Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten in der gesetzlichen Krankenversicherung
Anforderungen an die Verfügbarkeit allgemein anerkannter, dem medizinischen Standard entsprechender Leistungen – hier bei
einer rheumatoiden Arthritis mit erheblicher, persistierender Aktivität
Tatbestand
Die 1977 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Mit Schreiben vom 16.08.2018, bei der Beklagten eingegangen am 20.08.2018, beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für
eine Therapie mit medizinischem Cannabis. Sie leide an rheumatoider Arthritis. Die Erkrankung sei schwerwiegend und nach ärztlicher
Einschätzung mit Standardtherapien nicht oder nicht ausreichend zu behandeln oder diese Standardtherapien seien mit ausgeprägten
Nebenwirkungen verbunden. Der Rheumatologe Dr. B. befürworte die Begleittherapie mit medizinischem Cannabis. Dem Antrag beigelegt
wurden der Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V), ausgefüllt von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. L., sowie weitere ärztliche Befundberichte und Fachliteratur.
Die Beklagte bat den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) um eine gutachterliche Stellungnahme. Dr. S. kam in
seinem Gutachten vom 21.08.2018 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin unter einer rheumatoiden Arthritis leide. Es sei nach den
vorliegenden Angaben zum Verlauf davon auszugehen, dass bei der Versicherten eine schwerwiegende Erkrankung vorliege. Es stünden
allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen zur Verfügung. Eine nachvollziehbare Begründung,
warum diese nicht zur Anwendung kommen können, liege nicht vor. Bei der Klägerin seien bisher lediglich Schmerzmittel WHO
Stufe 1 und Physiotherapie angewandt worden. Weitere nichtmedikamentöse Verfahren wie komplexe multimodale Schmerztherapie,
Psychotherapie/Verhaltenstherapie - wie in Leitlinien empfohlen - sei nicht dokumentiert. Zur Behandlung einer rheumatoiden
Arthritis bei unzureichendem Ansprechen auf eine Therapie mit Methotrexat stünden zahlreiche Phase III geprüfte Arzneimittel
zur Verfügung, hierzu werde auf die entsprechenden Leitlinien der European League Against Rheumatism (EULAR) verwiesen.
Mit Bescheid vom 28.08.2018 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis in Form von
Cannabisblüten der Sorte Argyle unter Hinweis auf das eingeholte Gutachten ab. Es stünden noch alternative Behandlungsoptionen
zur Verfügung.
Die Klägerin erhob am 21.09.2018 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, dass ihre rheumatoide Arthritis unstreitig eine
schwere Krankheit darstelle und eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
bestehe. Dies sei durch die dem Antrag beigefügten wissenschaftlichen Artikel belegt. Ein konkreter positiver Effekt durch
Reduzierung der Schwellungen und Schmerzen gehe auch aus der Bescheinigung von Dr. L. vom 16.08.2018 hervor. Nach dem ärztlichen
Attest vom 02.08.2018 und der ärztlichen Bescheinigung zur Verwendung von Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 SGB V sei belegt, dass bei ihr NSAR, mehrmalige Kortisontherapien und seit Januar 2018 Methotrexat eingesetzt worden seien. Diese
Therapien hätten jedoch unzureichend gewirkt oder hätten zu intolerablen Nebenwirkungen geführt. Sie habe daher bereits einige
Behandlungsalternativen erprobt. Es sei auch nicht nachvollziehbar, inwiefern eine Psychotherapie oder Verhaltenstherapie
bei einer äußerst schmerzhaften rheumatoiden Arthritis zu einer deutlichen Verbesserung führen könne. Bei den angesprochenen
Phase III-Medikamenten handele es sich um Opioidanalgetika bzw hochpotente Nicht-Opioidanalgetika. Diese Medikamente seien
meist mit erheblichen, wesentlich stärkeren Nebenwirkungen verbunden als eine Therapie mit Cannabinoiden. Eine Behandlungsumstellung
sei ihr nicht zuzumuten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07.02.2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.
Zur Begründung ihrer am 07.03.2019 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt.
Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. L. hat in seiner Stellungnahme vom 20.06.2019 ausgeführt, die Klägerin in der Zeit vom
02.08.2018 bis 27.02.2019 behandelt zu haben. Die Klägerin leide unter Schwellung, Druckschmerz beider Handgelenke, Fingergelenke,
Knie und Sprunggelenke. Die Diagnose sei rheumatoide Arthritis mit chronischen Gelenkschmerzen. Er habe medizinisches Cannabis
in Form von Cannabisblüten per Inhalation verordnet. Es sei eine gute Wirksamkeit und Schmerzlinderung bei rheumatischen Schüben
mit Gelenkschmerzen und Rückgang der Schwellungen erzielt worden. Es bestünden keine Hinweise auf Suchterkrankungen. Als weitere
Behandlungsmaßnahmen kämen noch die Weiterführung der rheumatologischen Behandlung, unter anderem mit Methotrexat, Kortison,
Ibuprofen und Folsäure in Betracht. Die Klägerin habe langdauernde Therapieerfahrung mit der konventionellen Rheumatherapie.
Sie habe die Erfahrung gemacht, dass sie durch Cannabis ihre Schmerzen reduzieren und ihrer Arbeits- und Leistungsfähigkeit
erhalten könne. Außerdem gelinge ihr eine Reduktion der begleitenden Medikamente, die auch mit erheblichen Nebenwirkungen
behaftet seien. Ohne eine Behandlung mit Cannabisblüten drohe eine Schmerzverstärkung und Rückgriff auf Antirheumatika, die
bei der Klägerin mit erheblichen bis starken Nebenwirkungen behaftet gewesen seien (Oberbauchbeschwerden, Übelkeit, Appetitstörung,
Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung).
Der Facharzt für Orthopädie Dr. B. hat unter dem 24.06.2019 ausgeführt, dass die Klägerin seit 18.01.2018 in seiner regelmäßigen
rheumatologischen Behandlung sei. Die Kontrolluntersuchungen seien anfangs alle sechs Wochen, danach alle 2-3 Monate durchgeführt
worden. Die letzte Vorstellung sei am 19.05.2019 erfolgt. Die Basistherapie mit Methotrexat habe immer wieder wegen schwankender
schubartiger Schmerzen und Schwellungen vor allem in den Händen angepasst werden müssen. Am 31.10.2018 sei eine Radiosynoviorthese
(Wiederherstellung bzw Erneuerung der Gelenkschleimhaut mit Hilfe von radioaktiven Substanzen) des linken Handgelenks durchgeführt
worden, danach habe sich eine leichte Linderung des Beschwerdebildes ergeben. Wegen anhaltender Schwellungen im rechten Kniegelenk
seien am 14.01.2019 eine intraartikuläre Injektion mit Prednisolon und Lidocain in das Kniegelenk durchgeführt worden. Die
Therapie mit Cannabis sei Mitte 2018 begonnen worden, danach habe die Dosis des Basismedikaments reduziert und Kortison schleichend
abgesetzt werden können. Hinweise auf eine Suchterkrankung der Klägerin lägen nicht vor. Bei der Klägerin liege eine seropositive
rheumatoide Arthritis vor, die im Januar 2017 erstmalig diagnostiziert worden sei. Die Beschwerdesymptomatik habe sich verbessert,
es bestünden jedoch noch weiterhin rezidivierende Gelenkschmerzen bzw Gelenkschwellungen. Die jetzige Basistherapie mit Methotrexat
10 mg einmal wöchentlich erscheine ausreichend, Kortison habe abgesetzt werden können. Bei Zunahme der Schwellungen könne
auch die Basistherapie mit weiteren Medikamenten zB Leflunomid ausgeweitet werden. Hierbei bestehe jedoch der Nachteil einer
zunehmenden Leberschädigung. Die Behandlung mit Cannabisblüten sei bei entzündlich rheumatischen Erkrankungen sinnvoll und
auch medizinisch indiziert, wenn rezidivierende Entzündungsschübe auftreten. Bei der Klägerin seien die CRP-Werte und die
Blutsenkung weiterhin erhöht, was auf ein deutliches entzündliches Geschehen schließen lasse. Im Gegensatz zu anderen Analgetika
der Stufe 2 und 3 wirke Cannabis nicht nur schmerzlindernd, sondern auch entzündungshemmend. Deswegen habe das Basismedikament
Methotrexat von 15 mg auf jetzt 10 mg reduziert werden können. Normale Antiphlogistika würden über Leber und Niere aufgebaut
und sollten bei einer Basistherapie mit Methotrexat nicht in größeren Mengen verordnet werden. Daher sei die Therapie mit
Cannabisblüten aufgrund der entzündungshemmenden Wirkung bei der Behandlung der Klägerin medizinisch notwendig.
Mit Gerichtsbescheid vom 15.11.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2019 verurteilt,
die Klägerin nach ärztlicher Verordnung vom 08.02.2018 mit Medizinal-Cannabisblüten (Argyle) zu versorgen. Die Klägerin leide
unter einer schwerwiegenden Erkrankung. Für die rheumatoide Arthritis mit starken Gelenkschmerzen und Schwellungen der Klägerin
stehe zwar grundsätzlich eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende medikamentöse Behandlung
mit Analgetika zur Verfügung. Diese könne aber im Fall der Klägerin nicht mehr als alleinige Therapie zur Anwendung kommen,
weil die Behandlung mit NSAR, mehrmalige Kortisonstoßtherapien, die Behandlung mit einer Dosis von Methotrexat 10-15 mg sich
als unzureichend erwiesen habe bzw zu intoleranten Nebenwirkungen geführt habe. Dem Anspruch stehe nicht entgegen, dass die
ärztlichen Bescheinigungen des behandelnden Arztes vom 16.08.2018 keine ausreichend begründete Einschätzung unter Abwägung
der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Klägerin enthalte. Diese Folgenabwägung
hätten Dr. L. und Dr. B. in ihren sachverständigen Zeugenaussagen im Gerichtsverfahren vorgenommen.
Gegen den ihr am 06.01.2020 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 21.01.2020 erhobene
Berufung der Beklagten. Sie macht geltend, inhalative Cannabis-Produkte seien aufgrund der kurzen Wirkdauer, des schnellen
Anflutens, der Gefahr einer Lungenschädigung und Entwicklung eines Abhängigkeitssyndroms nur in Einzelfällen als unbedenklich
und zweckmäßig einzustufen. Des Weiteren widerspreche die Verordnung von Cannabisblüten bei bestehender Wirksamkeit des deutlich
kostengünstigeren Dronabinol dem Gebot einer wirtschaftlichen Verordnungsweise. Die Beklagte verweist auf die Ausführungen
des MDK, dass die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen nicht vorlägen, da die dem medizinischen Standard entsprechenden
Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft seien. Eine umfangreiche Sachstandsaufklärung sei nicht erfolgt. Bei der begehrten
Therapie mit Cannabisblüten bei rheumatoider Arthritis handele es sich gemäß der S2e-Leitlinie "Therapie der rheumatoiden
Arthritis mit krankheitsmodifizierten Medikamenten" um keine leitliniengerechte Behandlung. Gemäß dem vorliegenden Arzneimittelkonto
sei nur eine Basistherapie mit Methotrexat und Folsäure erfolgt. So sei zB der Stellungnahme des behandelnden Orthopäden vom
26.02.2020 zu entnehmen, dass die bestehende Medikation fortzusetzen sei. Eine Therapie mit Cannabisblüten werde lediglich
durch den behandelnden Hausarzt unterstützt.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 15.11.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie erwidert, dass sich aus den Ausführungen der behandelnden Vertragsärzte nachvollziehbar und nach Auffassung des Gerichts
ausreichend ergebe, dass sich die konservative Therapie der rheumatoiden Arthritis als unzureichend erwiesen bzw zu intolerablen
Nebenwirkungen geführt habe und sie eine Steigerung der konventionellen Therapie nicht vertrage. Hinsichtlich der von der
Beklagten angeführten S2e-Leitlinie sei zudem festzustellen, dass sich die in der Kurzfassung der S2e-Leitlinie genannten
Zeiträume für eine derartige Therapiestrategie auf 24 Wochen erstrecke. Demnach hätte die Klägerin trotz der bereits erprobten
Arzneimittel über ein halbes Jahr weiter andere Therapieansätze ausprobieren sollen. Dies wäre ihr gerade in Anbetracht der
ärztlich belegten starken Nebenwirkungen nicht zumutbar gewesen. Auch aus den Ausführungen von Dr. B. vom 24.06.2019 ergebe
sich, dass sie verschiedene Medikamente erprobt habe und es zu gesundheitlichen Problemen gekommen sei. Hierbei sei es ua
zu einer Belastung der Leber und der Niere und des Herz-Kreislauf-Systems gekommen. Wie Herr Dr. L. in seiner ärztlichen Stellungnahme
ausführt habe, habe sie langdauernde Therapieerfahrung mit der konservativen Rheumatherapie. Sie habe die Erfahrung gemacht,
dass sie durch Cannabis ihre Schmerzen reduzieren und ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit erhalten könne. Außerdem gelinge
ihr die Reduktion der begleitenden Medikamente, die auch mit erheblichen Nebenwirkungen behaftet seien. Sie habe demnach -
wie ärztlich dargelegt - bereits einige Medikamente und Therapien erprobt. Diese hätten zu keiner ausreichenden Verbesserung
ihrer Symptome geführt oder seien mit starken nicht hinnehmbaren Nebenwirkungen verbunden gewesen.
Der Senat hat ein orthopädisch-rheumatologisches Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Dr. B. vom 14.12.2020
eingeholt. Er hat ausgeführt, bei der Klägerin liege eine seropositive (Anti-CCP- und RF-postitive) rheumatoide Arthritis
vor. Es handele sich um eine sowohl mit einem erheblichen Entzündungspotenzial und einer deutlichen Therapieresistenz einhergehende
wie auch schnell knöchern und arthrogen destruierende und erosiv verlaufende Manifestationsform dieser Erkrankung. Neben einer
allgemeinen deutlichen Schmerzhaftigkeit und vorzeitiger Ermüdbarkeit sei es zusätzlich zu einer Morgensteifigkeit infolge
der erheblichen, bisher therapieresistenten entzündlichen Veränderungen, aktuell nachweisbar im Bereich der Schultergelenke
(rechts stärker als links), beider Ellenbogengelenke, beider Handgelenke, der Fingergrundgelenke an beiden Händen, der Kniegelenke
und der Peronaeussehnenloge des rechten Sprunggelenks sowie bisher vor allem an den Handgelenken gekommen. Neben den Schmerzen
und Schwellungen habe sich auch eine entzündlich bedingte zerstörende Komponente, vor allem der Handgelenke, nachweisen lassen
mit deutlicher Abnahme der funktionellen Belastbarkeit der Arme. Es handele sich um eine Erkrankung, die sich durch die Schwere
von durchschnittlichen Erkrankungen abhebe. Als besondere Verlaufsform im Sinne der Schwere der Erkrankung müsse bei der Klägerin
festgehalten werden, dass zum einen trotz einer so genannten Basismedikation, wenn auch in sehr niedriger Dosierung, eine
erhebliche persistierende, deutlich entzündliche Aktivität im Bereich der großen und kleinen peripheren Gelenke bestehe. Weiterhin
sehr auffallend sei, dass trotz einer erst dreijährigen Krankheitsanamnese doch schon deutliche Destruktionen, zumindest in
den Handgelenken, nachweisbar seien. Es sei daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass, wenn die zukünftige medikamentöse
Therapie den bisher doch erheblichen, therapieresistenten, entzündlichen Prozess nicht unterbinden könne, eine diesbezügliche
weitere deutliche Verschlechterung der Gelenksituation der Extremitäten eintreten werde mit dementsprechender Behinderung
in der Alltagsbelastung und in der beruflichen Belastbarkeit der Klägerin sowie mit Intensivierung der Schmerzproblematik.
Als Therapieversuch bekannt sei die Durchführung einer oralen Kortisontherapie, die wegen einer dann aufgetretenen tiefen
Beinvenenthrombose abgebrochen worden sei. Unter dieser Vorgeschichte sollte eine Kortisontherapie nicht mehr routinemäßig
durchgeführt werden. Außerdem seien nichtsteroidale Antiphlogistika benutzt worden, die zu erheblichen Magen-Darmproblemen
der Klägerin geführt hätten. Derzeit werde eine Methotrexat-Therapie in kleinster Dosierung durchgeführt, ebenfalls zur Vermeidung
von Nebenwirkungen des Gastrointestinaltraktes. Insgesamt seien die schmerzlindernden und entzündungshemmenden Effekte dieser
Therapie nach Aussage der Klägerin eher von geringer Wirkung gewesen. Die Therapiemöglichkeiten seien noch nicht ausgeschöpft,
weil bisher noch keine Therapie mit den so genannten Biologika durchgeführt worden sei, was dringend durchgeführt werden sollte,
da sich eine erhebliche persistierende entzündliche Aktivität der Erkrankung im Bereich der peripheren Gelenke eingestellt
habe und trotz der kurzen Krankheitsphasen von ca drei Jahren schon erhebliche destruktive Veränderungen der Handgelenke nachweisbar
seien. Zusätzlich sollte je nach Notwendigkeit eine Methotrexat-Begleittherapie erfolgen, in Abhängigkeit von der Verträglichkeit
wie bisher. Bei ausreichender Wirksamkeit der Biologika und der gleichzeitigen Methotrexat-Therapie könne auf Kortikoide und
NSAR wahrscheinlich verzichtet werden oder aber in der kleinstmöglichen Dosis verabreicht werden, sodass die Nebenwirkungsmöglichkeiten
minimalisiert werden könnten. Dr. B. hat darauf hingewiesen, dass die Verwendung der Cannabisprodukte zu einer trügerischen
Sicherheit der Patienten führen könne. Die starke schmerzlindernde Wirkung suggeriere, dass die entzündliche Aktivität im
gleichen Maße unterdrückt werde wie der Schmerz, sodass die Notwendigkeit einer intensiveren Entzündungshemmung nicht gesehen
oder übersehen werde. Dies scheine im Fall der Klägerin stattgefunden zu haben. Es sei eine ausreichende Schmerzlinderung
vorhanden, wenn auch nicht vollständig zufriedenstellend, sodass bei gleichzeitigem CRP-Abfall als Entzündungsindikator von
einer ausreichenden entzündlichen Depression ausgegangen worden sei, was sich jedoch in der klinischen Untersuchung und in
auch in der sonografischen und radiologischen Befunddokumentation nicht wiedergespiegelt habe.
Die Beklagte sieht sich in ihrer Ansicht, es bestünden noch Therapiealternativen, bestätigt. Die Klägerin wendet ein, dass
Biologika nicht zur Anwendung kommen könnten, da diese erhebliche Auswirkungen auf das Immunsystem hätten. Da sie aufgrund
ihrer Autoimmunerkrankung bereits ein angeschlagenes Immunsystem aufweise, sei fraglich, ob Biologika tatsächlich eine wirkliche
Behandlungsalternative darstellten. Gerade in Anbetracht der derzeitigen Corona-Pandemie sei ein möglicher Eingriff in das
Immunsystem bei immunsuppremierten Personen durch Biologika infrage zu stellen.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten
sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§
143,
144 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und begründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht zur Versorgung der Klägerin mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten verurteilt. Die Klägerin
hat keinen Anspruch auf diese Leistungen. Der Bescheid der Beklagten vom 28.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 07.02.2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Nach §
27 Abs
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln (§
31 SGB V). Gemäß §
31 Abs
6 Satz 1
SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten
oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon,
wenn (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (a) nicht zu Verfügung steht oder (b)
im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen
und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und (2.) eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome
besteht. Nach §
31 Abs
6 Satz 2
SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen
abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Ein Anspruch Klägerin auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität
oder auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nicht.
Die Klägerin leidet unter einer schwerwiegenden Erkrankung. Der Begriff der "schwerwiegenden Erkrankung" wird in §
31 Abs
6 SGB V nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln nur in "eng begrenzten
Ausnahmefällen" gegeben sein (BT-Drs 18/8965 S 14 und 23). Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung
stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung konzipiert
ist, hat es der Senat für sachgerecht erachtet, den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung so wie in §
35c Abs
2 Satz 1
SGB V zu verstehen (LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, juris Rn 28; LSG Baden-Württemberg 01.10.2018, L 11 KR 3114/18 ER-B, juris Rn 20; so auch Axer in Becker/Kingreen, 7. Aufl 2020, §
31 Rn 65; Nolte in Kasseler Kommentar, Stand 09/2020, §
31 SGB V Rn 75d; Pitz in jurisPK-
SGB V, 4. Aufl 2020, §
31 Rn 125; Wagner in Krauskopf, Stand 07/2020, § 31 Rn 48; vgl. ferner LSG Baden-Württemberg, 16.10.2020, L 4 KR 813/19, juris Rn 40). Daher muss es sich um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt
der Erkrankungen abhebt (BSG 26.09.2006, B 1 KR/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 5). Bei der Klägerin liegt eine rheumatoide Arthritis vor, die mit erheblichen Entzündungspotenzial und einer deutlichen
Therapieresistenz einhergeht. Sie ist verbunden mit einer allgemeinen deutlichen Schmerzhaftigkeit. Bei der Klägerin sind
vor allem die Schultergelenke, beide Ellenbogengelenke, beide Handgelenke, beide Fingergrundgelenke an beiden Händen, Kniegelenke
und der Peronaeussehnenloge des rechten Sprunggelenks getroffen. Der Senat stützt sich hierbei insbesondere auf das schlüssig
und nachvollziehbare Gutachten des Dr. B..
Allerdings stehen noch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung. Die Klägerin
kann noch mit Biologika (biotechnologisch hergestellte Wirkstoffe) behandelt werden, wie Dr. B. ausführlich und nachvollziehbar
dargestellt hat. Mit diesen Medikamenten wird die Grunderkrankung behandelt, was wiederum auch zu einer Reduktion der Schmerzen
führen kann. Dass eine Alternative zur Verfügung steht, wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen. Vielmehr ist
sie der Auffassung, diese Therapiealternative sei ihr unzumutbar. Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Zwar können auch
diese Arzneimittel zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, worauf Dr. B. ebenfalls hingewiesen hat. Dennoch hat der Sachverständige
angesichts der erheblichen, persistierenden entzündlichen Aktivität der bei der Klägerin bestehenden rheumatoiden Arthritis
"dringlichst" zu einer solchen Therapie geraten.
Wenn jedoch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stehen, kommt ein Anspruch
auf Versorgung mit Cannabispräparaten nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des §
31 Abs
6 Satz 1 Nr
1b SGB V vorliegen, also im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden
Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Ausführungen des Dr. L. in seiner ärztlichen Bescheinigung zur Verwendung von
Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 SGB V enthalten eine solche begründete Einschätzung nicht. Unabhängig von einer gewissen Einschätzungsprärogative/Therapiehoheit
des behandelnden Vertragsarztes (vgl LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn 26, juris; LSG Hamburg 02.04.2019, L 1 KR 16/19 B ER, Rn 14, juris; LSG Berlin-Brandenburg 27.05.2019, L 9 KR 72/19 B ER, Rn 7, juris; s auch BT-Drucks 18/10902 S 20) muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden
Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen darstellen.
Ferner muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum
Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
nicht zur Anwendung kommen kann. Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht
im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl LSG Nordrhein-Westfalen 25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER, Rn 69 ff, juris; LSG Schleswig-Holstein 26.06.2019, L 5 KR 71/19 B ER, Rn 17, juris; Beschluss des Senats vom 14.01.2021, L 11 KR 3898/20 ER-B).
Diesen Anforderungen genügt die Bescheinigung von Dr. L. nicht. Er hat lediglich ausgeführt, dass die bisherige Therapie aufgrund
erheblicher Nebenwirkungen wieder reduziert werden musste. Diese Therapie hätten sich bislang als unzureichend wirksam erwiesen
bzw hätten zu intolerablen Nebenwirkungen geführt. Anhand dieser Angaben lässt sich nicht nachvollziehen, wie Dr. L. zu seinem
Ergebnis gekommen ist. Die Nebenwirkungen wurden nicht einmal ansatzweise geschildert. Eine Abwägung mit den Nebenwirkungen
der Cannabistherapie findet sich ebenfalls nicht. Die Behandlungsoptionen der Biologika, die von Dr. B. ausführlich dargestellt
worden ist, ist in keiner Weise thematisiert worden. Dr. L. hat vielmehr angegeben, es stünden Behandlungsoptionen zur Verfügung,
die sich jedoch als nicht oder unzureichend wirksam erwiesen hätten. Da die Therapie mit Biologika bislang jedoch noch nicht
zur Anwendung gekommen ist, können sich seine Angaben hierauf nicht beziehen. Die Ausführungen sind daher im Hinblick auf
die Würdigung der Therapieoptionen erkennbar unvollständig. Ungeachtet der Frage, ob die "begründete Einschätzung" noch während
des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann, ist eine solche jedenfalls nicht erfolgt. Wenn ersichtlich eine Behandlungsformen
(hier Biologika) vollständig unerwähnt bleibt, liegt eine den Anforderungen des §
31 Abs
6 Nr
1b SGB V begründete Einschätzung nicht vor.
Aber selbst bei Außerachtlassung der Gruppe der Biologika stehen noch Therapieoptionen zur Verfügung, mit denen sich Dr. L.
nicht auseinandergesetzt hat. Dr. B. hat ausführlich dargelegt, welche Möglichkeiten zur Behandlung der Erkrankung noch bestehen.
Dass die Klägerin weitere dort genannten Medikamente wie beispielsweise Leflunomid ausprobiert hat, wurde während des Verfahrens
nicht geschildert, sondern vielmehr wurde auf die bereits erfolgte Behandlung mit NSAR, Kortison, Folsäure und Methotrexat
hingewiesen. Im Ergebnis waren die bisherigen Versuche und die damit auch die Einschätzung von Dr. L. auf wenige Medikamente
beschränkt. Warum andere Medikamente nicht ausprobiert werden können, wurde nicht dargelegt. Die Klägerin hat selbst angegeben,
dass eine Änderung der Therapie nicht beabsichtigt ist.
Da eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Erreichung der Behandlungsziele zur Verfügung
steht, sind auch die Voraussetzungen des §
2 Abs
1a SGB V nicht erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs
2 Nr
1,
2 SGG).