Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung mit Cannabinoiden in Form des Fertigarzneimittels Dronabinol nach §
31 Abs
6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) streitig.
Der 1962 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung
von 50 ab 07.09.2011 festgestellt.
Der Kläger legte am 23.07.2018 der Beklagten den "Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 SGB V" des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. W. vom 19.07.2018, der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist, vor. Danach
solle der Wirkstoff THC, Handelsname Dronabinol, Verordnungsmenge in 30 Tagen 500 mg, Tagesdosis 3 * 5 g, Darreichungsform
Tabletten zur Behandlung chronischer neuropathischer Rückenschmerzen und einer chronischen Hepatitis mit dem Ziel der Schmerzlinderung
verordnet werden. Die Erkrankung sei schwerwiegend mit Beeinträchtigungen in allen Bereichen des Alltages. Daneben bestünden
Depression und Hepatitis C. Der Kläger habe nichtsteroidale Antirheumatika und Tilidin (Opioid) nicht vertragen.
Die Beklagte legte dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) unter dem 27.07.2018 den Antrag
zur gutachterlichen Stellungnahme vor und informierte den Kläger darüber am gleichen Tag. Der MDK gelangte am 21.08.2018 durch
Dr. M. zu der Beurteilung, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung nicht erfüllt seien. Ob bei dem Kläger
eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, könne sozialmedizinisch nicht bestätigt werden. Der Vertragsarzt habe keine Behandlungsunterlagen
eingereicht. Seit Jahren laufe keine Heilmitteltherapie. Bezüglich des Kreuzschmerzes seien keine Facharztbehandlung, keine
Krankenhausbehandlung, keine Rehabilitation und keine Hilfsmittelversorgung im Leistungsauszug der Beklagten dokumentiert.
Auch habe weder Funktionstraining noch Rehabilitationssport stattgefunden. Eine nachvollziehbare Diagnostik bezüglich des
Kreuzschmerzes sei nicht dokumentiert. Somit lasse sich die hausärztlich gestellte Diagnose eines "neuropathischen Schmerzes"
nicht nachvollziehen. Diese Diagnose sei nicht gesichert. Auch sei weder dem Arztfragebogen noch dem Leistungsauszug der Beklagten
eine leitliniengerechte Schmerztherapie zu entnehmen. Diese umfasse in der Regel eine Kombinationstherapie aus Antidepressiva,
Antikonvulsiva, Opioiden und Topika, wobei die Dosis jeweils anfangs niedrig zu wählen und auszutarieren sei. Die dokumentierte
Gabe von Tilidin 100/8 Retard sei bereits eine hohe Dosis. Ein darauf zurückzuführendes Erbrechen und Vigilanzstörungen seien
durch adäquate Dosisreduktion zu beherrschen. Aus sozialmedizinischer Sicht liege eher ein unspezifischer Kreuzschmerz vor,
der gemäß der nationalen Versorgungsleitlinie "Nicht spezifischer Kreuzschmerz" zu behandeln sei.
Mit Bescheid vom 24.08.2018 lehnte die Beklagte die Verordnung für Cannabisarzneimittel auf Kassenrezept ab. Dagegen legte
der Kläger am 26.09.2018 Widerspruch ein. Er legte eine Heilmittelversorgung des Facharztes für Orthopädie Dr. B. vom 04.09.2017
über sechsmal Krankengymnastik wegen der Diagnosen rezidivierende Lumbalgie, Spondylolisthesis L5/S1, Verdacht auf Spondylose
L5, Chondrose L5/S1, Spondylarthrose untere Lendenwirbelsäule mit den Therapiezielen Funktionsverbesserung und Schmerzreduktion
durch Verringern oder Beseitigen der Gelenkfunktionsstörung, den Bescheid des Landratsamts L. vom 31.07.2018 über die Ablehnung
des Antrages auf Neufeststellung des Grades der Behinderung (Funktionsbeeinträchtigung chronische Leberentzündung <Hepatitis>,Therapienebenwirkungen,
Depressionen, Ohrgeräusche <Tinnitus>, Neurodermitis, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule), ein Attest des Facharztes für
Allgemeinmedizin Dr. E. vom 21.09.2018 ("Wirbelsäulenerkrankung, die lebenslang immer wieder zu schweren Schmerzzuständen
führen kann, die langfristig Schmerztherapie notwendig macht"), einen Befundbericht des Orthopäden Dr. B. vom 06.09.2017 ("Therapie:
Zur externen Entlastung und Stabilisierung Verordnung einer entsprechenden LWS-Orthese. Zudem Versorgung von KG, regelmäßige
eigengymnastische Beugung zur Stabilisierung, insb des lumbosacralen Übergangs sollte weiter fortgeführt werden. Kurzzeitig
nach Bedarf von Verträglichkeit Ibuprofen 600-Einnahme, wie bereits begonnen. Bei akuter Symptomatik paravertebrale infiltrative
Maßnahmen. Bei neurologischen Ausfallserscheinungen zusätzlich MRT-Untersuchung.") und 18.10.2018 ("Therapie: Konsequente
eigengymnastische Beübung sollte weiter fortgeführt werden, begleitend intensive schmerztherapeutische Mitbehandlung, wie
bereits eingeleitet, wobei dem Pat. medikamentös, laut seiner Aussage, bisher durch Dronabinol am besten geholfen wurde, so
dass evtl. hier sogar eine weitere Berufstätigkeit möglich erscheint. Andere Schmerzmedikamente wie MSAR oder Opiate wurden
aufgrund z.B. von chronischer Gastritis oder Nebenwirkungen wir Erbrechen und kognitive Störungen nicht vertragen. Zur externen
Stabilisierung zudem Verordnung einer neuen LWS-Orthese. Einem operativen Vorgehen steht der Pat. sehr skeptisch gegenüber.")
vor.
Unter Vorlage dieser Unterlagen sowie eines Leistungsverzeichnisses bat die Beklagte um eine erneute sozialmedizinische Stellungnahme
des MDK. In dem sozialmedizinischen Gutachten vom 19.11.2018 gelangte der MDK durch Dr. B. zu der Einschätzung, dass die medizinischen
Voraussetzungen für die Leistung nicht erfüllt seien. Die vorgelegte Heilmittelverordnung vom 04.09.2017 sei offensichtlich
nicht in Anspruch genommen worden, da aus den Daten der Beklagten keine entsprechende Abrechnung ersichtlich sei. Als Schmerzmittel
sei Ibuprofen, Novaminsulfon, Tilidin, Naloxon und Naproxen zum Einsatz gekommen. Im vorliegenden Fall sei bei rezidivierenden
Rückenschmerzen seit zumindest 2012, rezidivierenden depressiven Episoden seit 2012 und einer Hepatitis C von einer schwerwiegenden
Erkrankung auszugehen. Therapie der Wahl zur Behandlung einer Hepatitis C sei die antiinfektiöse Therapie mit verschiedenen
Wirkstoffen, die je nach vorliegendem Virustyp und Begleiterkrankungen ausgewählt würden. Aus den Behandlungsdaten der Beklagten
sei nicht ersichtlich, dass eine solche Behandlung erfolgt sei. Hinsichtlich der Rückenschmerzen sei zu beachten, dass seit
2010 keine Krankengymnastik mehr erfolgt sei. Bezüglich der Schmerztherapie sei den Verordnungsdaten im Zeitraum bis August
2017 insgesamt fünfmal die Verordnung von nichtsteroidalen Antirheumatika (Ibuprofen, Naproxen), einmal die Verordnung von
Novaminsulfon sowie einmal die Verordnung des niedrigpotenten Opioids Tilidin zu entnehmen. Eine bezüglich neuropathischer
Schmerzen empfohlene Arzneimitteltherapie (z.B. trizyklische Antidepressiva, selektive Serotomin-Noradrealin-Wiederaufnahmehemmer,
Antikonvulsiva) sei nicht eingesetzt worden. Auch sei nicht geklärt, inwiefern Schmerzempfinden und Schmerzverarbeitung des
Klägers als Ausdruck einer psychischen Beeinträchtigung anzusehen seien. Im Hinblick auf die gehäuften depressiven Episoden
bei letzter psychiatrischer Vorstellung im Jahr 2012 sei eine erneute psychiatrische Vorstellung erforderlich. Schließlich
sei unklar, ob die Schmerzen des Klägers durch die Hepatitis C im Sinne einer extrahepatischen Manifestation beeinflusst würden.
Dr. W. habe in dem Arztfragebogen vom 19.07.2018 außer zur Therapie mit nicht-steroidalen Antirheumatika keine Stellung zu
weiteren Therapiealternativen genommen. Weiterhin habe er sich nicht zu einem möglichen Cannabis-Suchtproblem geäußert, nachdem
Dr. D. 2012 psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide: schädlicher Gebrauch diagnostiziert worden sei. Die Studienlage
ergebe keine Hinweise, dass Cannabinoide den Krankheitsverlauf bei Hepatitis C spürbar positiv beeinflussen könnten. Demgegenüber
lägen Hinweise darauf vor, dass Cannabinoide bei chronischen Schmerzen den Verlauf und die Ausprägung bei akzeptabler Verträglichkeit
spürbar positiv beeinflussen könnten.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 24.08.2018 durch Widerspruchsbescheid
vom 13.03.2019 als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 15.04.2019 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Eine krankengymnastische Behandlung sei bei ihm ohne greifbaren Erfolg vor Jahren beendet worden. Ungeachtet dessen
führe er die ihm gezeigten Übungen regelmäßig selbst fort. Die ihm bislang verordneten Medikamente seien für ihn unverträglich
oder aber wirkungslos gewesen. Der Kläger hat ein hausärztliches Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 22.05.2019
vorgelegt.
Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage eines sozialmedizinischen Gutachtens des MDK (Dr. B.) vom 27.06.2019 entgegengetreten.
Mit Verfügung vom 10.07.2019 hat das SG den Kläger zur Bezifferung seiner Erstattungsforderung für die Vergangenheit, zur Vorlage einer ärztlichen Verordnung für
das Cannabisarzneimittel sowie eine Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht aufgefordert. Die Klägerseite
hat lediglich um Fristverlängerung nachgesucht, jedoch trotz Hinweis auf §
106a Abs.
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) nicht mitgewirkt.
Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 28.11.2019 abgewiesen. Die Voraussetzungen des §
31 Abs.
6 SGB V lägen nicht vor. Die beim Kläger vorliegenden chronischen Rückenschmerzen seien grundsätzlich sowohl einer medikamentösen
wie auch einer krankengymnastischen Behandlung zugänglich. Auch hätten die behandelnden Vertragsärzte keine begründete Einschätzung
dahingehend abgegeben, dass unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkung und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes
bei ihm eine allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung nicht zur Anwendung kommen könne.
Gegen den seinem damaligen Bevollmächtigten am 13.01.2020 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner
am 03.02.2020 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Er habe während des Klageverfahrens keine
Schweigepflichtentbindungserklärung erhalten. Er sei bereit, eine entsprechende Entbindungserklärung zu erteilen. Der Kläger
hat die ärztlichen Bescheinigungen des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. W. vom 29.08.2019, wonach alle Medikationen und balneophysikalischen
Maßnahmen ohne Erfolg im Sinne einer Schmerztherapie ausgeschöpft seien, und vom 27.02.2019, wonach bei dem Kläger für Opiate
und NASR eine Unverträglichkeit bestehe, vorgelegt.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 28.11.2019 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids
vom 24.08.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2019 zu verurteilen, ihn in der Zukunft mit Cannabisarzneimitteln
zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verweist auf den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Der Senat hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen einvernommen. Dr. W. hat mit Schreiben vom 19.06.2020
über einen Behandlungszeitraum vom 19.07.2018 bis 17.10.2019, die Diagnose chronisches Schmerzsyndrom Stadium III nach Gerbershagen
und die Ausstellung eines Privatrezepts für das Medikament Dronabinol berichtet. Der Kläger habe eine Unverträglichkeit von
Opiaten angegeben. Ein multimodaler schmerztherapeutischer Ansatz habe zu keinem Ergebnis geführt. Nach längerer Privatrezeptur
des Dronabinols habe der Kläger deutlich positive Wirkungen auf sein Schmerzsyndrom angegeben. Berichte betreffend eines vorhergehenden
missbräuchlichen Cannabinoidverbrauchs lägen ihm nicht vor. Es sei bemerkenswert, dass die von ihm rezeptierte Dosis nicht
missbräuchlich gebraucht worden sei. In dem beigefügten Befundbericht vom 14.06.2018 wird ua ausgeführt, dass eine neuropathische
Schmerzkomponente unwahrscheinlich sei, der Verdacht auf leichte/unterschwellige depressive Störung bestehe und eine Schmerzchronifizierung
nach Gerbershagen Stadium I (chronifizierter Rückenschmerz) bestehe.
Dr. B. hat mit Schreiben vom 05.07.2020 die Behandlungsdaten 08.07.2010, 04.09.2017 und 09.10.2018, die Verordnung von Ibuprofen
600 Tabletten sowie 6 * Krankengymnastik am 08.07.2010, einer stabilisierenden LWS-Bandage sowie von 6 * Krankengymnastik
am 04.09.2017 und die erneute Verordnung einer stabilisierenden LWS-Bandage am 09.10.2018 berichtet. Zum aktuellen Gesundheitszustand
könne er keine Angaben machen. Hinsichtlich der Verordnung von Cannabinoiden habe er keine Erfahrung.
Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. E. hat unter dem 14.07.2020 mitgeteilt, dass er den Kläger seit 2011 behandle. Hinsichtlich
der Hepatitis C könne bei Behandlungsabschluss im Januar 2012 von einem virologischen Dauererfolg ausgegangen werden. Im Jahr
2012 sei der Kläger vom Psychiater Dr. D. wegen einer schweren Depression behandelt worden. Dieser habe einen missbräuchlichen
Gebrauch von Diazepam festgestellt. Im Januar 2017 habe er den Kläger wegen starker Schmerzen im Bereich des unteren Rückens
behandelt. Er habe die Diagnose Hexenschuss gestellt. Arbeitsunfähigkeit habe vom 26.01.2017 bis zum 03.02.2017 bestanden.
Als Schmerzmittel habe er Novaminsulfon, Ibuprofen und Tilidin verordnet. Am 30.01.2017 habe der Kläger berichtet, er habe
die Behandlung mit Tilidin sehr schlecht vertragen und deshalb abbrechen müssen. Im Januar 2018 habe er den Kläger wegen Depressionen
mit Somatisierungstendenzen antidepressiv mit Mirtazapin behandelt. Im März 2018 habe der Kläger unter Migränebeschwerden
gelitten. Es sei eine Überweisung zum neurologischen Facharzt erfolgt. Am 04.06.2018 habe der Kläger über einen Erschöpfungszustand,
starke Rückenschmerzen, depressive Symptome geklagt. Es sei eine Arbeitsunfähigkeitsmeldung vom 22.05.2018 bis 03.03.2019
notwendig gewesen. Die Schmerzmittel Novaminsulfon und Ibuprofen hätten nicht ausreichend gewirkt. Im Juni 2018 habe er den
Kläger zur Schmerztherapie überwiesen. Die Frage, ob hier das Schmerzsyndrom im Rückenbereich oder die Depressionen sich ursächlich
bedingten oder ob es sich hierbei um zwei sich gegenseitig verschlechternde unterschiedliche Erkrankungen handle, müsse neurologisch
und orthopädisch fachärztlich entschieden werden. Die verordneten Schmerzmittel und die im Januar 2012 verordnete Physiotherapie
hätten nur unzureichenden Erfolg gehabt. Über eine konsequente antidepressive Behandlung durch einen Psychiater habe er keine
Kenntnis. Eine solche Behandlung wäre möglich. Weiterhin wäre eine intensive physiotherapeutische Behandlung möglich. Über
deren Form und Intensität müsse der Schmerztherapeut oder der orthopädische Facharzt entscheiden. Er habe keine persönliche
Erfahrung in der Schmerztherapie mit Cannabinoiden. Der Kläger habe immer wieder erklärt, dass er Versuche mit Cannabis gemacht
habe und diese seine Schmerzen deutlich und gut gebessert hätten. Der Schmerztherapeut habe auch Cannabinoide verordnet. Diese
seien aber seines Wissens aufgrund fehlender Kostenübernahme durch die Krankenkasse nicht zum Einsatz gekommen. Allgemein
gelte, dass missbräuchliche Anwendung von Substanzen und Suchtgefahr in der Vergangenheit, egal welcher Substanzgruppe (Benzodiazepine,
Alkohol, opioidartige Stoffe) eine Kontraindikation für die therapeutische Verordnung darstellten.
Der Senat hat den Kläger darauf hingewiesen, dass für die Zulässigkeit eines Kostenerstattungsantrags nach ständiger Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG) die Bezifferung des Antrages erforderlich sei (Hinweis auf BSG 28.01.1999, B 3 KR 4/89 R), und den Kläger aufgefordert, seine Kosten zu beziffern und mit entsprechenden Rechnungen zu belegen.
Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 8. Juli 2020 Privatrezepte des Dr. W. vom 18.04.2019 (Orange No.
1 1 * 20 g zerkleinert zu 200 Einzeldosen zu je 100 mg, Inhalation mittels eines Dampfverneblers), 16.05.2019 (Bedrocan 23,5%
THC/01% CBD 1 * 5 g für 30 Tage), 39.08.2018 (Bedrocan 23,5% THC 0,1% CBD 1 x 5 g für 30 Tage), 19.07.2018 (ölige Dronabinoltropfen
25 mg/ml 20 ml Dosis 3 * 3 bis 5 Tropfen pro Tag), 15.11.2018 (Orange No. 1 1 x 20 g zerkleinert zu 200 Einzeldosen je 100
mg, Inhalation mittels eines Dampfverneblers), 13.03.2019 (Orange No. 1 1 x 20 g zerkleinert zu 200 Einzeldosen zu je 100
mg Inhalation mittels eines Dampfverneblers), 25.09.2019 (Bedrocan 23,5 THC/01% CBD 1,5 g für 30 Tage), und 17.10.2019 (Bedrocan
23,5% THC/01% CBD 1 x 5 g für 30 Tage) vorgelegt.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster
und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß §
151 Abs
1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§§
143,
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG).
Den Gegenstand des Berufungsverfahrens bildet der Bescheid vom 24.08.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2019,
mit dem die Beklagte die Versorgung des Klägers mit Cannabisarzneimitteln und die Erteilung einer entsprechenden Genehmigung
im Sinne des §
31 Abs
6 Satz 2
SGB V abgelehnt hat. Dagegen wendet sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§
54 Abs
1 und 4, 56
SGG) und begehrt für die Zukunft die Versorgung mit Cannabisarzneimitteln. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich während
des Verfahrens Cannabisarzneimittel selbst beschafft und ihm hierfür Aufwendungen entstanden sind, deren Erstattung er verlangen
könnte (vgl §
99 Abs
3 Nr
3 SGG; ferner zB BSG 26.02.2019, B 1 KR 24/18 R, BSGE 127, 240, juris Rn 8), bestehen nicht. Der Kläger hat während des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens zu keiner Zeit Aufwendungen
für die Beschaffung von Cannabisarzneimitteln beziffert oder gar belegt (vgl die entsprechende Mitwirkungsaufforderung des
SG vom 10.07.2019). Auch im Berufungsverfahren hat er - trotz Aufforderung des Senats in der Verfügung vom 08.05.2020 - keinerlei
Aufwendungen für Cannabisarzneimitteln geltend gemacht oder konkretisiert. Vielmehr hat er lediglich Privatrezepte vorgelegt,
die offensichtlich nicht eingelöst worden sind. Entsprechendes hat der Hausarzt Dr. E., bei dem sich der Kläger zuletzt im
November 2019 vorgestellt hatte, berichtet.
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Der Bescheid vom 24.08.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2019
stellt sich als rechtmäßig dar und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch
auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln.
Als Anspruchsgrundlage kommt allein §
31 Abs
6 SGB V (eingefügt durch Gesetz vom 06.03.2017 mWv 10.03.2017, BGBl I, Seite 403) in Betracht. Gemäß §
31 Abs
6 Satz 1
SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten
oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon,
wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter
Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht
zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende
Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen
abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (§
31 Abs
6 Satz 2
SGB V).
Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers nicht gegeben.
Der Senat lässt offen, ob bei dem Kläger eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt. Der Begriff der "schwerwiegenden Erkrankung"
wird in §
31 Abs
6 SGB V nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln nur in "eng begrenzten
Ausnahmefällen" gegeben sein (BT-Drs 18/8965 S 14 und 23). Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung
stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung konzipiert
ist, hat es der Senat für sachgerecht erachtet, den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung so wie in §
35c Abs
2 Satz 1
SGB V zu verstehen (LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, juris Rn 28; LSG Baden-Württemberg 01.10.2018, L 11 KR 3114/18 ER-B, juris Rn 20; so auch Axer in Becker/Kingreen, 7. Aufl 2020, §
31 Rn 65; Nolte in Kasseler Kommentar, Stand 09/2020, §
31 SGB V Rn 75d; Pitz in jurisPK-
SGB V, 4. Aufl 2020, §
31 Rn 125; W. in Krauskopf, Stand 07/2020, § 31 Rn 48; vgl. ferner LSG Baden-Württemberg, 16.10.2020, L 4 KR 813/19, juris Rn 40). Daher muss es sich um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt
der Erkrankungen abhebt (BSG 26.09.2006, B 1 KR/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 5).
Der Senat ist davon überzeugt, dass bei dem Kläger degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Rückenschmerzen (rezidivierende
Lumbalgie, Spondylolisthesis L5/S1, Verdacht auf Spondylose L5, Chondrose L5/S1, Spondylarthrose untere Lendenwirbelsäule),
ein chronisches Schmerzsyndrom und eine depressive Störung mit episodenhaftem Verlauf und unterschiedlichem Schweregrad vorliegt;
diese Erkrankungen hatten wiederholt Arbeitsunfähigkeit zur Folge. Dies entnimmt der Senat den Berichten des Orthopäden Dr.
B. vom 06.09.2017, 18.10.2018 und 05.07.2020, den Schreiben des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 21.09.2018, 22.05.2019
und 14.07.2020, dem Schreiben des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. W. vom 19.06.2020 sowie den Gutachten des MDK vom 19.11.2018
und 27.06.2019. Ob die Erkrankungen von ihrer Schwere sich vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben und den Kläger in seiner
Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen (vgl. LSG Baden-Württemberg 01.10.2018, L 11 KR 3114/18 ER-B, juris Rn 20 betreffend eine Zwangsstörung), lässt der Senat offen. Dabei stellen sich die Angaben der behandelnden
Ärzte zu Ausprägung und Schweregrad der Erkrankungen als teilweise widersprüchlich dar. Dr. W. hat in dem Arztfragebogen vom
23.07.2018 als Erkrankungen zunächst einen chronischen neuropathischen Schmerz sowie chronische Hepatitis benannt. Der MDK
hat mit Gutachten vom 21.08.2018 bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass die Diagnose eines neuropathischen Schmerzes
sich weder aus den Befunden ableiten lässt noch durch eine neurologische Diagnostik gesichert wurde. Im weiteren Verlauf hat
Dr. W. die Diagnose neuropathischer Schmerz auch nicht mehr aufrechterhalten, sondern als Diagnose ein chronisches Schmerzsyndrom
benannt. Ausweislich des von ihm vorgelegten Befundberichts vom "15.06.2020" hat er selbst einen neuropathischen Schmerz für
unwahrscheinlich angesehen, den Verdacht auf eine leichte depressive Störung geäußert und die Schmerzchronifizierung nach
Gerbershagen dem Stadium I zugeordnet. Dazu im Widerspruch hat er in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 19.06.2020
das Schmerzsyndrom dem Stadium III nach Gerbershagen zugeordnet, ohne diese Diskrepanz zu erläutern und die maßgeblichen Untersuchungsbefunde
mitzuteilen. Den Befundberichten des Orthopäden Dr. B. entnimmt der Senat, dass der Kläger an einer chronischen degenerativen
Wirbelsäulenerkrankung mit immer wieder auftretenden Schmerzen insbesondere im Lumbalbereich leidet. Hinsichtlich der von
Dr. W. in den Raum gestellten Diagnose Hepatitis hat der behandelnde Hausarzt Dr. E. in seiner sachverständigen Zeugenaussage
vom 14.07.2020 klargestellt, dass bei dem Kläger 2011 eine Hepatitis C festgestellt wurde, die im Universitätsklinikum F.
mit Behandlungsabschluss im Januar 2012 erfolgreich behandelt wurde (vgl auch den Bericht des dortigen Leberzentrums vom 02.05.2011).
Weiter hat Dr. E. über wiederholt auftretende Rückenschmerzen sowie Depressionen berichtet. Wegen des Auftretens einer depressiven
Symptomatik wurde der Kläger 2012 durch den Psychiater Dr. D. behandelt. Im Januar und Juni 2018 stellte Dr. E. erneut eine
depressive Erkrankung fest, wobei eine psychiatrische Diagnostik und Behandlung nicht erfolgt ist.
Die Voraussetzungen des §
31 Abs
6 Satz Nr
1 SGB V liegen nicht vor, weil zur Behandlung der rezidivierenden depressiven Störung, der Rückenschmerzen und des chronischen Schmerzsyndroms
eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht und auch im vorliegenden
Einzelfall zur Anwendung kommen kann.
Die Voraussetzung des Fehlens einer Standardtherapie knüpft an die Vorschrift des §
2 Abs
1a SGB V an (BT-Drs 18/8965, Seite 24). Insoweit ist für die Beurteilung des Vorhandenseins einer dem medizinischen Standard entsprechenden
Leistung auf die Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin abzustellen. Die Voraussetzung (Fehlen einer Standardtherapie) ist
nur dann erfüllt, wenn eine Standardtherapie tatsächlich nicht zur Verfügung steht oder sie der Versicherte nachgewiesenermaßen
nicht verträgt (LSG Baden-Württemberg 16.10.2020, L 4 KR 813/19, juris Rn 42). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in diesem Zusammenhang bestätigt, dass mit Blick auf die Ähnlichkeit
der Normstruktur der §§
31 Abs
6 und 2 Abs
1a SGB V es nicht willkürlich (Art
3 Abs
1 Grundgesetz <GG>) ist, wenn sich die Fachgerichte bei der Auslegung des §
31 Abs
6 SGB V an die Rechtsprechung zu §
2 Abs
1a SGB V anlehnen (BVerfG 26.06.2018, 1 BvR 733/18, juris Rn 6; ferner Axer in Becker/Kingreen, 7. Aufl 2020, § 31 Rn 66; W. in Krauskopf, Stand 07/2020, § 31 Rn 48).
Der MDK hat seinen Gutachten vom 19.11.2018 und 21.08.2018 - unter Bezugnahme auf die S1-Leitlinie "Chronischer Schmerz" (Stand
30.09.2013, gültig bis 30.09.2018) sowie die "Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz" (Stand 31.12.2016, gültig bis 31.12.2021)
- zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl von Standardtherapien, ua auch die medikamentöse Schmerztherapie, zur
Behandlung von Rückschmerzen und eines chronischen Schmerzsyndroms zur Verfügung stehen. Auch hinsichtlich der depressiven
Erkrankung steht eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung, niedergelegt im Einzelnen in der S3-Leitlinie "Unipolare
Depression" (2. Aufl 2015, gültig bis 15.11.2020), zur Verfügung, was Dr. E. in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom
14.07.2020 ausdrücklich bestätigt hat. Der Kläger und Dr. W., der dem Kläger Cannabisarzneimittel auf Privatrezept verordnet
hat, behaupten selbst nicht, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinische Standard entsprechende Leistung zur Behandlung
der chronischen Schmerzen nicht zur Verfügung steht.
Auch die Voraussetzungen des §
31 Abs
6 Satz 1 Nr
1 Buchst b)
SGB V, wonach Behandlungsalternativen nicht zur Anwendung kommen können, sind nicht gegeben, da es an einer begründeten Einschätzung
eines Vertragsarztes fehlt, die geeignet wäre, die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Unabhängig von einer gewissen
Einschätzungsprärogative bzw Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes (vgl LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, juris Rn 26; LSG Hamburg 02.04.2019, L 1 KR 16/19 B ER, juris Rn 14; LSG Berlin-Brandenburg 27.05.2019, L 9 KR 72/19 B ER, juris Rn 7; s auch BT-Drucks 18/10902 S 20) muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden
Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen darstellen.
Ferner muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum
Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
nicht zur Anwendung kommen kann (LSG Baden-Württemberg 01.10.2018, L 11 KR 3114/18 ER-B, juris Rn 20). Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch
zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl. LSG Baden-Württemberg 14.01.2021, L 11 KR 3898/20 ER-B; LSG Nordrhein-Westfalen 25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER, juris Rn 69 ff; Schleswig-Holsteinisches LSG 26.06. 2019, L 5 KR 71/19 B ER, juris Rn. 17; Bischofs in BeckOK, Stand 01.12.2020, §
31 Rn 92; Pitz in jurisPK-
SGB V, 4. Aufl 2020, §
31 Rn 126).
Unabhängig von der Frage, ob die auf den Einzelfall bezogene begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes bereits
im Verwaltungsverfahren vorliegen muss und nicht im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden kann (so zB LSG Nordrhein-Westfalen
25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER juris Rn 74; Schleswig-Holsteinisches LSG 26.06.2019, L 5 KR 71/19 B ER, juris Rn 17), sind die Angaben des Vertragsarztes Dr. W. widersprüchlich und nicht nachvollziehbar.
Zunächst widersprechen die Angaben des Dr. W. in dem Arztfragebogen vom 19.07.2018 seinen späteren Äußerungen. In dem Arztfragebogen
vom 19.07.2018 hat er als Erkrankungen einen neuropathischen Rückenschmerz sowie eine chronische Hepatitis unter Chemotherapie
benannt, obwohl ausweislich der von ihm vorgelegten Befundunterlagen er nach der durchgeführten Anamnese und Untersuchung
selbst einen neuropathischen Schmerz für unwahrscheinlich gehalten hat. Auch hat Dr. W. nicht beachtet, dass die Behandlung
der Hepatitis C bereits im Januar 2012 erfolgreich abgeschlossen war und daher bei der Prüfung der alternativen Cannabisarzneimitteltherapie
von vornherein außer Betracht zu bleiben hatte. Weiterhin fällt auf, dass der Kläger Dr. W. erstmalig am 19.07.2018 wegen
Einleitung einer Schmerztherapie aufgesucht und dieser sogleich die Durchführung einer Cannabisarzneimitteltherapie befürwortet
hat. Dr. W. hat nicht nachvollziehbar und plausibel erklärt, warum er nicht zunächst nach Maßgabe der S1-Leitlinie "Chronischer
Schmerz" (Stand 30.09.2013, gültig bis 30.09.2018) sowie der "Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz" (Stand 31.12.2016,
gültig bis 31.12.2021) die allgemein anerkannten medikamentösen Schmerztherapien eingeleitet und deren Erfolg geprüft hat.
Vielmehr hat er offensichtlich die anamnestischen Angaben des Klägers zum bisherigen Behandlungsverlaufs unkritisch übernommen
und ua übersehen, dass dieser sich in der Vergangenheit in fachpsychiatrischer Behandlung befunden und der behandelnde Hausarzt
Dr. E. 2018 von einer depressiven Erkrankung ausgegangen ist. Weiterhin hat er nicht hinreichend geprüft, ob bei dem Kläger
eine Kontraindikation für die Verordnung von Cannabisarzneimitteln besteht. Auch dafür lagen und liegen Hinweise vor. Der
im Juli 2012 aufgesuchte Psychiater Dr. D. hatte die Diagnosen einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung sowie psychische
und Verhaltungsstörung durch Cannabinoide: schädlicher Gebrauch und psychische und Verhaltungsstörung durch Sedative und Hypnotika:
schädlicher Gebrauch gestellt. Somit kommt eine Kontraindikation für die therapeutische Verordnung von Cannabisarzneimitteln
in Betracht, weil - worauf Dr. E. und der MDK zutreffend hingewiesen haben - die missbräuchliche Anwendung von Substanzen
in der Vergangenheit und zwar egal welcher Substanzgruppe (Benzodiazepine, Alkohol, opioidartige Stoffe) eine Suchtgefahr
begründet. Dr. W. hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 19.6.2020 eingeräumt, dass er keine Kenntnis über einen
vorangegangenen schädlichen Gebrauch von Cannabinoiden durch den Kläger hatte. Mithin war er von vornherein nicht in der Lage,
eine begründete und nachvollziehbare therapeutische Entscheidung zu treffen, weshalb ihm ggf dennoch eine Behandlung mit Cannabispräparaten
sinnvoll erscheint. Eine solche, auch auf die im konkreten Einzelfall in Betracht kommende Kontraindikation eingehende Auseinandersetzung
ist aber notwendiger Bestandteil einer begründeten Einschätzung des Vertragsarztes iSd §
31 Abs
6 Satz 1 Nr 1Buchst b)
SGB V (LSG Baden-Württemberg 17.02.2021, L 11 KR 3869/20 ER-B).
Weiterhin hat sich Dr. W. nur unzureichend mit dem bisherigen Behandlungsverlauf und dem Einsatz der zur Verfügung stehenden
Standardtherapie auseinandergesetzt. Der MDK hat in seinem Gutachten vom 19.11.2018 überzeugend darauf hingewiesen, dass eine
suffiziente Behandlung der Wirbelsäulenerkrankung mit einer Standardtherapie nicht erfolgt ist. Der behandelnde Orthopäde
Dr. B. hat im September 2017 als Therapie zur externen Entlastung und Stabilisierung eine LWS-Orthese und Krankengymnastik
verordnet. Die fachorthopädische Verordnung zur Krankengymnastik hat der Kläger nicht eingelöst, da entsprechende Leistungen
ausweislich des Leistungsauszugs der Beklagten nicht abgerechnet wurden. Vielmehr nahm der Kläger zuletzt im Jahr 2010 Heilmittel
in Form einer Krankengymnastik in Anspruch. Mithin hat er die vom orthopädischen Facharzt als indiziert und notwendig erachtete
Heilmitteltherapie, die auch Dr. E. für möglich erachtet hat, nicht durchgeführt. Auch hat der Kläger die ihm im Falle einer
akuten Symptomatik durch Dr. B. angebotenen paravertebralen infiltrativen Maßnahmen nicht in Anspruch genommen. Im Oktober
2018 hat Dr. B. dem Kläger eine konsequente "eigengymnastische Beübung" empfohlen, wobei der Senat erhebliche Zweifel hegt,
ob der Kläger mangels aktueller krankengymnastischer Anleitung dazu überhaupt in der Lage war und ist. Eine weitere fachorthopädische
Behandlung hat nach den Angaben des Dr. B. letztmalig im Oktober 2018 stattgefunden, obwohl der Hausarzt Dr. E. auch im weiteren
Behandlungsverlauf über Rückenschmerzen berichtet hat. Hinsichtlich der depressiven Erkrankung steht eine dem medizinischen
Standard entsprechende Leistung, im Einzelnen niedergelegt in der S3-Leitlinie "Unipolare Depression" (2. Aufl 2015, gültig
bis 15.11.2020), zur Verfügung. Ausweislich der sachverständigen Zeugenaussage des Dr. E. ist bei dem Kläger wiederholt eine
depressive Erkrankung aufgetreten (2012 sowie Januar und ab Juni 2018). Insofern erfolgte lediglich im Jahr 2012 eine fachpsychiatrische
Behandlung. Eine erneute fachpsychiatrische Behandlung sowie eine konsequente antidepressive Therapie hat nicht stattgefunden,
obwohl - worauf Dr. E. hingewiesen hat - eine solche möglich gewesen wäre. Damit hat in der Zeit nach Antragstellung im Juli
2018 betreffend die depressive Erkrankung keine allgemein anerkannte Standardtherapie mittels fachärztlicher, psychotherapeutischer
und/oder pharmakotherapeutischer Behandlung (acht verschiedene Wirkstoffgruppen) stattgefunden mit der Folge, dass Ausprägung
und Schweregrad der psychiatrischen Erkrankungen sowie die bestehenden Therapieoptionen nicht fachärztlich abgeklärt wurden.
Unter diesen Umständen ist es auch nicht überraschend, dass Dr. W. sich nicht schlüssig und nachvollziehbar mit den etablierten
Therapien zur Behandlung einer depressiven Störung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen auseinandersetzen vermag.
Da bereits die Tatbestandsvoraussetzungen des §
31 Abs
6 Satz 1 Nr
1 SGB V nicht erfüllt sind, kann der Senat offen lassen, ob der Anspruch des Klägers auch an der fehlenden vertragsärztlichen Verordnung
scheitert (vgl LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, juris Rn. 24 ff; so zB auch Bayerisches LSG 25.6.2018, L 4 KR 119/18 B ER; Bischofs in BeckOK, Stand 01.12.2020, § 31 Rn 96a; W. in Krauskopf, Stand 07/2020, § 31 Rn 48; aA zB LSG Nordrhein-Westfalen
25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER juris Rn 58; LSG Rheinland-Pfalz 06.03.2018, L 5 KR 16/18 B ER).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs
2 Nrn 1 und 2
SGG) liegen nicht vor.