Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beim Ausschluss von Grundsicherung für Arbeitsuchende für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche; Bestehen eines Anordnungsanspruchs
im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren; Anwendbarkeit der Rechtsprechung des BSG
Gründe
Die unter Beachtung der Vorschrift des §
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und in der Sache auch zum Teil begründet. Im Rahmen der vom Senat
vorzunehmenden Folgenabwägung sind dem Antragsteller Leistungen der Sozialhilfe in Höhe von 80% des Regelsatzes nach Regelbedarfsstufe
I nach dem SGB XII und seine tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens gegen
den Ablehnungsbescheid vom 8. April 2016 - längstens bis 31. Juli 2016 - vorläufig zu gewähren.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens bildet das Begehren des Antragstellers auf vorläufige Gewährung von Leistungen der Hilfe
zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in Höhe des für ihn maßgeblichen Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe I (derzeit monatlich 404,00 €) für die Zeit ab Antragstellung
am 20. April 2016 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, nachdem die Antragsgegnerin den entsprechenden Leistungsantrag
mit Bescheid vom 8. April 2016, der Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens und damit nicht für die Beteiligten bindend
(§
77 SGG) geworden ist, abgelehnt hat. Geltend gemacht sind auch die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich
330,00 € (vgl. dazu § 35 SGB XII).
Nach §
86b Abs.
2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung
eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung
eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.).
Vorliegend kommt, wie das SG zutreffend erkannt hat, nur eine Regelungsanordnung nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten
in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs
(Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu
machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung <ZPO>); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen
Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) NVwZ 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803). Wird im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt, ist die Sach-
und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, weil etwa eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren
nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden unter Berücksichtigung insbesondere der grundrechtlichen
Belange der Antragsteller. Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im
Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage 2014, §
86b Rn. 42).
Der Senat vermag im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu entscheiden, ob und gegebenenfalls
in welcher Höhe dem Antragsteller ein Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nach Maßgabe des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zusteht.
Es spricht viel dafür, dass der Antragsteller nicht nach § 21 Satz 1 SGB XII von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen ist (vgl. dazu Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -; Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R -). Zwar dürfte der Antragsteller zum Kreis der Leistungsberechtigten im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gehören. Er ist 1952 geboren (vgl. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 7a SGB II), erwerbsfähig (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II) und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II), nämlich in F., wo er auch eine Wohnung angemietet hat. Schließlich hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass er über
kein eigenes zu berücksichtigendes Einkommen (§§ 11 ff. SGB II) und zu berücksichtigendes Vermögen (§ 12 SGB II) verfügt, er mithin hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II ist. Er bezog vom 2. September 2013 bis 30. Dezember 2015 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II. Diese Leistungen wurden ihm aber zuletzt mit Bescheid vom 24. März 2016 vom Jobcenter F. mit Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II abgelehnt. Allerdings spricht nach derzeitigem Sachstand viel dafür, dass ein Anspruch des Antragstellers auf Leistungen
nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist. Danach sind vom grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis diejenigen Ausländer ausgeschlossen,
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 20156 a.a.O.). Denn der Antragsteller dürfte nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung
im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, nachdem er seinen Angaben zufolge
lediglich vom 15. Juli bis 30. September 2013 eine geringfügige, nicht versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat.
Er verfügt ferner nicht über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel (vgl. § 4 Freizügigkeitsgesetz/EU)
und auch über kein Daueraufenthaltsrecht (vgl.§ 4a Freizügigkeitsgesetz/EU).
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II stellt sich auch als europarechts- und verfassungskonform dar (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015, a.a.O.).
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 3. Dezember 2015 und 20. Januar 2016, a.a.O.) kann der Antragsteller jedoch einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin
auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII haben. Nach dieser Rechtsprechung, die eine Kontroverse ausgelöst hat (vgl. dazu Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss
vom 12. Mai 2016 - L 7 SO 1150/16 ER-B) ist ein Anspruch auf Sozialhilfe zwar nach § 21 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen; jedoch können in einem solchen Fall nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII Leistungen der Sozialhilfe gewährt werden, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Dabei ist das Ermessen des Sozialhilfeträgers
nach der Rechtsprechung des BSG aus verfassungsrechtlichen Gründen dem Grunde und der Höhe nach hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt auf Null reduziert,
wenn sich das Aufenthaltsrecht des ausgeschlossenen Ausländers verfestigt hat, regelmäßig ab einem sechsmonatigen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist weiterhin der Auffassung, dass der Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt
im Sozialhilferecht weder nach dem Grund der Einreise noch nach Berechtigung oder Dauer des Aufenthalts fragt und es bei der
Leistungsgewährung nach dem SGB XII in erster Linie auf die Tatsache einer gegenwärtigen Hilfebedürftigkeit ankommt. Der Umstand, dass es in Fällen wie dem vorliegenden
an einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung oder einem anderen materiellen Aufenthaltsrecht fehlt, rechtfertigt es nach
der Rechtsprechung des BSG im Hinblick auf den durch ein Vollzugsdefizit des Ausländerrechts nach Ablauf von regelmäßig sechs Monaten faktisch verfestigten
tatsächlichen Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland und unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht,
die Entscheidung über die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde und der Höhe nach in das Ermessen des Sozialhilfeträgers
zu stellen. Nur unter besonderen tatsächlichen Umständen ist es nach dieser Rechtsprechung zulässig, ausnahmsweise von einer
Ermessensreduzierung trotz des Zeitablaufs abzusehen. Derartige Umstände können insbesondere vorliegen, wenn die tatsächlichen
Lebensumstände des Unionsbürgers darauf schließen lassen, dass er nicht auf Dauer im Inland verweilen wird. Gleiches gilt,
wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet hat.
Die Einwendungen der Antragsgegnerin gegen die angeführte Rechtsprechung des BSG sind jedenfalls im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht geeignet, einen Anordnungsanspruch des Antragstellers zu verneinen
und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen (so auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Mai 2016,
a.a.O.). Der Antragsteller hält sich seit Juli 2013 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Dass von Seiten der Ausländerbehörde
konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet worden sind, hat die Antragsgegnerin nicht vorgetragen.
Bei der anzustellenden Folgenabwägung sind grundrechtliche Belange des Antragstellers mit in die Abwägung einzubeziehen. Zu
beachten ist, dass die begehrten Leistungen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, was bereits nach dem
Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland Pflicht des Staates ist (Art.
1 Abs.
1, Art.
20 Abs.
1 GG; BVerfG, NVwZ 2005, 927). Auf Seiten des Sozialhilfeträgers ist das Interesse zu beachten, dass nun gewährte Leistungen angesichts der wirtschaftlichen
Verhältnisse des Antragstellers voraussichtlich nicht erstattet werden können, wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellen
sollte, dass ein Anspruch tatsächlich nicht bestanden hat. Dem Antragsteller seinerseits würden für einen nicht absehbaren
Zeitraum die Leistungen vorenthalten, die er zur Aufrechterhaltung seines Existenzminimums und damit für ein der Menschenwürde
entsprechendes Leben benötigt. Er kann dabei nicht auf mildtätige Sachleistungen caritativer Organisationen verwiesen werden.
Die damit verbundenen Einschränkungen während des Zeitraumes ohne existenzsichernde Leistungen sind auch im Falle einer Nachzahlung
bei Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen. In Abwägung dieser Interessen erscheint es dem Senat angemessen, dass
dem Antragsteller Sozialhilfeleistung in Höhe von 80% des für ihn maßgeblichen Regelsatzes (80% x 404,00 € = 323,20 €) und
die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 330,00 € gewährt werden; für eine Unangemessenheit
der Kosten der Unterkunft und Heizung (vgl. § 35 Abs. 2 SGB XII) gibt es keine Anhaltspunkte. Weiterhin begrenzt der Senat die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistungserbringung
auf den Zeitraum der Antragstellung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens - wie vom Antragsteller auch beantragt -
längstens bis zum 31. Juli 2016.
Dem Antragsteller war auch für das Antragsverfahren beim SG gemäß §
73a Abs.
1 SGG i.V.m. §§
114,
115,
121 Abs.
2 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung zu bewilligen und Rechtsanwalt F. beizuordnen, da er nach seinen persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, die Rechtsverfolgung Aussicht auf
Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §
193 SGG bzw. §
73a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
127 Abs.
4 ZPO und berücksichtigt das Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen.
Dem Antragsteller ist für das Beschwerdeverfahren gemäß §
73a Abs.
1 SGG i.V.m. §§
114,
115,
121 Abs.
2 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung zu bewilligen und Rechtsanwalt F. beizuordnen, da er nach seinen persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, die Rechtsverfolgung Aussicht auf
Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§
177 SGG).