Anspruch auf Versorgungsleistung der Kriegsopferversorgung bei Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit
Gründe:
I
Der Kläger wendet sich dagegen, dass ihm der Beklagte die Beschädigtengrundrente und den Anspruch auf Heilbehandlung gemäß
§ 1a Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit entzogen hat.
Der Kläger wurde 1923 in B. (damals: Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) geboren. Im Oktober 1942 wurde er
als deutschstämmiger Angehöriger des "Unabhängigen Staates Kroatien" (USK) zur Waffen-SS eingezogen und dem SS-Totenkopfsturmbann
(Wachsturmbann) des Konzentrationslagers Auschwitz zugewiesen. Nach sechsmonatiger infanteristischer Grundausbildung versah
er dort Wachdienst in der "großen" und "kleinen Postenkette" um das Lager herum. Zeitweise bewachte er kleinere Arbeitstrupps
von Häftlingen. Mehrfach war er zum "Rampendienst" eingesetzt: Von den SS-Wachleuten wurde eine Postenkette gebildet, um Fluchtversuche
Deportierter zu verhindern, die außerhalb des umzäunten Lagergeländes aus Eisenbahn-Transportzügen herausgeholt und dann -
nach "Selektion" - zu Zwangsarbeit und Tötung in das geschlossene Lager geführt wurden.
Nach Räumung des Konzentrationslagers Auschwitz im Januar 1945 wurde der Kläger an die Front versetzt, am 14. März 1945 beim
Kampf um Breslau am rechten Auge schwer verwundet, aus anschließender amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1947 an Polen ausgeliefert,
dort zu fünf Jahren Haft verurteilt und 1952 aus Polen nach Deutschland entlassen.
Der Beklagte gewährte dem Kläger Versorgung nach dem BVG (Bescheid vom 18. November 1952); seit dem 1. Februar 1955 waren als Schädigungsfolgen "Verlust des rechten Auges, reizlose
Splitternarben rechte Stirn, rechter Oberarm und linker Unterbauch" anerkannt. Die darauf beruhende Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) beträgt 30 vH.
Nach Anhörung des Klägers entzog der Beklagte diesem mit Bescheid vom 29. November 1999 (Widerspruchsbescheid vom 21. Februar
2000) die Versorgungsleistungen (Beschädigtengrundrente und Anspruch auf Heilbehandlung für die als Folge der Schädigung anerkannten
Gesundheitsstörungen) nach § 1a BVG mit Wirkung ab 1. Januar 2000, weil er als Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz insbesondere durch seinen Einsatz
im "Rampendienst" gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen habe.
Das Sozialgericht Karlsruhe (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Januar 2004); das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung
zurückgewiesen (Urteil vom 15. Juli 2005). Der Kläger habe das Konzentrationslager bewacht und beim "Rampendienst" Posten
gestanden. Dadurch habe er konkret dazu beigetragen, dass deportierte Menschen im Konzentrationslager festgehalten und in
großer Zahl getötet wurden. Der Kläger habe damit gegen Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen, auch wenn er den inneren
Bereich des Konzentrationslagers niemals betreten und niemanden getötet, geschlagen, getreten oder verletzt habe. Er sei auch
nicht gezwungen gewesen, das von ihm als Ort verbrecherischer Massentötung erkannte Konzentrationslager weiter zu bewachen.
Mit nur zwei - erfolglosen - Versetzungsgesuchen zum relativ ungefährlichen Sanitätsdienst statt einer - durchaus aussichtsreichen
- Bewerbung zum Frontdienst habe er zu wenig getan, um dem Wachdienst im Konzentrationslager zu entgehen.
Der Kläger macht mit der Revision geltend: Das LSG habe § 1a BVG verletzt. Es fehle an dem dort geforderten individuellen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit. Ihm werde mit dem
von ihm verrichteten Wachdienst, während dessen er sich keiner Übergriffe gegen Häftlinge schuldig gemacht, sondern deren
Schicksal zu erleichtern versucht habe, statt eines solchen Verstoßes lediglich ein zum Entzug der Versorgungsleistungen nicht
ausreichendes Vorschubleisten angelastet.
Die Wertung des von ihm verrichteten Wachdienstes im Konzentrationslager Auschwitz als individueller Verstoß gegen die Grundsätze
der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit lasse sich mit dem Gleichbehandlungsgebot aus Art
3 Grundgesetz (
GG) nicht vereinbaren, weil gegen Wehrmachtsangehörige wegen ihres Kriegsdienstes der gleiche Vorwurf nur erhoben werde, wenn
sich im Einzelfall eine Beteiligung an konkreten Kriegsverbrechen nachweisen lasse.
Jedenfalls sei ihm die erzwungene Teilnahme an der Bewachung des Konzentrationslagers nicht als ein Verstoß vorzuwerfen, dem
er nicht entgegen getreten sei, obwohl ihm das möglich und zumutbar gewesen wäre. Entscheidend sei die ihm aus seiner damaligen
Sicht bei weiteren, ohnehin aussichtslosen Versetzungsversuchen drohende Konsequenz eigener Inhaftierung im berüchtigten SS-Straflager
Matzkau. Eine Bewerbung zum Frontdienst hätte bedeutet, dort durch Tötung von Menschen an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
mitzuwirken. Unabhängig davon scheide jedenfalls ein vollständiger Leistungsentzug aus, weil er auf unterster Verantwortungsebene
gestanden habe und das Gewicht des ihn persönlich treffenden Schuldvorwurfs wegen des Dienstzwanges und seines Bemühens um
eine menschliche Behandlung der Häftlinge gering sei.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 15. Juli 2005 und des SG Karlsruhe vom 21. Januar 2004 sowie den Bescheid des Beklagten
vom 29. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2000 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Ebenso wie der Beklagte und die
Vorinstanzen wertet der Senat den vom Kläger verrichteten Wachdienst im Konzentrationslager Auschwitz als fortgesetzten Verstoß
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit. Die Tatsachenfeststellungen des LSG reichen jedoch nicht aus, um einen Befehlsnotstand
des Klägers auszuschließen.
Nach § 1a Abs 1 BVG sind einem Berechtigten, der während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder
Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat, Leistungen der Kriegsopferversorgung zu versagen. Bereits bewilligte Leistungen sind nach
§ 1a Abs 2 BVG mit Wirkung für die Zukunft ganz oder teilweise zu entziehen, wenn ein Versagungsgrund im Sinne des Abs 1 vorliegt und das
Vertrauen des Berechtigten auf die weitere Gewährung der Leistungen im Einzelfall auch angesichts der Schwere der begangenen
Verstöße nicht überwiegend schutzbedürftig ist.
Der Senat hat zu dieser Vorschrift in seinem grundsätzlichen Urteil vom 24. November 2005 - B 9a/9 V 8/03 R - (zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; Juris; Anm Luthe in juris PR-SozR 16/2006) bereits entschieden: Die
"Grundsätze der Menschlichkeit" sind als Tatbestandsmerkmal hinreichend bestimmt. Sie galten und gelten unabhängig von jeglicher
staatlicher Anerkennung und Kodifizierung bereits während der Herrschaft des Nationalsozialismus. Die Entziehung von Leistungen
nach der spezialgesetzlichen außerstrafrechtlichen Norm des § 1a Abs 2 BVG verstößt - auch wegen der Möglichkeit des Rückgriffs auf vorkonstitutionelles Recht - nicht gegen Art
103 Abs
2 GG.
Nachgewiesenermaßen hat der Kläger objektiv gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen. Hierfür ist der Nachweis (mindestens)
einer konkreten Handlung erforderlich, durch die unmittelbar in den Kerngehalt eines die Menschenwürde schützenden Menschenrechts
eingegriffen wird. Der Eingriffstatbestand setzt somit einen konkreten, sachlich und zeitlich eingegrenzten und dem Beweis
zugänglichen Lebenssachverhalt voraus, dem die zum Verstoß führende Handlung, die darauf basierende Verletzungshandlung und
der Verletzungserfolg zu entnehmen sind (vgl BSGE 91, 231 = SozR 4-8850 § 5 Nr 1 jeweils RdNr 28 zum Unwürdigkeitstatbestand des Entschädigungsrentengesetzes). Der Kläger meint, diese
Voraussetzungen habe er mit dem von ihm verrichteten Dienst als Mitglied der SS-Wachmannschaft nicht erfüllt. Er sei als Angehöriger
des USK völkerrechtswidrig zur SS eingezogen und durch erzwungenen Wachdienst in das Unrechtssystem des Nationalsozialismus
verstrickt worden. Diesem System habe er bei der Menschenvernichtung im Konzentrationslager Auschwitz durch Wachdienst lediglich
Vorschub geleistet. Denn er habe niemals den umzäunten Lagerbereich betreten, Häftlinge getötet, geschlagen, getreten oder
verletzt oder sonst konkret gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen. Diese Auffassung trifft nicht zu.
Angehörige der SS-Wachmannschaft hatten im Konzentrationslager Auschwitz folgende Aufgaben:
"Die Hauptaufgabe der SS-Wachverbände von Auschwitz war die Absperrung des Lagergebietes und der um das Lager entstehenden
Sperrgebiete und die Verhinderung der Flucht von Häftlingen. Wenn Häftlinge geflohen waren, wurden zur Suche nach den Flüchtigen
Gruppen gebildet, die die geflohenen Häftlinge auch im 'Interessengebiet des KL Auschwitz' wieder ergreifen sollten. Das System
der Isolierung des Lagers von der Außenwelt, das Fluchten aus Auschwitz verhindern sollte, umfasste eine Reihe von präventiven
Maßnahmen, zu denen ua die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung aus dem an das Lager angrenzenden Gebiet, die Anlage der
unter elektrischer Spannung stehenden Umzäunung um die Lager und die Tätigkeit der politischen Abteilung gehörten; die SS-Wachverbände
waren das letzte und unmittelbar eingreifende Glied dieser Kette.
Das System zur Bewachung der Häftlinge im 'Interessengebiet' umfasste zwei Postenketten, durch die SS-Wachposten das Lagergebiet
entlang einer festgelegten Linie absperrten. Die so genannte kleine Postenkette umfasste das umzäunte Gebiet des Stammlagers
Auschwitz und des Lagers Birkenau und war durch die bereits erwähnten Umzäunungen abgesperrt, an denen Wachtürme aufgestellt
waren. Während des Tages wurde, wenn die Mehrzahl der Häftlinge von Auschwitz außerhalb der Lager in den Frauen- und Männer-Arbeitskommandos
eingesetzt war, um das weitere Lagergebiet die so genannte große Postenkette aufgestellt, die nach dem Häftlingsappell am
Abend zurückgezogen wurde. Entlang der großen Postenketten standen in Abständen von ungefähr 200 m provisorische Wachtürme.
Wenn festgestellt wurde, dass Häftlinge geflohen waren, wurde die große Postenkette drei Tage lang aufrechterhalten.
Die den SS-Wachverbänden von Auschwitz zugehörigen SS-Angehörigen wurden neben der Verwendung als Wachposten an festen Einsatzstellen
auch zur Bewachung der Häftlingsarbeitskommandos, zur Begleitung der Häftlingsarbeitskommandos auf dem Weg zu den Arbeitsstellen
oder zu ihrer Überwachung während des Arbeitstages eingesetzt." (vgl Lasik, Die SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz Birkenau, in: Der Auschwitz-Prozess, Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente, 2. Aufl 2005 >digitale Bibliothek
101<, S 446, 474 ff).
Der "Rampendienst" vollzog sich im Wesentlichen wie folgt:
"Die 'Abwicklung' eines für die Vernichtung bestimmten Reichssicherheitshauptamt-Transportes war bis ins Einzelne organisiert.
Bei den verschiedenen Abteilungen des Lagers und beim Wachsturmbann war hierfür ständig ein so genannter 'Rampendienst' eingeteilt.
Die Schutzhaftlagerführung stellte den 'diensthabenden Führer', dessen Aufgabe es war, die Empfangnahme, Einteilung und Vernichtung
der in einem Transport angekommenen Menschen zu leiten und zu beaufsichtigen. Vom Wachsturmbann wurde eine bewaffnete Kompanie
zum Rampendienst geführt. Sie hatte vor dem Einlaufen des Zuges oder, falls dieser bereits an der Rampe stand, vor dem Aussteigen
der in den geschlossenen Wagen wartenden Menschen, in einer gewissen Entfernung von der Rampe um diese einen dichten geschlossenen
Ring bewaffneter Wachtposten zu bilden, um Fluchtversuche der angekommenen Menschen nach dem Aussteigen zu verhindern und
um Unbefugten den Zutritt zur Rampe zu verwehren. Wenn die Postenkette stand, gab der diensthabende SS-Führer das Zeichen
zum Öffnen der Waggons.
...
Die ausgestiegenen Menschen mussten auf Befehl des Rapportführers und der Blockführer in Fünferreihen antreten. Dabei trennten
die SS-Unterführer und SS-Männer Frauen mit Kindern, alte Menschen, Krüppel, Kranke und Kinder unter 16 Jahren als arbeitsunfähig
von den anderen und ließen sie gesondert Aufstellung nehmen. Die übrigen Männer und Frauen traten in getrennten Kolonnen in
Fünferreihen an. Der Transportführer des Zuges übergab die Transportpapiere mit der Anzahl der deportierten Menschen einem
Vertreter der Aufnahmeabteilung der politischen Abteilung. Dieser ließ die angetretenen Menschen zählen und verglich die festgestellte
Anzahl mit der in den Transportpapieren angegeben Zahl. Hiernach rückten die Männer und Frauen, die nicht von vornherein als
arbeitsunfähig ausgesondert worden waren, auf Befehl der SS-Männer vor und defilierten an den an der Spitze der beiden Kolonnen
stehenden SS-Ärzten und SS-Führern vorbei. Aufgabe der Ärzte war es, die Arbeitsfähigen aus den vorbeimarschierenden Menschen
auszuwählen. Dies geschah nach oberflächlicher Betrachtung (gelegentlich unter Befragung nach Alter und Beruf) in der Weise,
dass der Arzt mit einer kurzen Handbewegung die Menschen entweder nach links oder nach rechts schickte. Die einen, die der
Arzt als arbeitsfähig beurteilt hatte, mussten auf der einen Seite - etwas abgesondert von der Masse der übrigen Menschen
- Aufstellung nehmen, während die als arbeitsunfähig beurteilten Menschen nach der anderen Seite in der größeren Kolonne weitergingen,
die dann anschließend in die Gaskammern geführt wurde." (vgl Urteil des Landgerichts Frankfurt/Main vom 19./20.8.1965 - 4 Ks 2/63 -, zitiert nach: Der Auschwitz-Prozess, aa0, S 37267 ff)."
Der Kläger hat von 1943 bis zur Verlegung der "Rampe" in das umzäunte Lager (Mitte Mai 1944) als SS-Wachmann wiederholt "Rampendienst"
und fortgesetzt bis zur Räumung des Lagers 1945 Wachdienst in der "kleinen" und "großen Postenkette" verrichtet. Damit hat
er - anders als von ihm angenommen - nicht lediglich im Sinne eines Vorschubleistens (vgl dazu BGHR BEG § 6 Abs 1 Nr 1 "Vorschubleisten"
1) die Bedingungen für Ausbreitung und Entwicklung der nationalsozialistischen Herrschaft verbessert. Er hat durch bloßes
Wachestehen als funktionierender Teil des letzten und unmittelbar eingreifenden Gliedes der Sicherungskette auch ohne gezielte
Handlungen gegen einzelne Häftlinge "arbeitsteilig" an der Vernichtung von Menschen durch Zwangsarbeit und massenhafte Tötung
im Konzentrationslager Auschwitz mitgewirkt.
Zu Unrecht macht der Kläger geltend, er werde damit in verfassungswidriger Weise anders behandelt, als Soldaten des Zweiten
Weltkrieges. Es verstoße gegen Art
3 Abs
1 GG, deren Teilnahme am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg versorgungsrechtlich nicht zu sanktionieren, seine Teilnahme am Wachdienst
aber als Versagungs- und Entziehungstatbestand nach § 1a BVG zu werten. Anders als der Kläger meint, lassen sich die Teilnahme eines Soldaten am Zweiten Weltkrieg und der Dienst eines
SS-Wachmannes im Konzentrationslager Auschwitz nicht gleichsetzen. Der Kläger hat mit seinem Dienst an der verbrecherischen
Vernichtung von Zivilpersonen mitgewirkt und damit gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen.
Dies gilt nicht ohne weiteres für einen Soldaten, der an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilnimmt. Ein solcher unter
Missachtung des völkerrechtlichen Agressionsverbots begonnener Krieg mag zwar gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit
verstoßen. Adressaten des Gewaltverbots sind aber grundsätzlich die Staaten (vgl dazu Bothe in Graf Vitzthum [Hrsg], Völkerrecht,
3. Aufl, 8. Abschnitt RdNr 11; Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl, § 59 RdNr 16, 21, § 64 RdNr 3 ff; Kurth, in NZWehrr 2005, S 59
ff). Individuelle völkerrechtliche Verantwortung trifft insoweit nur den, der als politischer oder militärischer Führer bzw
Organisator einen Angriffskrieg plant, vorbereitet oder durchführt (vgl dazu Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3,
2. Aufl, S 1047; Kurth, aaO, S 64; Werle, Völkerstrafrecht, 2003, RdNr 1165; Wollny, KJ 2003, S 48 ff), nicht den an einem
solchen Krieg teilnehmenden gemeinen Soldaten. Damit entfällt für diesen insoweit auch ein persönlicher Schuldvorwurf iS von
§ 1a BVG.
Die Rechtswidrigkeit von schädigenden Handlungen (insbesondere Verletzung oder Tötung von Menschen) im Kriege beurteilt sich
nach Kriegsvölkerrecht, also den bei der Führung des Krieges einzuhaltenden Regeln (vgl dazu Hinz/Rauch, Kriegsvölkerrecht,
3. Aufl 1984), und zwar unabhängig davon, ob der bewaffnete Konflikt völkerrechtlich bedenkenfrei entstanden ist (vgl Jähnke
in Leipziger Komm,
StGB, 10. Aufl, §
212 RdNr 16 mwN). Ein von den nationalsozialistischen Machthabern für ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg instrumentalisierter
Soldat machte sich folglich erst durch konkrete, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Kriegsverbrechen zu wertende
Handlungen (vgl jetzt §§ 8 ff Völkerstrafgesetzbuch [VStGB]; allgemein dazu Meseke, Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen
Strafgerichtshofes, 2004, S 269 ff) eines Verstoßes gegen die in § 1a BVG genannten Grundsätze schuldig. Das BVG gründet auf der Vorstellung, die gesundheitlich geschädigten deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges seien Opfer, nicht
Täter eines von den nationalsozialistischen Machthabern geführten völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskrieges gewesen.
Nur deshalb ist dem Kläger, der nach Räumung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 als Angehöriger der Waffen-SS militärischen
(jedenfalls militärähnlichen) Dienst geleistet hat, wegen der Folgen der dabei erlittenen gesundheitlichen Schädigung zunächst
Versorgung nach dem BVG gewährt worden.
Das Verhalten des Klägers ist bei dem danach feststehenden Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit nicht durch Befehl
gerechtfertigt gewesen. Der Kläger hat zwar sowohl beim allgemeinen Wachdienst als auch beim "Rampendienst" auf Befehl gehandelt.
Das rechtfertigt sein Verhalten aber nicht, weil die befohlene Handlung nicht rechtmäßig war. Allgemeiner Wachdienst und "Rampendienst"
waren als arbeitsteilig geleistete Beiträge zur Vernichtung von Menschen durch Zwangsarbeit und Tötung offensichtlich schwerstes
Unrecht (vgl dazu den in § 3 VStGB geregelten Entschuldigungsgrund "Handeln auf Befehl oder Anordnung").
Ob dieser Verstoß dem Kläger individuell zur Last zu legen ist, lässt sich nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht
abschließend entscheiden.
Wie der Senat im grundsätzlichen Urteil vom 24. November 2005 - B 9a/9 V 8/03 R - (zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; juris) ausgeführt hat, bedarf es zur Feststellung der subjektiven
Seite eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit keines Verschuldens im strafrechtlichen Sinne. Die Rechtsordnung
kennt in einem abgestuften System zahlreiche Sanktionen unterschiedlicher Intensität, mit denen einem rechtsfeindlichen oder
gemeinschaftsschädigenden Verhalten begegnet werden kann. Die Unwürdigkeitsklausel des § 1a BVG ist in dieses außerstrafrechtliche Sanktionensystem eingebettet. Die Verletzungshandlung gegen die von den Grundsätzen der
Menschlichkeit erfassten Schutzgüter ist ohne Rücksicht auf ihre Strafbarkeit als Verbrechen oder Vergehen zu beurteilen.
Gleichwohl muss dem Betroffenen - wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 1a Abs 1 Satz 2 BVG ergibt - die Tat individuell zur Last gelegt werden können. Ein persönlich schuldhaftes Verhalten muss ihm nachgewiesen werden.
Ein solches Handeln liegt immer dann vor, wenn der Betroffene die Tatsachen kannte, aus denen sich das unmenschliche oder
rechtsstaatswidrige Verhalten ergibt, ihm die Unmenschlichkeit oder Rechtsstaatswidrigkeit bewusst war oder bei der ihm zumutbaren
Gewissensanspannung hätte bewusst sein müssen und nicht besondere Gründe die Schuld ausschließen (vgl Senatsurteil, aaO, RdNr
63, 64). Bis auf das letztgenannte sind diese Merkmale hier vom LSG ohne Rechtsverstoß bejaht worden.
Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§
163 Sozialgerichtsgesetz >SGG<) wusste der Kläger, dass er mit seinem Wach- und "Rampendienst" dazu beitrug, Gefangene ohne Rechtsgrund festzuhalten,
Zwangsarbeit verrichten zu lassen und in großer Zahl zu töten.
Soweit sich der Kläger sinngemäß auf einen "Befehlsnotstand" (vgl dazu §
35 Strafgesetzbuch >StGB<) beruft, kommt es insbesondere darauf an, ob er den Wachdienst aus Angst um Leib oder Leben verrichtet und nach besten
Kräften Möglichkeiten ergriffen hat, dem befohlenen Dienst zu entgehen. Auch angesichts der Ungeheuerlichkeit der Vorgänge,
an denen er in Auschwitz beteiligt war, war es ihm grundsätzlich nicht zuzumuten, sein Leben preiszugeben. Vielmehr bemessen
sich nach dem Gewicht der Tat nur die Anforderungen, die an die Bemühungen des Klägers um einen Ausweg aus seiner Lage zu
stellen sind (vgl dazu allg BGHSt 18, 311).
Die vom Kläger behauptete Vorstellung, bei Befehlsverweigerung hingerichtet oder in das SS-Straflager Matzkau eingeliefert
zu werden, vermag ihn für sich allein nicht zu entschuldigen. Denn selbst wenn offene Befehlsverweigerung in der von ihm befürchteten
Weise bestraft worden wäre, hätte er alles Zumutbare tun müssen, um befohlene Unrechtstaten zu vermeiden. Erst (tatsächliche
oder unvermeidbar irrtümlich angenommene) Ausweglosigkeit könnte entschuldigen. Ob sich der Kläger in einer solchen Situation
befunden hat, vermag der Senat nicht abschließend zu entscheiden.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger zweimal - vergeblich - versucht, sich zum Sanitätsdienst versetzen
zu lassen, um einen Einsatz an der Front hat er sich dagegen nicht beworben. Die Meldung zu einem solchen Dienst wäre - so
das LSG - bei beharrlicher Verfolgung nicht aussichtslos gewesen, wie der in der Presse belegte Fall eines SS-Mannes aus dem
Konzentrationslager Auschwitz zeige, der nach vielen vergeblichen Versuchen schließlich im Oktober 1944 seine Versetzung an
die Ardennen-Front erreicht habe. Diese Ausführungen des LSG decken sich mit den Ergebnissen historischer Forschung. Danach
ist die SS-Besatzung des Konzentrationslagers Auschwitz im Laufe seines Bestehens - zahlenmäßig - insgesamt zweimal ausgetauscht
worden. Die SS-Angehörigen wurden in erster Linie zu Fronteinheiten der Waffen-SS und zu anderen Konzentrationslagern versetzt.
Die Frontversetzungen hatten im Verlauf des Krieges eine steigende Tendenz und erreichten ihren höchsten Stand im Januar 1945
(als sie auch den Kläger erfassten). Im Laufe des Jahres 1944 wurden von 6.160 in die Untersuchung einbezogenen SS-Angehörigen
des Konzentrationslagers Auschwitz 53 an SS-Schulen und zu SS-Truppenübungsplätzen versetzt, 21 zu Divisionen der Waffen-SS
und 36 zu anderen Kampfeinheiten der Waffen-SS; für das Jahr 1943 lauten die Zahlen 9, 14 und 25 (vgl Lasik, Die SS-Besatzung
des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, in: Der Auschwitz-Prozess, aaO, S 508 ff). Einzelne Fälle erfolgreicher
Gesuche um Versetzung an die Front sind auch durch Zeugenaussagen im Auschwitz-Prozess dokumentiert (Der Auschwitz-Prozess,
aaO, Verhandlungsprotokoll, S 12657 ff und S 19354).
Dazu ist zunächst festzuhalten: Der Dienst in Kampfeinheiten der Waffen-SS ist im Vergleich zum KZ-Wachdienst als das "mildere
Mittel" zu bewerten, weil er nicht ohne weiteres mit Rechtsverletzungen, insbesondere Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit
oder Rechtsstaatlichkeit, verbunden gewesen wäre. Trotz der damit möglicherweise einhergehenden Gefahren für Leib und Leben
war dieser Ausweg jedem Mitglied der SS-Besatzung des Konzentrationslagers Auschwitz, das deutschem Wehrrecht unterlag, schon
aufgrund dieses besonderen Rechtsverhältnisses zumutbar (vgl dazu §
35 Abs
1 Satz 2
StGB).
Ob dies auch für den Kläger gilt, ist allerdings zweifelhaft, weil es Anhaltspunkte dafür gibt, dass er als volksdeutscher
Angehöriger des USK völkerrechtswidrig zur Waffen-SS eingezogen worden ist (vgl dazu Absolon in Sammlung wehrrechtlicher Gutachten
und Vorschriften, Heft 15, 1977, S 86 ff; Herzog, Die Volksdeutschen in der Waffen-SS, 1955, S 10 ff; Stein, Geschichte der
Waffen-SS, 1978, S 152 ff; Wuescht, Jugoslawien und das Dritte Reich, 1969, S 272 ff). Dazu fehlen Feststellungen des LSG.
Sollten diese Zweifel durchschlagen, käme es weiter darauf an, ob der Kläger bereits durch eine Versetzung zu Kampfeinheiten
der Waffen-SS zwangsläufig in eine neue Notstandssituation mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben geraten wäre (vgl
dazu Lenckner in Festschrift Lackner, 1987, S 95, 98; Neumann in Nomos Komm,
StGB, 2. Aufl, §
35 RdNr 27; Rudolfi in SK
StGB Bd I, §
35 RdNr 10 c) oder erst durch einen konkreten Kampfeinsatz an der Front. Da es für den Kläger darum ging, (weitere) Verstöße
gegen die Menschlichkeit zu vermeiden, war ihm ein Ausweg zumutbar, der bis an die Grenze des Notstandes mit Wagnissen verbunden
war (vgl dazu auch BGH NJW 1972, S 832, 834). Dieser Punkt ist erst erreicht, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Gesundheitsschadens nahe liegt (vgl dazu Hirsch, aaO,
§ 34 RdNr 32, § 35 RdNr 17). Auch dazu hat das LSG keine näheren Feststellungen getroffen.
Diese sind auch nicht entbehrlich, weil der Kläger geltend macht, er habe es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können,
auf deutscher Seite am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilzunehmen (vgl dazu BVerwG NJW 2006, S 77; LG Köln NJW 1998,
S 2688 mit Anm Gritschner NJW 1998, S 2652, und Lehmann, KJ 1998, S 254). Wäre es so gewesen, hätte er sich zwischen zwei
mit seinem Gewissen nicht vereinbaren Übeln entscheiden müssen und vorwerfbar die fortgesetzte Mitwirkung an massenhafter
Menschenvernichtung gewählt statt einer Kriegsteilnahme, durch die er nicht individuell zurechenbar gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit verstoßen hätte.
Abgesehen davon wäre die Lage des befehlsunterworfenen Klägers (im Sinne eines Putativnotstandes, vgl §
35 Abs
2 StGB) subjektiv ausweglos gewesen, hätten ihm trotz objektiv bestehender zumutbarer Versetzungsmöglichkeit - weitere oder andersartige
- Versetzungsgesuche von vornherein als völlig aussichtslos oder sogar gefährlich erscheinen müssen. Trotz einer entsprechenden
Behauptung des Klägers hat das LSG dazu keine näheren Tatsachenfeststellungen getroffen.
Da der erkennende Senat eine ergänzende Sachverhaltsaufklärung nicht selbst durchführen kann (vgl §
163 SGG), ist die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Unter diesen Umständen braucht auf die vom Kläger in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrügen nicht eingegangen zu werden.
Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG ua zu ermitteln haben, welche Informationen über Versetzungsmöglichkeiten
und Versetzungspraxis der Kläger hatte bzw unter Einsatz aller Kräfte hätte erlangen können, welche Auskünfte, Hinweise, Belehrungen
und ggf Befehle ihm auf seine Bewerbungen zum Sanitätsdienst hin gegeben worden sind und welche Folgerungen er daraus ableiten
durfte. Aufschlüsse könnten sich insoweit auch aus bisher nicht verwertetem Beweismaterial, wie der SS-Personalakte des Klägers
und den polnischen Unterlagen über seine Verurteilung im Jahre 1947 (vgl dazu Lasik, Die Strafverfolgung der Angehörigen der
SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, in: Der Auschwitz-Prozess, S 556, 575 f), ergeben.
Sollte das LSG erneut zu dem Ergebnis kommen, der Kläger habe gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen, ohne sich
dabei auf Befehlsnotstand berufen zu können, so wird es wiederum zu entscheiden haben, ob die bewilligten Leistungen nach
§ 1a Abs 2 BVG "ganz oder teilweise zu entziehen" sind. Dabei wird zu beachten sein, dass diese Vorschrift nur den groben Entscheidungsmaßstab
angibt: Das Vertrauen des Berechtigten auf eine fortwährende Gewährung der Leistungen im Einzelfall darf auch angesichts der
Schwere der begangenen Verstöße nicht überwiegend schutzbedürftig sein. Damit wird der Rechtsanwender befugt und verpflichtet,
die Entziehung dem Ausmaß nach am Gewicht des Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit zu orientieren.
Diese Aufgabe haben der Beklagte und die Instanzgerichte bisher gelöst, indem sie unter Wiederholung des Gesetzestextes den
Totalentzug pauschal mit der Schwere des vom Kläger begangenen Verstoßes begründen. Dem mag unausgesprochen zu Grunde gelegen
haben, dass ein schwerer wiegender Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit als ein konkret zurechenbarer Beitrag zum
Zentralverbrechen unter nationalsozialistischer Herrschaft, der massenhaften Ermordung europäischer Juden, nicht vorstellbar
ist und sich jede Differenzierung unter den daran Beteiligten nach Umfang und Gewicht ihres Beitrages verbietet. Das LSG wird
aber zu überlegen haben, ob § 1a Abs 2 BVG - auch im Hinblick auf Art
3 Abs
1 GG - nicht dazu zwingt, - ebenso wie im Strafrecht bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme (vgl dazu Werle, Der Holocaust
als Gegenstand der bundesdeutschen Strafjustiz, NJW 1992, S 2529 ff) - jeweils einen aus dem Vollzug staatlich organisierten
Völkermordes isolierten individuellen Beitrag nach dem Maß individueller Schuld zu werten und gegenüber den Beiträgen anderer
abzustufen.
Das LSG wird schließlich auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.