewaltsame bzw handgreifliche
Einwirkung auf den Körper der Klägerin noch eine objektive Gefahr für Leib oder Leben vor. Entgegen der Auffassung des LSG
reiche die reine "physische Präsenz" des H. nicht aus, um bei "gewaltlosen" Nachstellungen einen vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG zu bejahen. Auch könne zur Beurteilung der Strafbarkeit der Handlungen des H. nicht auf den erst seit 31.3.2007 geltenden
Straftatbestand der Nachstellung (§
238 StGB) zurückgegriffen werden; zum einen wegen des absoluten Rückwirkungsverbots des Art
103 Abs
2 GG und zum anderen wegen der möglichen Regressforderung des Staates gemäß §
5 OEG iVm § 81a BVG.
Schließlich habe das LSG rechtsfehlerhaft die Handlungen des H. in ihrer Gesamtheit als einheitlichen tätlichen Angriff iS
des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG bewertet. Die Systematik des Entschädigungstatbestands gebiete, zur Beurteilung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen
Angriffs an die Einzelhandlungen anzuknüpfen; die Rechtsfrage wiederum, wie eine Kette tätlicher Angriffe, die nicht jeder
für sich genommen, wohl aber in ihrer Gesamtwirkung allgemein geeignet sind, eine psychische Krankheit hervorzurufen, sei
opferentschädigungsrechtlich zu bewerten und noch nicht höchstrichterlich entschieden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. März 2010 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen
das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 20. Oktober 2006 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Ergänzend macht sie geltend: Es entspreche dem Sinn und Zweck des
OEG sowie dem Europäischen Übereinkommen vom 24.11.1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (BGBl II 1996, 1120), ihr eine Entschädigung für Gesundheitsschäden - auch im Hinblick auf das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols beim Schutz
vor Gewaltkriminalität - zuzubilligen. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse ein tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG nicht "körperlich" oder gar "handgreiflich" bzw "kämpferisch" sein, sondern könne sich insbesondere bei einem sexuellen Missbrauch
von Kindern auch auf "seelische" Einwirkungen beziehen; die Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit von Stalking-Opfern und
das Versagen staatlichen Schutzes rechtfertige es, diese Grundsätze auch auf Stalking-Handlungen zu übertragen, auch wenn
diese nicht unbedingt handgreiflich seien. Ohnehin hätten die Handlungen des H. unmittelbar auf ihren Körper eingewirkt, jedenfalls
optisch und akustisch. Entscheidend sei im vorliegenden Fall, dass sich die objektive Gefahr für ihre körperliche Unversehrtheit
durch die psychische Erkrankung realisiert habe und die Handlungen des H. hierfür ursächlich gewesen seien. Insoweit komme
es auch nicht darauf an, ob ein Schaden unmittelbar durch eine Handlung oder durch die Summe der Einzelakte verursacht worden
sei.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie teilt die Rechtsauffassung der Beklagten und trägt ua vor: Es sei der gesetzgeberische
Wille zu beachten, den tätlichen Angriff über eine "Körperlichkeit" zu definieren. Ein Verweis auf den Gesetzeszweck könne
nicht dazu führen, diese Anspruchsvoraussetzung auszuhebeln. Ebenso wenig könne von einer Schädigungsfolge auf das Vorliegen
eines tätlichen Angriffs geschlossen werden. Auch das vom Strafgesetzgeber anerkannte Schutzbedürfnis von Stalking-Opfern
reiche nicht aus, um über das Tatbestandsmerkmal des tätlichen Angriffs hinwegzusehen. Etwaige Änderungen des
OEG blieben dem Gesetzgeber vorbehalten.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache
an dieses Gericht begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG).
Nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen, an die das BSG gemäß §
163 SGG gebunden ist, kann der Senat nicht abschließend darüber entscheiden, ob das LSG die Beklagte zu Recht oder zu Unrecht verurteilt
hat, bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem
OEG festzustellen und eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 50 ab dem 1.2.2005 zu gewähren. Es fehlen hinreichende Tatsachenfeststellungen
des LSG zur Beurteilung, ob die Klägerin durch die von ihr geltend gemachten Übergriffe des H. - vor allem in dem Zeitraum
von Oktober 2001 bis Ende 2003 - Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG gewesen ist und ob die von dem LSG angenommene Schädigungsfolge auf diese Angriffe zurückzuführen ist.
Rechtsgrundlage für den von der Klägerin in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage
(§
54 Abs
1 Satz 1, Abs
4 SGG) geltend gemachten Anspruch ist §
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 31 Abs 1 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der
Vorschriften des BVG, ua auch Beschädigtenrente nach § 31 Abs 1 BVG, wer im Geltungsbereich des
OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine
oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.
Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff"
iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG hat im Laufe der Jahre anhand einzelner Fallgestaltungen eine Entwicklung erfahren, die der Senat jüngst zur opferentschädigungsrechtlichen
Beurteilung von strafbaren ärztlichen Eingriffen dargelegt hat (vgl Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 §
1 Nr 17, RdNr 26 ff). Diese Rechtsprechung berücksichtigt seit jeher, dass die Verletzungshandlung im
OEG nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das
StGB geregelt ist (BT-Drucks 7/2506 S 10; vgl etwa BSG Urteil vom 24.4.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 2; BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 29; vgl auch Geschwinder, SGb 1985, 95, 96); gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen
Begriffs des "tätlichen Angriffs" (vgl insbesondere BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 235 f = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 8 f; vgl auch die Anmerkung zu dieser Entscheidung von Schlamelcher, SGb 1984, 593 ff). Mit Rücksicht auf den das
OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes hat sie sich aber weitestgehend von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer
kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) gelöst (stRspr seit 1995; vgl BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7; BSG Urteil vom 4.2.1998 - B 9 VG 5/96 R - BSGE 81, 288, 292 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12 S 46; jüngst BSG Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/06 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 11 RdNr 14, 17 [Stoß ins Wasser durch 4½-jähriges Kind]). Das
Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat vornehmlich aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt
und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden (vgl Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25).
Mit Blick auf die hier zu entscheidende Frage der Entschädigungspflicht des Staates nach §
1 Abs
1 Satz 1
OEG bei dem Phänomen des sog "Stalking", das seit dem 31.3.2007 als Straftatbestand in das
StGB aufgenommen ist (Nachstellen iS des §
238 StGB), hat der Senat erneut Veranlassung, seine Rechtsprechung zu präzisieren und dem unbestimmten Rechtsbegriff des vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG weitere Konturen zu verleihen.
1. Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG (a) und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette (b) von folgenden
Erwägungen aus:
a) Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§
113,
121 StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines
anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN).
aa) Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, hat der Senat bereits entschieden, dass der Gesetzgeber durch
den Begriff des "tätlichen Angriffs" den schädigenden Vorgang iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt
hat (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9 [Flucht vor Einbrecher]; BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 279 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 73 [Mobbing]). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des §
240 StGB (vgl hierzu Fischer,
StGB, 57. Aufl 2010, §
240 RdNr
8 ff mwN) zeichnet sich der tätliche Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus (vgl insbesondere BT-Drucks 7/2506 S 10), wirkt
also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt
iS des §
113 Abs
1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, dh als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher
Kraft (vgl Rosenau in Leipziger Kommentar,
StGB, 12. Aufl 2009, §
113 RdNr 23 mwN; Eser in Schönke/Schröder,
StGB, 28. Aufl 2010, §
113 RdNr 42).
Ein tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor (vgl BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 - BSGE 49, 98, 100 = SozR 3800 § 1 Nr 1; BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4; BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 - BSGE 59, 46, 47 = SozR 3800 §
1 Nr 6; sowie Begründung des Regierungsentwurfs zum
OEG, BT-Drucks 7/2506 S 10, 13 f), setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters
voraus; der Senat ist einem an Aggression orientiertem Begriffsverständnis des tätlichen Angriffs trotz dessen inhaltlicher
Nähe zur Gewalttätigkeit iS des §
125 StGB (vgl Eser in Schönke/Schröder,
StGB, 28. Aufl 2010, §
113 RdNr 46; zu §
125 StGB vgl BGH Urteil vom 8.8.1969 - 2 StR 171/69 - BGHSt 23, 46, 52 f) letztlich nicht gefolgt (stRspr seit 1995; vgl BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 7 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 bzw BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 [sexueller Missbrauch an Kindern]; Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 5/95 - BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3 [HIV-Infektion]; so schon Bayerisches LSG Urteil vom 16.3.1990 - L 10 Vg 1/89 - Breith 1991, 414, 415 f; offen gelassen noch von BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4; vgl auch BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 - BSGE 59, 46 = SozR 3800 § 1 Nr 6; vgl zum extensiven Versorgungsschutz auch Geschwinder, SGb 1985, 95, 96; Schlamelcher, SGb 1984, 593, 595; aA Schoreit/Düsseldorf,
OEG, 1. Aufl 1977, §
1 RdNr 41; Wachholz, br 1991, 84, 87). Dahinter steht der Gedanke, dass auch nicht zum (körperlichen) Widerstand fähige Opfer von Straftaten den Schutz des
OEG genießen sollen.
Für die Annahme eines tätlichen Angriffs ist nicht maßgeblich, ob der vom Täter ggf beabsichtigte Verletzungserfolg eingetreten
ist (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9 mwN; zur strafrechtlichen Auslegung des tätlichen Angriffs bereits Reichsgericht [RG] Urteil
vom 18.6.1925 - III 213/25 - RGSt 59, 264, 265). Auch über das Versuchsstadium einer Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des
Opfers hinaus, kann eine Handlung des Täters als tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG angesehen werden (vgl zu §
113 Abs
1 StGB etwa Bundesgerichtshof [BGH] Urteil vom 6.5.1982 - 4 StR 127/82 - NJW 1982, 2081). Eine gewaltsame Einwirkung auf den Körper eines anderen kann auch schon bei einem physisch vermittelten Zwang vorliegen,
ohne dass es zu einer körperlichen Berührung zwischen Täter und Opfer kommen muss (vgl etwa BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237 [Aussetzung]; BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2 [Blockade mit Kraftfahrzeug]). Ungeachtet eines verwirklichten Verletzungserfolgs besteht in diesen Fällen wegen
der Angriffshandlung bereits eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit der anderen Person;
damit geht regelmäßig die reale Gefahr eines Körperschadens einher (vgl etwa BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714; BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 59; vgl auch zum Angriff iS des §
31 Abs
4 Satz 1
Beamtenversorgungsgesetz, Bundesverwaltungsgericht [BVerwG] Urteil vom 29.10.2009 - 2 C 134/07 - BVerwGE 135, 176 RdNr 17 f). Ob in diesen Fällen die Grenze zum tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG überschritten ist, beurteilt der Senat aus der objektiven Sicht eines vernünftigen Dritten und orientiert sich dabei an folgenden
Grundsätzen:
aaa) Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bzw je größer der Einsatz
körperlicher Gewalt oder physischer Mittel ist, desto geringere Anforderungen sind zur Bejahung eines tätlichen Angriffs in
objektiver Hinsicht zu stellen. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt,
desto genauer muss geprüft werden, inwiefern durch die Handlung - unter Berücksichtigung eines möglichen Geschehensablaufs
- eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand. Die Grenze zwischen einem sozialadäquaten Verhalten und einem tätlichen
Angriff ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass auch das bereits objektiv hochgefährdete Opfer bei Abwehr-, Ausweich- oder
Fluchtreaktionen den Schutz des
OEG genießt; sie ist jedenfalls dann überschritten, wenn die Abwehr eines solchen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr
gemäß §
32 StGB gerechtfertigt wäre (BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 4/01 R - BSGE 90, 6 = SozR 3-3800 § 1 Nr 22 S 103 f zur Drohung mit Gewalt). Die Angriffshandlung (bzw der Einsatz körperlicher Mittel) muss
für sich genommen nicht gravierend sein, um - unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - eine hinreichende Gefährdung
von Leib oder Leben des Opfers und damit einen tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG anzunehmen.
Der Senat hat insoweit in einem Fall der Freiheitsberaubung (§
239 StGB) allein das Wegversperren und das Zurückstoßen und -drängen des Opfers zur Durchsetzung des Verbots, die Wohnung zu verlassen,
ausreichen lassen, um das Vorliegen eines tätlichen Angriffs zu bejahen. Aus einem solchen Verhalten des Täters kann der Schluss
auf eine drohende verstärkte Gewaltanwendung bei einem ggf beabsichtigten Widerstand des Opfers gezogen werden (vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 14) und damit auf eine objektiv hohe Gefährdungslage
für das Opfer. Entsprechendes gilt für das absichtliche Versperren eines Fahrradweges, das im Falle der Kollision mit einer
erheblichen Verletzungsgefahr für das Opfer verbunden ist (vgl BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2), sowie für das Zünden von Feuerwerkskörpern in unmittelbarer Nähe einer anderen Person (vgl hierzu BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 57; BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714; vgl auch BSG Urteil vom 24.4.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 3 f).
bbb) Für die - insbesondere bei dem Phänomen des "Stalkings" relevanten - Fälle der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, bei
denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten
Verletzungserfolg gänzlich fehlt, hat das BSG noch nicht abschließend geklärt, unter welchen Voraussetzungen solche Handlungen für sich allein bereits als tätlicher Angriff
zu werten sind (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 237 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9). Auch dabei ist jedenfalls auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib oder Leben des
Opfers abzustellen.
Das BSG hat es insoweit genügen lassen, dass eine erhebliche Drohung gegenüber dem Opfer mit einer unmittelbaren Gewaltanwendung
gegen eine Sache einherging, die als einziges Hindernis dem unmittelbaren körperlichen Zugriff auf das Opfer durch die Täter
im Wege stand, sodass der Sachverhalt nicht allein auf Drohungen beschränkt war (BSG Urteil vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 - BSGE 81, 42, 44 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11). Es hat auch die Würdigung eines Sachverhalts, bei dem ein einschlägig vorbestrafter Täter mit
dem Ausruf "Jetzt hab´ ich Euch, Ihr Schweine" auf offener Straße auf das Opfer zugestürzt ist, als tätlichen Angriff iS des
§
1 Abs
1 Satz 1
OEG nicht beanstandet (BSG Beschluss vom 29.9.1993 - 9 BVg 3/93 - juris RdNr 1, 5). Als tätlichen Angriff hat es das BSG zudem angesehen, wenn der Täter das Opfer vorsätzlich mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe bedroht hat,
auch wenn ein Tötungs- oder Verletzungsvorsatz noch gefehlt hat (BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 4/01 R - BSGE 90, 6 = SozR 3-3800 § 1 Nr 22 S 103 f), nicht aber die bloß verbale Drohung zu schießen, wenn der Täter keine Schusswaffe bei sich
führt (vgl BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr
20). Im Zusammenhang mit einer Aussetzung (§
221 Abs
1 StGB) durch aktives Tun hat das BSG die bloße Aufforderung gegenüber einem 83 Jahre alten Gehbehinderten, den Wagen zu verlassen, als Ausübung von körperlichem
Zwang und damit als tätlichen Angriff angesehen, weil diese erzwungene Ortsveränderung das letzte Glied in einer Kette von
Gewalttaten des fortgesetzt aggressiv handelnden Täters war (BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237).
Bei der Würdigung des Tatgeschehens sind insoweit alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, die auf eine objektiv
hohe Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität des Opfers schließen lassen. Angesichts der Vielgestaltigkeit
der Lebenssachverhalte wird eine feste Grenzziehung zwischen bloßer Drohung mit Gewalt und ihrer Anwendung kaum möglich sein.
Ein tätlicher Angriff wird indes umso eher zu bejahen sein, je größer die objektive Gefahr für Leib oder Leben des Bedrohten
war (BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 16), je mehr also eine schädigende Gewaltanwendung unmittelbar bevorsteht.
ccc) Mit Rücksicht auf die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen
Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich
sein soll (vgl BT-Drucks 7/2506 S 10), sieht der Senat die Grenze der Wortlautinterpretation jedenfalls dann erreicht, wenn
sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch
vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (in diese Richtung bereits
BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 279 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 73 [Mobbing]). So hat der Senat für den Fall einer mit List durchgeführten, strafbaren Kindesentziehung
die erheblichen Gefahren, die damit wegen der völligen Ungewissheit über das Schicksal des Kindes für die psychische Gesundheit
des betroffenen Elternteils verbunden sind, für sich allein nicht ausreichen lassen, um einen tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG anzuerkennen, sondern darüber hinaus zumindest ein Fortwirken einer körperlichen Gewaltanwendung gegenüber dem Elternteil
gefordert (BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 S 3 [Kindesentziehung]).
Von den Kriterien eines tätlichen Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG wird auch bei den Fällen des sog "Schockschadens" (vgl hierzu BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 - BSGE 49, 98 = SozR 3800 § 1 Nr 1) keine Ausnahme gemacht. Insoweit ist zwischen dem schädigenden Vorgang - der "unmittelbaren Einwirkung"
auf den Körper des Primäropfers - und der geschädigten Person - der "unmittelbaren Schädigung" des Sekundäropfers - zu unterscheiden
(vgl hierzu Trenk-Hinterberger in Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S 745, 751 ff).
Selbst in Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von §
176 StGB hat der Senat nicht vollständig auf das Erfordernis körperlicher Handlungen verzichtet. Die besondere Schutzbedürftigkeit
des Kindes, die Möglichkeit seiner "sekundären Viktimisierung" im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sowie die Gefahr schwerwiegender
seelischer Krankheiten hat ihn allerdings - beschränkt auf diese Fallgestaltungen - zu einem erweiterten Verständnis des Begriffs
des tätlichen Angriffs veranlasst. Danach ist für die "unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Kindes" entscheidend, dass
die erfolgten sexuellen Handlungen strafbar sind, unabhängig davon, ob bei der Tatbegehung das gewaltsam handgreifliche oder
das spielerische Moment im Vordergrund steht (BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 7 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 bzw BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7).
Demnach ist nicht - wie im Schrifttum teilweise vertreten wird - darauf abzustellen, ob die Angriffshandlung "körperlich wirkt"
bzw zu körperlichen Auswirkungen im Sinne eines pathologisch, somatisch, objektivierbaren Zustands führt (so Weiner in Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner,
OEG, 5. Aufl 2010, §
1 RdNr 22 aE; Heinz, VersorgVerw 2007, 36, 37 f; ders, ZfS 2005, 266, 268; ders, ZfS 2000, 65, 69; Eppenstein in
Opferentschädigungsgesetz - Intention und Praxis opfergerecht?, Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern, 1995, S 92, 95) oder welches
Individualrechtsgut (insbesondere körperliche Unversehrtheit, Leben) von der verletzten Strafrechtsnorm geschützt wird (vgl
etwa Weiner, aaO, § 1 RdNr 16; Heinz, ZfS 2005, 266, 267 f).
Schließlich führt auch der Hinweis der Klägerin auf das Europäische Übereinkommen vom 24.11.1983 über die Entschädigung für
Opfer von Gewalttaten (Zustimmungsgesetz vom 17.7.1996, BGBl II 1120; Bekanntmachung vom 24.2.1997 über das Inkrafttreten
des Übereinkommens in Deutschland am 1.3.1997, BGBl II 740) zu keiner anderen Beurteilung. Nach seinem Art 1 verpflichten
sich die Vertragsparteien des Übereinkommens, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die in dessen Teil I enthaltenen
Grundsätze zu verwirklichen. Art 2 Abs 1 Buchst a des Übereinkommens bestimmt: Soweit eine Entschädigung nicht in vollem Umfang
aus anderen Quellen erhältlich ist, trägt der Staat zur Entschädigung für Personen bei, die eine schwere Körperverletzung
oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, die unmittelbar auf eine vorsätzliche Gewalttat zurückzuführen ist.
Eine Definition des Begriffs "vorsätzliche Gewalttat" enthält das Übereinkommen nicht (vgl Denkschrift zum Übereinkommen,
BR-Drucks 508/95 S 14 = BT-Drucks 13/2477 S 14). Dementsprechend hat der bundesdeutsche Gesetzgeber durch das Tatbestandsmerkmal
"vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" in §
1 Abs
1 Satz 1
OEG in zulässiger Weise von einem durch das Übereinkommen belassenen Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht. Richtig ist allerdings,
dass der Gesetzgeber den Zielen des Übereinkommens durchaus entsprechen würde, wenn er - über die von dem Begriff des tätlichen
Angriffs erfassten Fallgestaltungen hinaus - Opfer psychischer Gewalt in den Schutzbereich des
OEG einbeziehen würde. Immerhin heißt es in dem Erläuternden Bericht des Europarats zum Übereinkommen (European Convention on
the Compensation of Victims of Violent Crimes, Explanatory Report, http://conventions.coe.int/treaty/EN/Reports/Html/116.htm):
Die Gewalt sei nicht notwendig, physische Gewalt; Entschädigung könne auch geschuldet werden in Fällen psychischer Gewalt,
zB bei schwerwiegenden Drohungen (vgl dazu auch Denkschrift, BR-Drucks 508/95 S 14 = BT-Drucks 13/2477 S 14).
bb) Der tätliche Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG zeichnet sich zudem dadurch aus, dass die Einwirkung "unmittelbar" auf den Körper der anderen Person zielen muss. Dieses
Tatbestandsmerkmal ist von dem Erfordernis der Unmittelbarkeit der Gesundheitsschädigung - dem zweiten Glied der versorgungsrechtlichen
Ursachenkette - zu unterscheiden und begrenzt die Entschädigungspflicht des Staates auf konkrete Gefährdungen des Opfers durch
zielgerichtete Angriffshandlungen. Da die Zielrichtung einer Handlung allein auf dem Willen des Täters beruht, sind Feststellungen
zu diesem Merkmal in erster Linie von der inneren Tatseite, dem Vorsatz des Täters, abhängig; bleibt der Täter unbekannt,
müssen wenigstens die äußeren Tatumstände überzeugende Hinweise auf den erforderlichen subjektiven Tatbestand geben (vgl BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 237 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 10 [Flucht vor einem Einbrecher]; BSG Urteil vom 4.2.1998 - B 9 VG 5/96 R - BSGE 81, 288, 289 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 12 [Verletzung durch Signalmunition]).
Insoweit dient das Merkmal auch der Abgrenzung von abstrakten bzw allgemeinen Gefährdungslagen, wie sie unter bestimmten Voraussetzungen
von §
1 Abs
2 Nr
2 OEG erfasst sind (sog "mittelbarer Angriff", vgl hierzu Loytved, NZS 2004, 516, 517; ders MedSach 2005, 148, 149); so hat der Senat bereits entschieden, dass das Entfernen des Deckels eines Abflusslochs
(Gully) allein - ohne unmittelbare Ausrichtung auf andere Menschen - kein tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG darstellt (BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VG 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 5). Demgegenüber hat der Senat bei der Bewertung einer Blockade des Fahrwegs einer Fahrradfahrerin maßgeblich
auf den Vorsatz der Täter, den Weg durch aktives Verhalten zu versperren, und auf die damit einhergehende ernsthafte Verletzungsgefahr
im Falle einer Kollision abgestellt (BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2 f; mangels entsprechender Feststellungen offen gelassen durch BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VG 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 5 S 20 f [Entfernen eines Gullydeckels]).
cc) Der tätliche Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG setzt über den natürlichen Vorsatz des Täters bezogen auf die Angriffshandlung (vgl hierzu etwa BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 56 f) hinaus an sich eine "feindselige Willensrichtung" voraus.
Dieses - einem Angriff im Wortsinn immanente - Merkmal dient im Opferentschädigungsrecht vor allem zur Abgrenzung sozial adäquaten
bzw gesellschaftlich noch tolerierten Verhaltens von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln des Täters (so bereits BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 - BSGE 59, 46 = SozR 3800 § 1 Nr 6 [nicht feindselige Handgreiflichkeit bei einem Volksfest]; ähnlich auch schon Bayerisches LSG Urteil
vom 16.3.1990 - L 10 Vg 1/89 - Breith 1991, 414, 415). Lässt sich eine feindselige Willensrichtung im engeren Sinne nicht feststellen, kann alternativ darauf abgestellt
werden, ob der Täter eine mit Gewaltanwendung (iS einer gewaltsamen Einwirkung auf eine andere Person durch Einsatz körperlicher
Mittel) verbundene strafbare Vorsatztat (zumindest einen strafbaren Versuch) begangen hat (stRspr seit 1995, vgl BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 7 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 bzw BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 [sexueller Missbrauch an Kindern]; Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 5/95 - BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3 [HIV-Infektion]; Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 - juris RdNr 11, 13; jüngst BSG Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/06 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 11 RdNr 14, 17 [Stoß ins Wasser durch 4½-jähriges Kind]). Anstelle
einer feindseligen Absicht ist dann die Rechtsfeindlichkeit des Täters entscheidend, dokumentiert durch einen willentlichen
Bruch der Rechtsordnung. Die einem Angriff innewohnende Feindseligkeit manifestiert sich insoweit durch die vorsätzliche Verwirklichung
der Straftat (vgl Bischofs, SGb 2010, 693, 694).
So verwirklicht ein Täter, der subjektiv dem Opfer helfen will oder aus Liebe handelt, dann einen rechtswidrigen tätlichen
Angriff, wenn er in strafbarer Weise dessen körperliche Integrität verletzt (BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7). Dies gilt regelmäßig auch für Fälle, in denen sich der Angreifer möglicherweise nur einen groben
oder gewalttätigen, aber die Grenze des sozial Üblichen überschreitenden Scherz erlauben wollte und gegenüber dem Opfer keine
feindselige Einstellung gehabt hat (zum Zünden eines Feuerwerkskörpers vgl etwa BSG Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R - SozR 3-3800 § 1 Nr 14 S 57; BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714; vgl auch BSG Urteil vom 24.4.1991 - 9a/9 RVg 1/89 - SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 3 f). Diese Rechtsprechung hat jüngst eine Einschränkung für die besondere Fallkonstellation des ärztlichen Eingriffs
erfahren. Selbst wenn ein solcher Eingriff strafrechtlich als vorsätzliche Körperverletzung anzusehen ist, müssen bestimmte
weitere Voraussetzungen hinzutreten, um die Grenze zu einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG zu überschreiten (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 42-44).
b) Der schädigende Vorgang iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG - das erste Glied der entschädigungsrechtlichen Ursachenkette - ist zeitlich nicht auf die Dauer des tätlichen Angriffs selbst
oder die Vollendung der mit der Gewaltanwendung verbundenen Straftat begrenzt, vielmehr dauert er so lange an, wie das daraus
folgende Geschehen noch wesentlich durch die Gewaltanwendung geprägt ist, also bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Opfer in Sicherheit
ist bzw die Hilfe Dritter erhält (vgl BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 8/01 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 2 [Schockschaden aufgrund der Nachricht des Todes im Krankenhaus]; BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237 [Aussetzung]). Die strafrechtliche Einordnung als Erfolgs- oder Dauerdelikt
ist für die Bewertung des entschädigungsrechtlichen Kerns des Geschehens ohne Belang (vgl BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 - USK 9237 [Aussetzung]; BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 S 3 [Kindesentziehung]; BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 8/01 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 2; BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 15 [Freiheitsberaubung]).
Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG kann als wesentliche Ursache für Gesundheitsschäden, die während des Tatgeschehens eintreten, auch dann angesehen werden,
wenn das Opfer eine eigene Ursache für den weiteren Geschehensablauf (zB Flucht, Ausweichen, Notwehr) setzt. In diesen Fällen
ist - anders als im Strafverfahren - nicht darauf abzustellen, ob die Tatumstände "objektiv geeignet" waren, das Verhalten
des Opfers zu erklären, sondern auf dessen subjektive Sicht (vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 16-17 [Flucht]; ähnlich auch zur Mitverursachung der
Schädigung iS des §
2 Abs
1 Satz 1
OEG BSG Urteil vom 18.6.1996 - 9 RVg 7/94 - BSGE 78, 270 = SozR 3-3800 § 2 Nr 4 [Putativnotwehr]). Insoweit rechnen zu den Folgen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs
grundsätzlich auch die Verletzungsfolgen, die während einer Flucht entstanden sind (vgl auch BSG Urteil vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 - BSGE 81, 42 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11; BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10, RdNr 15; vgl auch Loytved, NZS 2004, 516, 517; ders, MedSach 2005, 148, 149).
2. Nach diesen Grundsätzen ergibt sich für die opferentschädigungsrechtliche Bewertung von Stalking-Handlungen als vorsätzlicher,
rechtswidriger tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG für den Zeitraum bis zum Inkrafttreten des §
238 StGB am 31.3.2007 und damit auch für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (im Wesentlichen von Oktober 2001 bis Dezember 2003)
Folgendes:
a) Das Phänomen Stalking hat in jüngster Zeit zunehmend an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen und zu besonderen Entwicklungen
im Zivil- und Strafrecht geführt. Die unter dem englischen Begriff "Stalking" diskutierten Verhaltensweisen zeichnen sich
dadurch aus, dass einer anderen Person fortwährend nachgestellt, aufgelauert oder auf andere Weise mit hoher Intensität Kontakt
zu ihr gesucht bzw in ihren individuellen Lebensbereich eingegriffen wird (so der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 8.2.2006,
BT-Drucks 16/575 S 1). Eine einheitliche Begriffsbestimmung ist wegen der äußerst facettenreichen Fallgestaltungen schwierig
(vgl etwa Bieszk/Sadtler, NJW 2007, 3382, 3384). Allgemein handelt es sich um ein Verhalten der fortgesetzten Verfolgung, Belästigung und Bedrohung einer anderen
Person gegen deren Willen (so die Gesetzentwürfe des Bundesrates vom 27.4.2005 und 23.3.2006, BT-Drucks 15/5410 S 1 und BT-Drucks
16/1030 S 1). Dabei sind die einzelnen Handlungen des Täters sehr vielgestaltig. Sie reichen von häufigen, vielfach wiederholten
Telefonanrufen zu jeder Tages- und Nachtzeit, dem Übersenden von E-Mails, SMS oder Briefen, der Übermittlung von Geschenken,
dem Auflauern vor der Wohnung oder am Arbeitsplatz und Drohungen bis hin zu Zudringlichkeiten und tätlichen Angriffen. Durch
ihre Häufigkeit und Kontinuität führen auch Einzelhandlungen, die jeweils für sich genommen als sozialadäquat angesehen werden
könnten, zu unzumutbaren Beeinträchtigungen und einer erzwungenen Veränderung der Lebensumstände des Opfers (so der Gesetzentwurf
der Bundesregierung vom 8.2.2006, BT-Drucks 16/575 S 1).
In der mit Wirkung vom 31.3.2007 Gesetz gewordenen Fassung des §
238 Abs
1 StGB lautet der Tatbestand der Nachstellung:
Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich
1. seine räumliche Nähe aufsucht,
2. unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu ihm
herzustellen versucht,
3. unter missbräuchlicher Verwendung von dessen personenbezogenen Daten Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen für ihn
aufgibt oder Dritte veranlasst, mit diesem Kontakt aufzunehmen,
4. ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder einer ihm nahe
stehenden Person bedroht oder
5. eine andere vergleichbare Handlung vornimmt und dadurch seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe
bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Durch §
238 StGB sollen nach dem Willen des Gesetzgebers beharrliche Nachstellungen, die einschneidend in das Leben des Opfers eingreifen,
über die bereits bestehenden und in Betracht kommenden Straftatbestände - wie etwa der Nötigung (§
240 StGB), Bedrohung (§
241 StGB), Beleidigung (§
185 StGB) oder des Zuwiderhandelns gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz (§ 4 GewSchG) - hinaus mittels eines weiteren Straftatbestandes verfolgt werden können, um auf diese Weise einen besseren Opferschutz
zu erreichen und Strafbarkeitslücken zu schließen (BT-Drucks 16/575 S 1). Der neue Straftatbestand dient damit dem Schutz
der eigenen Lebensführung vor gezielten, hartnäckigen und schwerwiegenden Belästigungen der Lebensgestaltung (vgl BGH Beschluss
vom 19.11.2009 - 3 StR 244/09 - BGHSt 54, 189 - juris RdNr 14 mwN).
Nach der Rechtsprechung des BGH (aaO) ist Tathandlung des §
238 Abs
1 StGB das unbefugte Nachstellen durch beharrliche unmittelbare und mittelbare Annäherungshandlungen an das Opfer und näher bestimmte
Drohungen iS des §
238 Abs
1 Nr
1 bis 5
StGB. Das Merkmal der "Beharrlichkeit" soll ua die Deliktstypik des "Stalkings" zum Ausdruck bringen und einzelne, für sich genommen
vom Gesetzgeber als sozialadäquat angesehene Handlungen (BT-Drucks 16/575 S 7) von unerwünschtem "Stalking" abgrenzen; ihm
wohnen sowohl objektive Momente der Zeit sowie subjektive und normative Elemente der Uneinsichtigkeit und Rechtsfeindlichkeit
inne, die in der Tatbegehung durch besondere Hartnäckigkeit und eine gesteigerte Gleichgültigkeit des Täters gegenüber dem
gesetzlichen Verbot zum Ausdruck kommt. Die Beharrlichkeit ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung der verschiedenen Handlungen,
bei der insbesondere auch der zeitliche Abstand zwischen den Angriffen und deren innerer Zusammenhang von Bedeutung sind (BGH,
aaO, mwN).
b) Solange der Gesetzgeber den Tatbestand des §
238 StGB nicht gesondert in den Schutzbereich des §
1 OEG einbezogen hat, sind die erfolgten Stalking-Handlungen daraufhin zu prüfen, ob jeweils nach den insoweit maßgeblichen Kriterien
ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG vorliegt. Ein sich - wie hier - über Jahre erstreckendes Stalking, das aus einer Vielzahl einzelner, für sich abgeschlossener
Sachverhalte besteht, kann entgegen der Auffassung des LSG nicht als ein einheitlicher schädigender Vorgang gewertet werden.
Denn ein solcher umfasst nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen.
Soweit sich eine feindselige Willensrichtung des Täters nicht feststellen lässt, kommt es auch beim Stalking auf das Vorliegen
einer mit Gewaltanwendung verbundenen vorsätzlichen Straftat an. Der Senat hat bereits zum Phänomen des sog Mobbings entschieden,
dass sich diese Vorgänge des Arbeitslebens, die den Rahmen des zwar gesellschaftlich Missbilligten, aber nicht Strafbaren
nicht verlassen und die Schwelle zum kriminellen Unrecht nicht überschreiten, nicht als tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG angesehen werden können (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276 = SozR 3-3800 §
1 Nr 18). Denn bei der Anwendung des
OEG ist von dessen Grundgedanken auszugehen, dass nur Opfer von Gewalttaten entschädigt werden sollen (vgl BT-Drucks 7/2506 S
7). Das
OEG deckt mithin nicht alle - sonstigen - aus dem Gesellschaftsleben folgenden Verletzungsrisiken ab, die einem anderen als dem
Geschädigten zuzurechnen sind (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18). Ebenso wenig reicht das Verwirklichen eines Straftatbestandes aus, wenn es (wie zB bei Vermögensdelikten)
ohne körperliche Einwirkungen auf das Opfer geschieht. Dies gilt grundsätzlich auch für Stalking-Handlungen, die jedoch nach
heute geltendem Recht wegen des Tatbestands der Nachstellung gemäß §
238 StGB eine besondere strafrechtliche Relevanz aufweisen können. Allerdings kann für den Zeitraum vor Inkrafttreten dieser Norm
zum 31.3.2007 zur opferentschädigungsrechtlichen Beurteilung, ob ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des
§
1 Abs
1 Satz 1
OEG in Gestalt einer strafbaren Vorsatztat vorliegt, nicht auf diesen Straftatbestand zurückgegriffen werden (aa). Maßgeblich
ist das zum Tatzeitpunkt geltende Recht (bb).
aa) Entgegen der Auffassung des LSG kann hier das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des
§
1 Abs
1 Satz 1
OEG - abgesehen von dem zusätzlichen Erfordernis einer Tätlichkeit - nicht mit der Begründung bejaht werden, es sei der ab dem
31.3.2007 geltende Tatbestand der Nachstellung iS des §
238 StGB erfüllt.
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats dient das Merkmal der Rechtsfeindlichkeit, wie sie sich durch das Begehen einer
vorsätzlichen Straftat zeigt, einer normativen Grenzziehung gegenüber Verhaltensweisen, die den Rahmen des gesellschaftlichen
Lebens nicht überschreiten. Diese Abgrenzung erfordert nach Auffassung des Senats ein Abstellen auf die zum Zeitpunkt der
Tat jeweils geltende Rechtslage. Ungeachtet des im Strafrecht geltenden absoluten Rückwirkungsverbots nach Art
103 Abs
2 GG drohen im Opferentschädigungsrecht anderenfalls Billigkeitserwägungen. Es müsste nämlich der Unrechtsgehalt einer erst im
Zeitpunkt der Entscheidungsfindung strafbaren Handlung auf Zeiträume erstreckt werden, in denen das entsprechende Täterverhalten
nicht strafbar gewesen ist. Die für die Bewertung des Täterverhaltens maßgebende normative Grenze würde dadurch klare Konturen
verlieren.
Zum einen ist die Frage, auf welche Handlungen der Staat seinen Strafanspruch erstrecken will, dem Wandel gesellschaftlicher
Phänomene und Anschauungen unterworfen (vgl hierzu auch Pollähne, NK 2002, 56, 58). Dies zeigt sich gerade auch in der Aufnahme
des Tatbestands der Nachstellung in das
StGB, die auf die zunehmende Bedeutung des Phänomens des Stalking und den als unzureichend angesehenen Schutz der betroffenen
Personen zurückzuführen ist (vgl BT-Drucks 16/575 S 1; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks 16/3641
S 1). Ein anderes Beispiel ist der erst seit 1.4.1998 strafbare Versuch einer Körperverletzung nach §
223 Abs
2 StGB (Gesetz vom 26.1.1998, BGBl I 164). Zum anderen kann von einer Feindlichkeit des Täters gegen das Strafgesetz nur bei einem
- willentlichen - Bruch der zum Zeitpunkt der Tat geltenden Rechtsordnung gesprochen werden. Auf den von der Beklagten angesprochenen
Gesichtspunkt eines Schutzes des Täters vor Regressforderungen des Staates nach §
5 OEG iVm § 81a BVG kommt es insofern nicht entscheidend an.
bb) Ist danach stets auf die zum Tatzeitpunkt geltende Rechtslage abzustellen, kommen im vorliegenden Fall, der insbesondere
Stalkinghandlungen in der Zeit von Oktober 2001 bis Dezember 2003 (jedenfalls vor Inkrafttreten des §
238 StGB) betrifft, opferentschädigungsrechtlich als Straftatbestände insbesondere die Körperverletzung (§§
223,
229 StGB), die Nötigung (§
240 StGB), die sexuelle Nötigung (§
177 StGB), die Bedrohung (§
241 StGB) und die Beleidigung (§
185 StGB) in Betracht (vgl BT-Drucks 16/575 S 6).
Zudem ist nach Auffassung des Senats für den Zeitraum ab 1.1.2002 eine Strafbarkeit des maßgeblichen Verhaltens nach § 4 GewSchG ausreichend, um - bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen - einen Entschädigungsanspruch nach §
1 Abs
1 Satz 1
OEG begründen zu können. Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe ist nach § 4 GewSchG ein Verstoß gegen eine vollstreckbare Anordnung nach § 1 GewSchG strafbar, die tatbestandlich eine vorangegangene vorsätzliche und rechtswidrige Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder
der Freiheit einer anderen Person voraussetzt (§ 1 Abs 1 Satz 1 GewSchG). Zum Schutz der betroffenen Person kann das Gericht gemäß § 1 Abs 1 Satz 3 GewSchG insbesondere anordnen, dass der Täter es unterlässt, die Wohnung der verletzten Person zu betreten (Nr 1), sich in einem
bestimmten Umkreis der Wohnung der verletzten Person aufzuhalten (Nr 2), zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen
sich die verletzte Person regelmäßig aufhält (Nr 3), Verbindung zur verletzten Person, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln,
aufzunehmen (Nr 4), Zusammentreffen mit der verletzten Person herbeizuführen (Nr 5), soweit dies nicht zur Wahrnehmung berechtigter
Interessen erforderlich ist. Entsprechende Anordnungen können bei einer widerrechtlichen Drohung mit einer Verletzung des
Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit einer anderen Person (§ 1 Abs 2 Satz 1 Nr 1 GewSchG) und bei einem widerrechtlichen Eindringen in die Wohnung einer anderen Person (§ 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a GewSchG) ergehen, sowie gegenüber demjenigen, der eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass er ihr gegen den ausdrücklich
erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt (§ 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a GewSchG).
Der Gesetzgeber hat insoweit den Schwerpunkt der rechtlichen Maßnahmen gegen häusliche Gewalt und "unzumutbare Belästigungen"
(also "Stalking") zunächst nur auf zivilrechtlicher Ebene gesetzt und die Strafbarkeit des Verhaltens durch eine Kriminalisierung
des Ungehorsams gegenüber vollstreckbaren gerichtlichen Anordnungen eröffnet (Pollähne, NK 2002, 56, 58). Wenngleich hierbei
vorrangiges Ziel des Gesetzgebers war, die verfahrensrechtliche Geltendmachung von zivilrechtlichen Unterlassungsansprüchen
zu erleichtern, die Effizienz der Vollstreckung zivilgerichtlicher Entscheidungen zu verbessern und bei dem Verstoß gegen
eine gerichtliche Schutzanordnung ein Eingreifen der Polizei zu ermöglichen (so der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom
5.3.2001, BT-Drucks 14/5429 S 1, 10; Grziwotz, NJW 2002, 872, 873 f; vgl auch Rupp, Rechtstatsächliche Untersuchung zum Gewaltschutzgesetz, Berlin 2005, S 89 ff), ist die Einbeziehung solcher strafbaren Vorsatztaten in die opferentschädigungsrechtliche Bewertung
nach §
1 Abs
1 Satz 1
OEG nicht nur wegen der sachlichen Nähe zur sog Gewaltkriminalität gerechtfertigt, sondern auch wegen der mit einem Zuwiderhandeln
gegen eine entsprechende Schutzanordnung des Gerichts eindeutig hervortretenden Rechtsfeindlichkeit des Täters, des willentlichen
Bruchs der Rechtsordnung.
Soweit der Täter durch sein Verhalten gegen eine vollstreckbare Anordnung nach § 1 GewSchG verstößt und sich dadurch nach § 4 GewSchG strafbar macht, ist die Grenze zum tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem
StGB - überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen die durch die Anordnung geschützte Person begangen wird
und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird. Insoweit gelten ähnliche Grundsätze
wie bei der opferentschädigungsrechtlichen Bewertung der Freiheitsberaubung nach §
239 StGB (vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 13; BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 15). Auch mit einem nach § 4 GewSchG strafbaren Verhalten muss eine körperliche Gewaltanwendung einhergehen, um einen tätlichen Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG bejahen zu können (offen gelassen für die Freiheitsberaubung, vgl BSG Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 13; BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 15). Aus einem Verstoß gegen eine Schutzanordnung nach § 1 GewSchG kann nämlich nicht ohne Weiteres auf eine objektive Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens des Opfers
durch eine Tätlichkeit geschlossen werden.
3. Gemessen an diesen Kriterien ist es dem erkennenden Senat anhand der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht möglich,
abschließend zu beurteilen, inwiefern die einzelnen Stalkinghandlungen des H. vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe
gegen die Klägerin iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG darstellen.
a) Eine Wertung als tätlicher Angriff scheidet allerdings von vornherein für alle Telefonate, SMS, Briefe, Karten, Geschenke
und dergleichen sowie für das bloße Klingeln an der Haustür der Klägerin aus, wodurch H. die Klägerin allerdings in erheblicher
Weise belästigt hat. Denn insoweit fehlt es an einer unmittelbar drohenden Gewaltanwendung auch soweit einzelne Mitteilungen
ernste Drohungen enthielten. Entsprechend verhält es sich mit den von H. missbräuchlich veranlassten Notfalleinsätzen, Dienstleistungen
oder Lieferungen zur Wohnung der Klägerin, zumal die beauftragten Personen - soweit ersichtlich - in keiner Weise gegenüber
der Klägerin gewalttätig geworden sind.
b) Nach den festgestellten Gegebenheiten kann es nur bei persönlichen Begegnungen des H. mit der Klägerin zu einem tätlichen
Angriff gekommen sein. Dabei ist es nach den Feststellungen des LSG wiederholt zu Drohungen und Belästigungen gekommen. Inwieweit
eine Gewaltanwendung durch H. unmittelbar bevorstand, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen weitestgehend
nicht entnehmen, zumal es nach der Rechtsauffassung des LSG nicht darauf ankam.
Eine gewisse Sonderstellung nimmt das Geschehen am 18.7.2003 ein. Unter ständigem Einreden auf die Klägerin ist H. ihr an
diesem Tag vom Hauseingang ihrer Wohnung gefolgt und mit ihr in demselben Bus gefahren, bis er sie vor dem Eingang eines Copy-Geschäfts
am Arm festgehalten und zu sich umgerissen hat. Hierin könnte ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG zu sehen sein. Jedenfalls liegt es nahe, eine strafbare, unmittelbar auf den Körper der Klägerin zielende gewaltsame Einwirkung
anzunehmen.
Die Handlung des H. ist nicht wegen eines Verstoßes gegen § 4 GewSchG strafbar, da sie zeitlich vor der Schutzanordnung des AG B. vom 19.8.2003 liegt. Vielmehr kommt eine Strafbarkeit als Nötigung
gemäß §
240 Abs
1 StGB in Betracht, da H. die Klägerin gegen ihren klar erkennbaren Willen durch körperliche Gewalt am Fortgehen gehindert hat.
Diese - an sich nicht gravierende - Gewaltanwendung dürfte unter normalen Umständen zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen
in aller Regel nicht verwerflich iS des §
240 Abs
2 StGB sein (vgl zur umstrittenen Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel jüngst BVerfG Kammerbeschluss vom 7.3.2011
- 1 BvR 388/05 - juris RdNr 38 ff). Dies gilt angesichts der vorangegangenen Drohungen und Belästigungen durch H. seit Oktober 2001 im vorliegenden
Fall hingegen nicht. Fraglich könnte allerdings sein, ob unter Berücksichtigung der Umstände des Tatgeschehens aus der Sicht
eines objektiven vernünftigen Dritten eine hinreichende Gefahr für Leib oder Leben der Klägerin anzunehmen ist. Diese Feststellung
obliegt der tatrichterlichen Würdigung, die der Senat im Revisionsverfahren nicht vornehmen kann (vgl §
163 SGG).
Etwas anders verhält es sich mit den Vorgängen am 2. und 3.10.2003. An diesen Tagen hat H. auf die Klägerin vor ihrer Wohnungstür
gewartet und ist ihr beim Verlassen des Hauses entgegengegangen, mit der Folge, dass die Klägerin in ihr Haus zurückgekehrt
ist und sich zur Arbeit hat abholen lassen. Mit dieser Handlung hat H. in strafbarer Weise gegen die Schutzanordnung des AG
B. vom 19.8.2003 verstoßen. Nach den bisher getroffenen Feststellungen des LSG ist darin jedoch noch keine körperliche Gewaltanwendung
gegenüber der Klägerin und damit kein tätlicher Angriff iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG zu sehen. Allein die Annäherung des H. kann - ohne Hinzutreten weiterer Umstände (zB Drohungen, aggressives Verhalten etc)
- nicht als eine unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung gewertet werden.
4. Da der erkennende Senat die danach noch fehlenden Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren nicht nachholen kann, ist
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (vgl §
170 Abs
2 Satz 2
SGG).
Soweit das LSG nach weiteren Ermittlungen hinsichtlich einzelner Begegnungen der Klägerin mit H. zu dem Ergebnis kommen sollte,
dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG oder sogar von mehreren derartigen Angriffen geworden ist, wird es nach der entschädigungsrechtlichen Kausalitätslehre der
wesentlichen Bedingung die Frage eines wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs zwischen den betreffenden schädigenden Vorgängen
und der bei der Klägerin bestehenden psychischen Krankheit zu prüfen haben. Hierbei ist in aller Regel die Hinzuziehung medizinischen
Sachverstands erforderlich.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.