Gründe:
I.
Der Kläger betreut die verwaisten Geschwister S. M. (geboren 1979) und D. M. (geboren 1982) nach dem Tod ihrer Mutter im Oktober
1989 in seiner Familie. Im April 1990 wurde der Kläger zu ihrem Vormund bestellt. Den Antrag des Klägers vom 17. April 1991,
ihm Hilfe zur Erziehung zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Januar 1992 ab. Wirtschaftliche Jugendhilfe
könne nur im Zusammenhang mit erzieherischen Hilfen gewährt werden; dafür fehle aber ein erzieherischer Bedarf, weil die dem
Wohl der Kinder entsprechende Erziehung durch den Kläger gewährleistet sei.
Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Hilfe
zur Erziehung in Vollzeitpflege für die minderjährigen Kinder D. M. und S. M. zu bewilligen. Die Berufung der Beklagten hat
das Oberverwaltungsgericht unter Bezug auf die Gründe im Urteil des Verwaltungsgerichts und die dort in Bezug genommene Begründung
in dem im einstweiligen Anordnungsverfahren ergangenen Beschluß des Oberverwaltungsgerichts vom 25. August 1992 (FEVS 43,
157) mit - zusammengefaßt - folgenden Gründen zurückgewiesen:
§ 33
SGB VIII sei auch anzuwenden, wenn eine Herkunftsfamilie nicht mehr existiere, weil beide Eltern gestorben seien. Gerade dann bestehe
der für die Erziehungshilfe vorausgesetzte Erziehungsbedarf. Ohne entsprechendes Entgelt seien nicht genügend Personen bereit,
die erforderliche Pflege zu übernehmen. Der Kläger sei auch geeignet, die Kinder zu betreuen.
Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage: Dem Kläger stehe keine Hilfe zur Erziehung zu,
weil er als Vormund seine Mündel ausreichend selbst betreuen müsse und könne. Es gehe ihm nicht um pädagogische, sondern nur
um finanzielle Hilfe. Allein finanzielle Hilfe könne mit der Hilfe zur Erziehung nicht begehrt werden.
Der Kläger und der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht verteidigen die Berufungsentscheidung.
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Denn das Oberverwaltungsgericht hat ihre Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts,
das sie verpflichtet, dem Kläger Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege für seine beiden Mündel zu bewilligen, zu Recht zurückgewiesen.
Nach § 27 Abs. 1
SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung),
wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung
geeignet und notwendig ist. Die Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35
SGB VIII gewährt (§ 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld
des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden (§ 27 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII). Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen
und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie
Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform
bieten (§ 33 Satz 1 SGB VIII). Im Rahmen dieser Hilfe ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen,
der auch die Kosten der Erziehung umfaßt (§ 39 Abs. 1
SGB VIII).
Wie das Berufungsgericht zu Recht entschieden hat, steht dem Anspruch des für seine Mündel personensorgeberechtigten (§§
1793,
1800,
1631 Abs.
1
BGB) Klägers auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege nach §§ 27, 33
SGB VIII nicht entgegen, daß er seine Mündel in seiner Familie selbst erzieht und dort auch weiter erziehen will.
§ 33 Satz 1 SGB VIII spricht von "einer anderen Familie" in Abgrenzung zur "Herkunftsfamilie", nicht zur "Familie des Personensorgeberechtigten".
Auch daraus, daß § 38
SGB VIII die Ausübung der Personensorge regelt, wenn Personensorgeberechtigter und Pflegeperson verschiedene Personen sind, ergibt
sich nicht, daß § 33
SGB VIII zwingend voraussetzt, daß der Personensorgeberechtigte nicht zugleich Pflegeperson oder umgekehrt die Pflegeperson nicht
zugleich Personensorgeberechtigter ist. Nach §
1630 Abs.
3
BGB kann das Vormundschaftsgericht unter bestimmten Voraussetzungen Angelegenheiten der elterlichen Sorge, also z.B. die Personensorge,
auf die Pflegeperson übertragen, die insoweit dann die Rechte und Pflichten eines Pflegers hat. Aus der Sicht des § 33 Satz 1 SGB VIII ist "Herkunftsfamilie" die Familie, aus der das Kind oder der Jugendliche ursprünglich herkommt. An anderer Stelle spricht
das Gesetz von der "eigenen Familie" des Kindes oder des Jugendlichen (s. §§ 36, 37
SGB VIII). Die Hilfe nach § 33
SGB VIII in einer anderen Familie als der Herkunftsfamilie ist eine der in § 37
SGB VIII behandelten "Hilfen außerhalb der eigenen Familie" (s. dazu die Überschrift des § 37
SGB VIII; im Text des § 37 Abs. 1
SGB VIII ist die "eigene Familie" als "Herkunftsfamilie" bezeichnet). Dieses Verhältnis von "Herkunftsfamilie" und "anderer Familie"
zeigt sich auch in § 34
SGB VIII. So bestimmt § 34 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII es als Aufgabe, zu versuchen, eine Rückkehr in die Familie (= Herkunftsfamilie) zu erreichen, und § 34 Satz 2 Nr. 2, die
Erziehung in einer anderen Familie vorzubereiten.
Die Familie des Klägers ist für seine Mündel eine andere Familie im Sinne von § 33
SGB VIII. Denn der Kläger ist nicht der Vater seiner Mündel, seine Familie nicht die Herkunftsfamilie seiner Mündel.
Das Berufungsgericht ist weiter zu Recht der Auffassung, daß der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege nach §§
27, 33
SGB VIII nicht voraussetzt, daß die Herkunftsfamilie noch vorhanden ist (s. auch § 86 Abs. 4
SGB VIII zur örtlichen Zuständigkeit für den Fall, daß beide Eltern gestorben sind). Die Annahme des Berufungsgerichts, daß in §§
27 ff., namentlich §§ 33 und 38
SGB VIII, der Fall als "Modellfall" geregelt sei, "in dem eine Herkunftsfamilie noch existiert", und daß die Hilfe zur Erziehung in
Vollzeitpflege nach § 33
SGB VIII "regelmäßig" nicht auf Dauer angelegt sei (das Berufungsgericht spricht insoweit auch von Erziehungshilfe in der "Regelform"),
trifft allerdings nicht zu. Bereits nach dem Gesetzeswortlaut setzt eine Hilfe nach § 33
SGB VIII keine Herkunftsfamilie voraus; denn die Aufgabenstellung, Hilfe "entsprechend... den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen
in der Herkunftsfamilie" zu gewähren, erfaßt auch alle die Fälle, in denen eine solche Möglichkeit - aus welchen Gründen auch
immer - nicht besteht, also auch deshalb, weil die Herkunftsfamilie nicht mehr vorhanden ist. Zudem ist mit dem Berufungsgericht
dem Sinn und Zweck der Vorschriften zu entnehmen, daß die §§ 27 ff. SGB VIII auch und erst recht die Fälle erfassen, in denen die Rückkehr in die Herkunftsfamilie ausgeschlossen ist, weil diese nicht
mehr existiert. Sind beide Eltern gestorben, kann die Erziehungsaufgabe nur durch andere Personen durchgeführt werden. Hilfe
zur Erziehung in Vollzeitpflege nach § 33
SGB VIII soll eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Beide Formen stehen nicht
in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis, sondern sind gleichrangig. Die Wahl zwischen ihnen im Einzelfall bestimmt sich nach den
in §§ 27, 33
SGB VIII genannten Kriterien.
Die Hilfe zur Erziehung setzt nach § 27
SGB VIII allgemein und damit auch für die in Vollzeitpflege nach § 33
SGB VIII voraus, daß eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende und für seine Entwicklung notwendige Erziehung nicht
gewährleistet ist (§ 27 Abs. 1
SGB VIII), daß sein erzieherischer Bedarf (§ 27 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) ungedeckt ist.
Der Umstand, daß ein Kind oder Jugendlicher nach dem Tod beider Eltern keine Herkunftsfamilie mehr hat, bewirkt allerdings
nicht notwendig, daß sein erzieherischer Bedarf ohne Hilfe zur Erziehung ungedeckt ist. Denn die erforderliche Betreuung minderjähriger
Waisen kann auch ohne öffentliche Jugendhilfe z.B. durch einen Vormund oder Pfleger (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
SGB VIII) oder einen Verwandten oder Verschwägerten (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3
SGB VIII) geleistet werden (nicht jede Familienpflege ist erlaubnispflichtig [s. § 44 Abs. 4 SGB VIII]; nicht jede Familienpflege [s. zur Definition der Pflegeperson § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII:... außerhalb des Elternhauses in seiner Familie regelmäßig betreut...] ist öffentliche Hilfe zur Erziehung).
Die Mündel des Klägers sind auf öffentliche Hilfe zur Erziehung angewiesen. Ihr erzieherischer Bedarf im Sinne von § 27
SGB VIII ist nicht durch eine jugendhilfeunabhängige Betreuung gedeckt. Denn der Kläger hat mit seinem Anspruch auf öffentliche Hilfe
zur Erziehung geltend gemacht, daß er vom Zeitpunkt des Antrages an die tatsächliche Betreuung seiner Mündel nicht (mehr)
als tatsächliche Betreuung im Rahmen seiner Personensorge als Vormund erbringt, allerdings bereit ist, die Mündel im Rahmen
der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege in seiner Familie als Pflegefamilie zu betreuen.
Da der Kläger nach §
1793
BGB das Recht und die Pflicht hat, für die Person seiner Mündel zu sorgen und die Personensorge nach §§
1800,
1631 Abs.
1
BGB insbesondere das Recht und die Pflicht umfaßt, die Mündel zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und ihren Aufenthalt
zu bestimmen, könnte er zwar die tatsächliche Betreuung und Erziehung seiner Mündel selbst übernehmen. Täte er das zur Erfüllung
seiner Aufgabe als Vormund, so handelte er im Rahmen seines familien- und vormundschaftsrechtlichen Wirkungskreises und insoweit
unentgeltlich (vgl. §
1836 Abs.
1 Satz 1
BGB); ein offener erzieherischer Bedarf als Voraussetzung für einen Anspruch auf öffentliche Hilfe zur Erziehung bestünde dann
nicht.
Der Kläger ist aber nicht verpflichtet, im Rahmen seiner Personensorge als Vormund die tatsächliche Betreuung und Erziehung
seiner Mündel selbst zu übernehmen. Nach allgemeiner Meinung ist ein Vormund nach §§
1793,
1800,
1631 Abs.
1
BGB zwar verpflichtet, für die Person seines Mündels und damit für seine Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung zu sorgen. Er
ist aber nicht verpflichtet, die tatsächliche Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung selbst auszuführen; es genügt, wenn er
dafür sorgt, daß der Mündel seinem Wohl entsprechend durch andere gepflegt, erzogen und beaufsichtigt wird. Die dafür erforderlichen
Kosten fallen nicht dem Vormund, der als solcher dem Mündel keinen Unterhalt schuldet, sondern dem Mündel zur Last.
Der Kläger ist zur tatsächlichen Betreuung seiner Mündel geeignet. Das hat das Berufungsgericht festgestellt und wird von
der Beklagten im Revisionsverfahren nicht in Frage gestellt. Da die Geschwister bereits vor dem Hilfeantrag in der Familie
des Klägers gelebt haben, wäre eine Entscheidung der Beklagten, die Geschwister in eine andere Familie als die des Klägers
zu geben, nur gerechtfertigt, wenn das ihrem Wohl besser entspräche und für ihre Entwicklung besser geeignet wäre. Zudem ist
die Beklagte in ihrer Wahl der Pflegeperson auch deshalb eingeschränkt, weil sie die erforderliche Hilfe nicht rechtzeitig
erbracht hat und der Kläger bis zur Streitentscheidung über den Hilfeanspruch die den Gegenstand dieser Hilfe bildende tatsächliche
Betreuung der Geschwister im Vorgriff auf die bisher vorenthaltene Hilfe selbst erbracht hat. Damit verengt sich die nachträgliche
Hilfeentscheidung des Jugendhilfeträgers auf die im Vorgriff auf die öffentliche Jugendhilfe tatsächlich geleistete Betreuung,
vorausgesetzt, sie ist, wie hier, eine für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen geeignete Betreuung.
Dem Ergebnis, daß auch ein Vormund Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege für seine Mündel hat, kann nicht mit
Recht entgegengehalten werden, damit werde die Hilfe zur Erziehung zu einer "bloß" wirtschaftlichen Hilfe. Das trifft schon
deshalb nicht zu, weil der Jugendhilfeträger bei rechtzeitiger Entscheidung die Art und Ausgestaltung der Hilfe bestimmen
kann. Zudem hat der Gesetzgeber die Leistungen zum Unterhalt - der auch die Kosten der Erziehung umfaßt - als Bestandteil
(BTDrucks 11/5948 S. 75: Annex-Anspruch) der Hilfe zur Erziehung bestimmt (§ 39
SGB VIII). Die finanzielle Sicherstellung der Pflege hat großes Gewicht. Im Rahmen der Hilfe zur Erziehung ist der Unterhalt des Kindes
oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses (§ 39 Abs. 1
SGB VIII) auch dann sicherzustellen, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher von nahen Verwandten oder anderen Personen, die keiner Pflegeerlaubnis
bedürfen - dazu gehört der Vormund (§ 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
SGB VIII) -, betreut wird (vgl. BTDrucks 11/5948 S. 75).
Das hier gewonnene Ergebnis entspricht auch der Gesetzessystematik im Verhältnis von Familienrecht einschließlich Vormundschafts-
und Pflegschaftsrecht einerseits und Kinder- und Jugendhilferecht andererseits sowie dem Zweck des dem Personensorgeberechtigten
zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen (s. § 27
SGB VIII; vgl. auch § 37 Abs. 2
SGB VIII) zustehenden Rechtes auf Hilfe zur Erziehung. Denn §
1630 Abs.
3
BGB sieht bei einer Familienpflege für längere Zeit die Möglichkeit vor, Angelegenheiten der elterlichen Sorge auf die Pflegeperson
zu übertragen. Damit soll die Betreuung erleichtert und verbessert, keinesfalls aber ihre finanzielle Absicherung verschlechtert
werden. Dadurch, daß die Pflegeperson mit der Übertragung der Personensorge insoweit die Pflichten eines Pflegers erhält,
soll der bisherige Unterhaltsbedarf des Kindes oder des Jugendlichen, der auch die Kosten der Erziehung umfaßt, nicht verringert
werden; insbesondere bewirkt eine solche Übertragung der Personensorge auf die Pflegeperson nicht, daß die tatsächliche Erziehung
des Kindes oder des Jugendlichen durch die Pflegeperson kostenlos wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
154 Abs.
2
VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf §
188 Satz 2
VwGO.
Beschluß
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Revisionsverfahren auf 13299,36 DM festgesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG).