Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für ungarische Staatsangehörige
bei Aufenthalt zur Arbeitsuche
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist für Arbeitssuchende ungarischer Staatsangehörigkeit europarechtskonform.
2. Auch eine geringfügige Beschäftigung lässt den Leistungsausschluss entfallen, es sei denn sie ist völlig untergeordnet
und unwesentlich, was bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem monatlichen Verdienst von 100 € nicht
angenommen werden kann. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Normenkette: AEUV Art. 21
,
AEUV Art. 45
,
Richtlinie 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2
,
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 4
,
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 70
,
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1
,
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2
,
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 25. Mai 2012 abgeändert und der Antragsgegner
im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 26. Mai 2012 bis zum Eintritt der Bestandskraft
des Bescheides vom 4. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 2012, längstens jedoch bis 31. Oktober
2012, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des einstweiligen Rechtschutzverfahrens in beiden Rechtszügen
zur Hälfte zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ohne Ratenzahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwalt
M. W. beigeordnet.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg (SG) vom 25. Mai 2012 ist zulässig, aber nur zum Teil begründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller ab 26. Mai 2012 bis längstens 31. Oktober 2012
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.
Hinsichtlich der Rechtsgrundlagen für die begehrte einstweilige Anordnung verweist der Senat auf den angefochtenen Beschluss
des SG (§
142 Abs.
2 Satz 3
SGG). Die einstweilige Anordnung war ab dem 26. Mai 2012 bereits deshalb zu erlassen, da der Antragsteller glaubhaft gemacht
hat, Arbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern
(Freizügigkeitsgesetz/EU) zu sein, was den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entfallen lässt (vergleiche nur BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, B 14 AS 23/10 R, veröffentlicht in [...]). Der Antragsteller hat mittels eidesstattlicher Versicherung vom 11. Juni 2012 glaubhaft gemacht,
dass er in einem Umfang von 16 Stunden wöchentlich beschäftigt ist. Auch wenn aus der Bestätigung des Hotel Restaurant L.
vom 1. Juni 2012 nicht hervorgeht, wie viel Stunden der Antragsteller zur Arbeit verpflichtet ist und ob er tatsächlich 400,-
EUR pro Monat verdient, besteht für den Senat kein Anlass, an der tatsächlichen Verrichtung der Arbeit in diesem Umfang zu
zweifeln. Dieser Umfang der Tätigkeit ist auch nicht völlig untergeordnet und unwesentlich, da bereits eine wöchentliche Stundenzahl
von 7,4 Std. zur Arbeitnehmereigenschaft führt (vgl. hierzu BSG a.a.O.; Tießler-Marenda, Sozialrecht aktuell, Zeitschrift für Sozialberatung, 2012, S. 42; EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010,
C-14/09). Auch der nur geringfügige Verdienst von ca. 400,- EUR - nach der Lohnabrechnung für den Monat Mai 2012 vom 30. Mai 2012
erhielt der Kläger bereits für den kurzen Zeitraum vom 26. bis 31. Mai 2012 150,- EUR Lohn - widerspricht dem nicht. Das BSG hat einem Monatsverdienst von lediglich 100,- EUR (BSG a.a.O.) keine dem entgegenstehende Bedeutung beigemessen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist ein schriftlicher
Arbeitsvertrag nicht erforderlich; er kann auch mündlich wirksam abgeschlossen werden. Ggf. erforderliche Ermittlungen über
das Beschäftigungsverhältnis sind einem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Entgegen der Auffassung des SG hat der Antragsteller aber keinen Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits ab dem 14. Mai 2012. Anders als
das SG hält der Senat den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für europarechtskonform. Der Antragsteller hielt sich vor dem 26. Mai 2012 allein zur Arbeitsuche auf (vgl. § 2 Abs. 2 Nr.
1 Alternative 2 Freizügigkeitsgesetz/EU) so dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift. Der Senat schließt sich dem 3. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg im Urteil vom 16. Mai 2012, L
3 AS 1477/11, veröffentlicht in [...], vollumfänglich an. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt weder gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Artikel 4 i.V.m. Artikel 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit noch verletzt Artikel 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie das Primärrecht der Union, insbesondere Artikel 29 EUV (nunmehr Artikel 45 AEUV). Der Senat verweist zur näheren Begründung auf das veröffentlichte Urteil des 3. Senates vom 16. Mai 2012. Ein Anordnungsanspruch
ist damit nicht gegeben (so auch der 9. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg im Beschluss vom 16. Juli 2012, L
9 AS 1790/12 ER-B). Da der Antragsgegner in Ausführung des Beschlusses des SG Leistungen für die Zeit vom 14. bis 25. Mai 2012 bereits tatsächlich erbracht hat (s. dessen Schreiben vom 26. Juni 2012),
besteht für diese Zeit auch kein Anordnungsgrund (Eilbedürfnis) mehr.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Hierbei war für den Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens ausschlaggebend, dass der Antragsteller mit seinem zeitlich
unbegrenzt geltend gemachten Begehren nur teilweise erfolgreich war und ein Anordnungsanspruch erst nach Abschluss des erstinstanzlichen
Verfahrens durch Aufnahme einer Beschäftigung am 26. Mai 2012 begründet worden ist.
Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da der Gegner die Beschwerde erhoben hat (vgl. §
119 Abs.
1 Satz 2
ZPO) und der Antragsteller bedürftig im Sinne der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe ist.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).