Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für das Fertigarzneimittel Dronabinol
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit dem auf Cannabisbasis
wirkenden Rezepturarzneimittel Dronabinol und die Erstattung ihr insoweit bereits entstandener Kosten in Höhe von insgesamt
EUR 1.431,04.
Die am 1954 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Sie leidet an einem Post-Poliosyndrom, chronischem Schmerzsyndrom,
Dyskinesen, Muskelzuckungen und Muskelkrämpfen. Zwischen dem 31. August 2005 und 27. September 2005 wurde die Klägerin in
der S.-klinik Neurologie in B. K. stationär behandelt. Schwerpunkt der stationären Behandlung war nach dem Arztbrief der Chefärztin
Dr. K. vom 29. Juni 2006 die Schmerzbehandlung und Steigerung der allgemeinen Belastbarkeit. Die Klägerin habe etwas stabilisiert
entlassen werden können, allerdings sei der Zustand noch nicht als zufriedenstellend, vor allem dauerhaft stabil einzuschätzen
gewesen. Zwischen dem 27. Dezember 2006 und 16. Januar 2007 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung der T.-Klinik
Kö.. Ausweislich des Entlassungsberichts des Chefarztes Dr. H. vom 18. Januar 2007 wurde sie nach den Methoden der Traditionellen
Chinesischen Medizin unter Verwendung der hochdosierten chinesischen Arzneimitteltherapie in Form eines individuellen Dekoktes
sowie dreimal wöchentlicher Akupunktur und zweimal wöchentlicher Qigong-Einzelanwendung behandelt. Außerdem erhielt die Klägerin
eine individuelle Bachblütenmischung und Schröpfanwendungen. Unter dieser Therapie habe die Klägerin über keinerlei Beschwerdeänderung
berichtet. In der Zeit vom 20. Mai 2008 bis 10. Juni 2008 fand eine stationäre schmerztherapeutische Behandlung der Klägerin
in Bad Mergentheim statt. Hierbei wurde nach dem Arztbrief des Dr. Ha. vom 11. Juli 2008 eine intensive therapeutische Lokalanästhesie,
Myotonolyse, Analgetikaaustestung, Infusionstherapie, Akupunktur, Thermotherapie, Einzel-Krankengymnastik, Bindegewebs- und
Colonmassage, Rotlicht- und Magnetfeldtherapie, Ernährungsberatung und Psychotherapie im Einzelsetting durchgeführt. Empfohlen
wurden weitere physiotherapeutische Maßnahmen. Die Klägerin konnte in leicht erholtem und stabilem Allgemeinzustand entlassen
werden. Am 28. und 29. Oktober 2008 befand sich die Klägerin in der tagesklinischen Behandlung in der Deutschen Klinik für
Diagnostik. Nach dem Arztbrief von Dr. Sc. vom 10. November 2008 über diese Behandlung bot zum damaligen Zeitpunkt allein
ein psychosomatischer Behandlungsansatz noch eine Chance für eine Besserung des Beschwerdebildes. Empfohlen wurde eine entsprechende
Diagnostik und Behandlung in einer auf die Behandlung chronischer Schmerzerkrankungen spezialisierten psychosomatischen Klinik.
Am 03. Dezember 2008 konsultierte die Klägerin den Facharzt für Anästhesie, spezielle Schmerztherapie Dr. Mi., Schmerzzentrum
G., der der Klägerin nach seinem Arztbrief vom 04. Dezember 2008 vorschlug, Cannabis durch ein Analgetikum zu ersetzen und
ausführte, dass ein großer Anteil der Therapie sicher auch auf psychotherapeutischem Weg erfolgen müsse.
Ab 2006 befand sich die Klägerin außerdem in Behandlung bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ni., der ihr erstmals
am 07. August 2007 Dronabinol verordnete. Die Kosten für das Medikament wurden nach den Angaben der Klägerin von August 2007
bis September 2008 zunächst von der Beklagten übernommen. Nach dem Arztbrief des Dr. Ni. vom 05. Dezember 2007 berichtete
die Klägerin bei der Vorstellung am 08. November 2007, dass es ihr unter der Cannabismedikation mit Dronabinol sowie abendlicher
Einnahme von Lyrika 50 mg insgesamt etwas besser gehe.
Am 08. Mai 2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Dronabinol. Zur Begründung
führte sie aus, die chronischen Schmerzzustände führten bei ihr u.a. zu starken Schlafstörungen, einem Restless-Legs-Syndrom,
Herzkreislaufproblemen, häufigen Verdauungsstörungen und schwer erträglichen Erschöpfungszuständen. In der Vergangenheit durchgeführte
Pharmakotherapien hätten durch unerwünschte Effekte eine zusätzliche Belastung bedeutet und in keinem Fall eine Erleichterung
oder Schmerzlinderung gebracht. Als "Alternative" sei ihr von Dr. Ni. Dronabinol verordnet worden, welches ihr als einziges
Medikament seit langer Zeit eine Erleichterung ihrer Beschwerdesymptomatik bringe. Eine Behandlungsalternative gebe es für
sie im Augenblick nicht.
Die Beklagte wandte sich daraufhin zunächst an Dr. Ni., der unter dem 26. Juni 2008 berichtete, dass bei der Klägerin auf
Dauer das Arzneimittel Dronabinol wegen eines Post-Poliosyndroms und eines chronischen schwersten Schmerzsyndroms eingesetzt
werden soll. Die Erkrankung beeinträchtige die Lebensqualität der Klägerin auf Dauer nachhaltig und sei im Hinblick auf die
Suizidalität lebensbedrohlich. Therapieziel sei die Besserung des Schmerzsyndroms und die Wiedererlangung einer geringfügigen
Lebensqualität. Alle anderen Medikationen und konservativen Therapieversuche insbesondere Akupunktur und mehrfach stationäre
Aufenthalte in Schmerzkliniken seien durchgeführt worden. In den Fachkreisen gebe es zu dem von ihm benannten Off-Label-Einsatz
einen Konsens. Im Anschluss daran holte die Beklagte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg (MDK) vom
09. Juli 2008 (Dr. Bö.) ein. Dr. Bö. legte dar, bei Dronabinol handele es sich um ein Tetrahydro-Cannabinol. Das Fertigarzneimittel
Marinol mit dem Inhaltsstoff Dronabinol sei in den USA zur Behandlung von Anorexie, Gewichtsverlust bei Patienten mit AIDS
sowie Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie von Karzinompatienten, die nicht auf konventionelle antiemetische Behandlung
angesprochen hätten, zugelassen. Das Fertigarzneimittel sei nach § 37 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) als Einzelimport in Deutschland verkehrsfähig. Die Diagnose sei im vorliegenden Fall gesichert. Bei der Klägerin liege eine
schwere, die Lebensqualität erheblich einschränkende Erkrankung vor. Es handele sich jedoch nicht um eine akut lebensbedrohliche
oder dem gleichzustellende Erkrankung im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 in [...] = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5). Aufgrund der vorliegenden Informationen sei der bisherige Behandlungsverlauf auch nicht
umfassend nachzuvollziehen. Bei einem offensichtlich bestehenden Mischbild von Schmerzsyndrom und Spastik sei eine ambulante
bzw. stationäre schmerzmedizinische und neurologische kontinuierliche Behandlung als Standardtherapie anzusehen. Eine solche
sei bei der Klägerin anzunehmen, könne aufgrund der fehlenden kompletten Verlaufsdokumentation jedoch nicht sicher bestätigt
werden. Bezüglich des Behandlungserfolgs sei die Studienlage zur Behandlung von Muskelspastizität bei Multiple Sklerose-Patienten
mit Cannabis-Derivaten ausgesprochen widersprüchlich. Aufgrund der positiven Studien sei für den Einzelfall jedoch anzunehmen,
dass - zumindest bei ausreichend hoher Dosierung - eine spürbar positive Verbesserung der Muskelspastizität unter Dronabinol
im Einzelfall möglich sei. Mit Bescheid vom 06. August 2008 lehnte die Beklagte hierauf die Kostenübernahme für das Medikament
Dronabinol ab. Dronabinol sei der Wirkstoff der Cannabispflanze. Er gehöre zu den Betäubungsmitteln nach dem Betäubungsmittelgesetz (BTMG) und habe keine Zulassung als Arzneimittel in Deutschland. Zur Behandlung von Schmerzen sei Dronabinol weltweit nicht
als Medikament zugelassen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 27. März 2007 (B 1 KR 30/06 R in [...]) die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen bei cannabishaltigen Präparaten gegen Schmerzen verneint.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie führte aus, wie der MDK in seiner Beurteilung vom 09. Juli 2008 festgestellt
habe, bestehe eine begründete Aussicht, dass bei ihr mit dem Präparat Dronabinol ein Behandlungserfolg zu erzielen sei. Erstes
Anzeichen hierfür sei, dass seit Behandlung mit Dronabinol keine weitere stationäre Behandlungsbedürftigkeit notwendig gewesen
sei. Mit dem durch das
Grundgesetz (
GG) geschützten Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit sei es nicht vereinbar, sie von Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung für Dronabinol auszuschließen, da nach Aussage des behandelnden Arztes alle schulmedizinischen Medikationen
erfolglos geblieben seien. Alternativen bestünden für sie nicht mehr. Nach Aussage ihres behandelnden Arztes seien auch Forschungsergebnisse
bekannt, die erwarten ließen, dass Dronabinol zur Schmerzmedikation zugelassen werde. Der Petitionsausschuss des Bundestags
habe sich bereits 2005 für eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen eingesetzt. Auch nach Auffassung der
Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer gebiete die Menschenwürde den Schutz vor erheblichen Schmerzen. Sie fügte
mehrere Seiten eines Internetausdrucks (www.cannabis-med.org/english/studies.htm) über die Beeinflussung des Krebswachstums
durch Dronabinol, Studies and Case Reports, Stand 01. August 2008 bei. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. November 2008 wies
der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss den Widerspruch zurück. Eine Kostenübernahme sei ausgeschlossen, weil
cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel nicht im Sinne des AMG zugelassen seien. Für cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel sei weder in Deutschland noch in einem zentralen europäischen
Zulassungsverfahren eine Zulassung erteilt worden. Lediglich das Fertigarzneimittel Marinol mit inhaltsgleichem Wirkstoff
sei in den USA zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie und zur Appetitanregung bei Aids-Patienten zugelassen.
Damit sei gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1 AMG zwar erlaubt, dieses Mittel im Einzelfall in geringer Menge und auf besondere Bestellung über eine Apotheke nach Deutschland
einzuführen. Das BSG habe mit Urteil vom 18. Mai 2004 (B 1 KR 21/02 R, in [...] = SozR 4-2500 § 31 Nr. 1) jedoch entschieden, dass die im Einzelfall mögliche rechtmäßige Arzneimittelbeschaffung
aus dem Ausland nicht geeignet sei, eine zulassungsähnliche Wirkung herbeizuführen. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse
für so beschaffte Präparate bestehe nicht. Ein im Ausland zugelassenes Arzneimittel sei krankenversicherungsrechtlich nicht
so zu behandeln wie ein im Inland bereits zulässigerweise im Handel befindliches Medikament, das außerhalb seines arzneimittelrechtlich
festgelegten Zulassungsrahmens verordnet und verwendet werden solle. Auch als Rezepturarzneimittel könne Dronabinol nicht
über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet werden, denn eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA)
zur Anwendung von Dronabinol für die bei der Klägerin bestehenden Erkrankung liege nicht vor. Auch die Voraussetzungen der
vom BVerfG mit Beschluss vom 06. Dezember 2005 (a.a.O.) dargestellten Rechtslage, die das BSG (Urteil vom 14. Dezember 2006
- B 1 KR 12/06 R - in [...] = SozR 4-2500 § 31 Nr. 8) dahingehend umgesetzt habe, dass eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift des
Sozialgesetzbuches nur in notstandsähnlichen Fällen in Betracht komme und hierunter Fälle zu verstehen seien, in denen sich
der "voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit
verwirklichen" werde, lägen im Falle der Klägerin nicht vor. Speziell zur Kostenübernahme von cannabinoidhaltigen Fertig-
oder Rezepturarzneimitteln zur Schmerztherapie habe darüber hinaus das BSG am 27. März 2007 (a.a.O.) entschieden, dass die
vom BVerfG aufgestellten Ausnahmegrundsätze auch unter einer grundrechtsorientierten Auslegung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
(
SGB V) nicht erfüllt seien. Ein chronisches Schmerzsyndrom könne - so das BSG - nicht mit einer tödlich verlaufenden Erkrankung
oder einem nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans gleichgestellt waren.
Die Klägerin erhob am 19. Dezember 2008 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG). Sie wiederholte ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend führte sie aus, Dronabinol sei eine cannabinoidhaltige Rezeptursubstanz
und kein Fertigarzneimittel. In der Schmerztherapie finde es - wie Internetrecherchen belegten - seit Jahren auch in Deutschland
Anwendung. Gemäß der Rechtsprechung des BVerfG liege bei ihr wegen der Schwere der Erkrankung und dem fehlenden Vorhandensein
anderer Therapiemöglichkeiten ein Ausnahmetatbestand vor. Zwar handele es sich derzeit nicht um eine lebensbedrohliche oder
regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung. Gleichwohl sei zum Schutz des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG eine verfassungskonforme Auslegung auch in anderen notstandsähnlichen Extremsituationen erforderlich. Ohne Behandlung mit
Dronabinol sei sie zu einem menschenunwürdigen Leben verdammt. Im Übrigen sei durch ihren drastischen gesundheitlichen Verfall
davon auszugehen, dass es sich bei ihr um eine tödlich verlaufende Erkrankung handele. Es gehe bei ihr auch nicht einfach
um die Bekämpfung von Schmerzen. Der schmerzhafte Dauerzustand habe bei ihr vielmehr Auswirkungen auf ihre gesamte körperliche
Verfassung. Im März 2009 habe sie der sie behandelnde Arzt Dr. E. zur künstlichen Ernährung in das L.-Krankenhaus einweisen
lassen, da sie nach einer Darmerkrankung und völliger Entkräftung einen massiven Gewichtsverlust erlitten und sich ihr gesundheitlicher
Zustand als äußerst bedrohlich dargestellt habe. Zu beachten sei auch, dass sie mittlerweile an einer multiplen Medikamentenunverträglichkeit
leide. Eine allgemein anerkannte, medizinischen Standards entsprechende Behandlung stehe für sie deshalb nicht zur Verfügung.
Auch die Beklagte habe ihr eine solche nicht benennen können. Die von der Beklagten aufgeführten möglichen (Hervorhebung im Original) Nebenwirkungen seien abzuwägen gegen ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen ohne das Medikament.
Dadurch, dass es sich um ein verschreibungspflichtiges Medikament handele, sei sie auch nach wie vor in ständiger ärztlicher
Behandlung und mögliche Nebenwirkungen könnten somit rechtzeitig erkannt werden. Soweit die Beklagte auf eine psychotherapeutische
Behandlung verweise, verkenne sie, dass bei einer solchen ebenfalls Medikamente, die sie nicht vertrage, zum Einsatz kämen.
Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf ihren bisherigen Vortrag auch im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG
und das Urteil des BSG vom 27. März 2007 (a.a.O.) entgegen. Ergänzend führte sie aus, sie - die Beklagte - sei grundsätzlich
nicht leistungspflichtig, wenn Fertigarzneimittel außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebiets eingesetzt würden. Eine Leistungspflicht
sei nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R - = SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 und vom 26. September 2006 - B 1 KR 14/06 R -, jeweils in [...]) nur ausnahmsweise unter engen Voraussetzungen gegeben. Erforderlich sei u.a. ein Erkenntnisniveau, das
der Zulassung eines Arzneimittels entspreche. Ein solches Erkenntnisniveau liege für cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel
nicht vor. Seit Jahren werde eine angeblich günstige medizinische Wirkung des Wirkstoffs Haschisch u.a. bei der Behandlung
von sog. Schmerzpatienten propagiert. Studien, die dies belegten, gebe es offenbar jedoch nicht in ausreichendem Maße, denn
bisher sei auch nach einer aktuellen Internetrecherche weder ein Antrag auf Zulassung von Dronabinol als Arzneimittel noch
ein Antrag auf Anerkennung als neue Behandlungsmethode beim GBA gestellt worden. Studien müssten sich dabei auch auf Langzeitfolgen
erstrecken. Bekannte Folgen eines täglichen Langzeitkonsums von Haschisch seien das Amotivationssyndrom, damit verbunden ein
Absinken der Leistungsmotivation, das Gefühl einer besseren Leistungsfähigkeit bei gleichzeitig objektiv schlechteren Leistungen
und Veränderungen des Gehirnstoffwechsels. Außerdem könne es eine psychische Abhängigkeit geben. In seltenen Fällen könne
auch eine krankhafte geistige und seelische Störung ausgelöst werden. Im Übrigen seien die Behandlungsmöglichkeiten bei der
Klägerin noch nicht erschöpft. Unter der Annahme einer starken psychosomatischen Komponente der Schmerzerkrankung fehle es
an einer Behandlung durch einen Facharzt für psychosomatische Medizin bzw. in einer entsprechend spezialisierten Einrichtung.
Soweit der behandelnde Arzt beim Absetzen des Dronabinol eine Suizidgefährdung befürchte, sei darauf hinzuweisen, dass diese
nach ständiger Rechtsprechung des BSG mit den Mitteln der Psychotherapie zu bekämpfen sei. Nach ihren Leistungsdaten sei die
Klägerin zwar schon einmal psychotherapeutisch behandelt worden, dies sei jedoch im Jahr 2001 der Fall gewesen. Von einer
aktuellen Betreuung sei nichts bekannt.
Das SG hörte Dr. E. als sachverständigen Zeugen. Dieser teilte unter dem 26. Juli 2009 mit, die Erkrankung der Klägerin sei in keiner
Weise ursächlich zu behandeln. Alle vertretbaren klinischen und ambulanten Möglichkeiten seien ausgeschöpft. Seit 2008 habe
sich ihr Zustand weiter verschlechtert. Ein tödlicher Verlauf der Erkrankung könne nicht sicher und regelmäßig bei diesem
einzigartigen Krankheitsbild festgestellt werden. Sollte der Klägerin aber Dronabinol entzogen werden, drohe seines Erachtens
aufgrund der dann völligen Unmöglichkeit ärztlicherseits eine Linderung herbeizuführen, möglicherweise wirklich ein Suizid.
Dronabinol werde von der Klägerin vertragen und habe zumindest zu einer geringen Beschwerdestabilisierung geführt. Dr. E.
fügte neben den bereits erwähnten Arztbriefen Arztbriefe des Prof. Dr. O., L.-Krankenhaus Freiburg über die stationären Aufenthalt
der Klägerin vom 17. bis 19. Juli 2007 (Bauchschmerzen unklarer Genese), 05. bis 13. März 2009 (Gewichtsabnahme) sowie vom
23. März bis 01. April 2009 (Diarrhoe), der HNO-Ärztin Dr. Wa. vom 19. Juni 2006 (Diagnosen: Pharyngitis, Verdacht auf viralen
Restinfekt, Serotympanon beidseits, Sinusitis maxillaris beidseits, Stomatitis) und des Dr. Ni. vom 05. Dezember 2007 und
01. November 2008 (leichte Besserung mit Dronabinol; andere Therapieversuche hätten keine Besserung ergeben, von einem Aufenthalt
in einer Schmerzklinik in B. M. habe die Klägerin nicht wesentlich profitiert) bei.
Mit Urteil vom 08. September 2010 wies das SG die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit Dronabinol. Bei der Behandlung
mit Dronabinol handele es sich um eine neue Behandlungsmethode. Eine Empfehlung des GBA bezüglich dieser Behandlungsmethode
sei noch nicht ausgesprochen. Ein sogenannter Systemmangel sei nicht ersichtlich. Auch aus der Rechtsprechung des BVerfG vom
06. Dezember 2005 ergebe sich kein Anspruch der Klägerin. Bei der Klägerin liege keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende Erkrankung vor. Auch eine Suizidgefahr bewirke grundsätzlich nicht, dass Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs
der gesetzlichen Krankenversicherung beansprucht werden könnten, sondern nur spezifische Behandlung etwa mit Mitteln der Psychiatrie.
Eine Erweiterung der vom BVerfG herangezogenen Kriterien von einer lebensbedrohlichen Erkrankung auf eine Verletzung der körperlichen
Unversehrtheit sei ausgeschlossen. Dadurch käme es zu einer exzessiven Ausweitung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.
Jede vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenze könnte beliebig überschritten werden.
Gegen das am 22. September 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. Oktober 2010 Berufung beim Landessozialgericht
Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie wiederholt ihr bisheriges Vorbringen und stützt sich auf die Urteile des Sozialgerichts
Augsburg vom 07. April 2006 - S 10 KR 459/04 -, des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05. September 2007 - S 8 KR 22/05 - und des Sozialgerichts Dresden vom 04. September 2008 - S 18 KR 298/06 -. Das angegriffene Urteil habe ihre individuelle Situation ungenügend festgestellt und fehlerhaft beurteilt. Die angesprochenen
Therapievorschläge seien mit Dr. E. besprochen worden. Dieser erachte die Therapievorschläge jedoch als nicht zielführend.
Er habe von ihnen abgeraten. Dies gelte insbesondere wegen der Medikamentenunverträglichkeit bezüglich der Versuche mit den
von Dr. Mi. vorgeschlagenen Analgetika. Die Schmerzbehandlung in der Schwarzwaldklinik Bad Krozingen im Jahr 2005 sei ohne
dauerhaften Erfolg gewesen. Für die Behandlung in der T.-Klinik im Jahr 2007 wäre mindestens eine bis zu vierteljährige Behandlung
erforderlich gewesen. Ermöglicht worden sei durch einen gerichtlichen Vergleich aber nur ein dreiwöchiger Klinikaufenthalt.
Auch die Behandlung in der Schmerzklinik Bad Mergentheim im Jahr 2008 habe nicht zu einer dauerhaften Besserung geführt. Die
ihr bisher für die Zeit von Dezember 2008 bis Juni 2009 entstandenen Kosten beliefen sich auf EUR 1.431,04. Hierzu hat sie
am 16. Dezember 2008 und 24. Juni 2009 von Dr. Ni. bzw. Internist Dr. E. ausgestellte Privatverordnungen und Apothekenrechnungen
vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 08. September 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 06. August 2008 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. November 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten des Rezepturarzneimittels
Dronabinol aus den ärztlichen Verordnungen vom 16. Dezember 2008 und 24. Juni 2009 in Höhe von insgesamt EUR 1.431,04 zu erstatten
und ihr die Behandlung mit Dronabinol als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Versorgung mit einem dem BTMG unterliegenden Wirkstoff dürfe nur als letzte Behandlungsoption eingesetzt werden. Die Voraussetzungen,
die das BVerfG in seiner Entscheidung vom 06. Dezember 2005 aufgestellt habe, lägen nicht vor. Es handle sich nicht um eine
lebensbedrohliche Erkrankung. Außerdem sei aufgrund der vorliegenden Unterlagen, z.B. des Arztbriefs der Deutschen Klinik
für Diagnostik vom 10. November 2008 und des MDK-Gutachtens von vertraglichen Behandlungsoptionen auszugehen.
Beide Beteiligte haben jeweils ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge
und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 06. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 19. November 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen (Sachleistungs-)Anspruch
auf Versorgung mit Dronabinol und damit auch keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Beschaffung von Dronabinol
in der Vergangenheit.
Da mangels entsprechender Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass die Klägerin nicht nach §
13 Abs.
2 SGB V anstelle der Sach- oder Dienstleistungen Kostenerstattung gewählt hat, ist, soweit die Klägerin die Erstattung von ihr aufgewendeter
Kosten für die Beschaffung von Dronabinol begehrt, Anspruchsgrundlage §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V. Die Regelung bestimmt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine
Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese
von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Anspruch aus §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher
im Regelfall voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in
Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSG SozR 4-2500 § 13 Nr. 19).
Nach §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
3 SGB V u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln. Nach §
31 Abs.
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach §
34 SGB V oder durch Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V ausgeschlossen sind. Nach §
2 Abs.
2 Satz 1
SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen. Der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung unterliegt
nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
1 SGB V den sich aus §
2 Abs.
1 und §
12 Abs.
1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Nach diesen Vorschriften müssen die Leistungen der Krankenkassen ausreichend, zweckmäßig und
wirtschaftlich sein und sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich
sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen
(§
12 Abs.
1 SGB V). Außerdem müssen Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
entsprechen (§
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V).
Bezüglich der Arzneimittel ist zu differenzieren zwischen zulassungspflichtigen Fertigarzneimitteln und zulassungsfreien Rezepturarzneimitteln.
Fertigarzneimittel sind Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an Endverbraucher bestimmten Verpackung
in den Verkehr gebracht werden (§ 4 Abs.1 AMG). Sie bedürfen nach § 21 AMG grundsätzlich der Zulassung durch die dafür zuständige Behörde. Verfügt ein Fertigarzneimittel nicht über die nach dem deutschen
Arzneimittelrecht notwendige Zulassung bzw. in der seit 23. Juli 2009 geltenden Fassung des Gesetzes vom 17. Juli 2009 alternativ
der europarechtlichen Genehmigung, fehlt es (schon deshalb) an der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Behandlung im
Sinne der §§
2 Abs.
1 und
12 Abs.
1 SGB V. Das nicht zugelassene Fertigarzneimittel gehört von vornherein nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
(ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 30/06 R -; Urteil des erkennenden Senats vom 19. Mai 2010 - L 4 KR 5085/08 -; nicht veröffentlicht). Eine etwaige Zulassung oder Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels im Ausland ändert daran nichts.
Unbeschadet der Möglichkeit, ausländische Zulassungsentscheidungen zu übernehmen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 AMG) und unbeschadet spezieller europarechtlicher Gemeinschaftsverfahren im Arzneimittelbereich führt dies nur dazu, dass das
Arzneimittel importiert und ärztlich verordnet werden darf (§ 73 Abs. 3 AMG); die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen wird dadurch nicht begründet (vgl. hierzu Urteil des Landessozialgerichts
Baden-Württemberg vom 30. August 2006 - L 5 KR 281/06 - m.w.N. in [...]).
Für zulassungsfreie Rezepturarzneimittel ist das in §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V festgelegte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu beachten. Nach Nr. 1 dieser Vorschrift dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der
GBA auf Antrag eines Unparteiischen nach §
91 Abs.
2 Satz 1
SGB V, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
in Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren
medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden
- nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung. Die Verordnung als Rezepturarzneimittel
ist - wie der Einzelimport nach § 73 Abs. 3 AMG - unter Beachtung des BTMG zwar betäubungsmittelrechtlich zulässig. Neuartige Therapien mit einem Rezepturarzneimittel, die
vom GBA nicht empfohlen sind, dürfen die Krankenkassen jedoch grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des §
135 Abs.1 Satz 1
SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des GBA gebunden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 27.
März 2007 a.a.O.).
Von diesen rechtlichen Vorgaben ausgehend hat das Begehren der Klägerin keinen Erfolg.
Die Versorgung mit einem auf Cannabinoidgrundlage hergestellten Fertigarzneimittel, etwa mit dem in den USA unter dem Handelsnahmen
Marinol für die Behandlung chemotherapiebedingter Übelkeit sowie zur Therapie der Kachexie und Appetitstimulation von Aidspatienten
zugelassenen Arzneimittel, begehrt die Klägerin nach ihrem Vorbringen sowohl im Klage- als auch Berufungsverfahren nicht.
Dronabinol ist kein Fertigarzneimittel. Denn es wird in Deutschland als Rezeptursubstanz hergestellt und an Apotheken geliefert.
Ein cannabinoidhaltiges Fertigarzneimittel könnte sie aber auch nicht beanspruchen, da kein cannabinoidhaltiges Fertigarzneimittel
über die nach dem deutschen Arzneimittelrecht notwendige Zulasung verfügt und deshalb - wie ausgeführt - nicht zum Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenkassen gehört. Mangels arzneimittelrechtlicher Zulassung scheidet auch ein sog. "Off-Label-Use", also
die zulassungsüberschreitende Anwendung, von vornherein aus (BSG, Urteil vom 27. März 2007 a.a.O.).
Die Beklagte ist auch nicht verpflichtet, der Klägerin Dronabinol als Rezepturarzneimittel als Sachleistung zur Verfügung
zu stellen. Denn insoweit fehlt es an der nach §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V erforderlichen befürwortenden Entscheidung des GBA, ohne die - wie ebenfalls bereits ausgeführt - neue Behandlungsmethoden
von den gesetzlichen Krankenkassen nicht gewährt werden können.
Auf die Empfehlung des GBA kann auch nicht deshalb verzichtet werden, weil Dr. Ni. und Dr. E. die Behandlung befürworten und
empfehlen. Dies allein vermag die Empfehlung des GBA nicht zu ersetzen.
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch darauf, dass ihr die Beklagte Dronabinol als Sachleistung zur Verfügung stellt, weil
ein Ausnahmefall des so genannten Seltenheitsfalls oder des so genannten Systemversagens vorliegt. Der so genannte Seltenheitsfall
ist gegeben bei einer Krankheit, die weltweit nur extrem selten auftritt und die deshalb im nationalen wie im internationalen
Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 -
B 1 KR 27/02 R - = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1). Ein Systemversagen ist zu bejahen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs-
oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung
notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde. In solchen Fällen ist
die in §
135 Abs.
1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss dann die Möglichkeit bestehen, das
Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 27. März 2007, a.a.O.). Hier
liegen beide Ausnahmefälle nicht vor. Eine Schmerzerkrankung ist nicht selten. Anhaltspunkte dafür, dass sich die antragsberechtigten
Stellen (Kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenärztliche Vereinigung oder Spitzenverband der Krankenkassen) oder der GBA
aus sachfremden oder willkürlichen Erwägungen mit der Materie nicht oder zögerlich befasst haben, sind nicht ersichtlich und
wurden von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Die Schmerzbehandlung mit Medikamenten auf Cannabinoidgrundlage befindet sich
unter Berücksichtigung des von der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgelegten Internetausdrucks "Beeinflussung des Krebswachstums
durch Dronabinol" nach wie vor noch im Erprobungsstadium. Weitere Unterlagen hat die Klägerin nicht vorgelegt. Auch die von
Dr. Bö. überprüfte aktuelle Datenlage ergab kein anderes Bild. Anhaltspunkte dafür, dass sich hieran etwas geändert hätte,
lassen sich auch nicht auf die ausweislich des Urteils des LSG Berlin-Brandenburg vom 22. September 2010 - L 9 KR 268/05 - vom LSG Berlin-Brandenburg durchgeführte Recherche stützen. Der Behandlung fehlt damit (noch) die allgemeine wissenschaftliche
Anerkennung. Deshalb ist in Würdigung der gesetzlichen Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der Leistungen (vgl. §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V) kein Raum für die Annahme, es liege ein Systemversagen vor.
Ein Leistungsanspruch der Klägerin lässt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG zur Leistungspflicht
der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich
verlaufenden Erkrankung begründen. In seinem Beschluss vom 06. Dezember 2005 (a.a.O.) hat es das BVerfG für mit dem Grundrecht
aus Art.
2 Abs.1
GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht aus Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG nicht für vereinbar erklärt, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche
Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung
einer von ihm gewählten ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht
auf Heilung oder auf eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Eine für die Bejahung des Leistungsanspruchs
unter diesem Gesichtspunkt erforderliche notstandsähnliche Situation liegt nur dann vor, wenn ohne die streitige Behandlung
sich ein tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen
wird oder ein nicht kompensierbarer Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion akut droht.
Das BSG hat insoweit weiter ausgeführt dass mit den genannten Krankheits-Kriterien des BVerfG eine strengere Voraussetzung
umschrieben wird, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert
ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst
gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert
würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen
nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des
SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche
der Versicherten anzusehen (vgl. auch BSG, Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R - in [...] = SozR 4-2500 § 27 Nr. 10).
Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen Off-Label-Use sind hoch. Nicht jede
Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur
eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Auch ein Off-Label-Use
bedeutet nämlich, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit
und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen
soll. Ausnahmen können schon insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer
krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen
des Rechts der gesetzlichen Krankenkassen an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§
2 Abs.
1 und §
12 Abs.
1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden
Bedarfs Rechnung trägt (so zum Ganzen BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R, a.a.O. und ausführlich BSG, Urteil vom 27. März 2007, B 1 KR 17/06 R, a.a.O., mit zahlreichen Nachweisen). Verneint hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit
im Sinne des Beschlusses des BVerfG vom 06. Dezember 2005 (a.a.O..) z.B. bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium (Urteil
vom 04. April 2006 - B 1 KR 12/05 R - in [...] = SozR 4-2500 § 27 Nr. 8 - Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds), bei einer in 20 bis 30 Jahren drohenden
Erblindung (Beschluss vom 26. September 2006 - B 1 KR 16/06 B -, nicht veröffentlicht) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden Friedreichschen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen
stabilen Symptomen (Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R - a.a.O. - Idebenone). Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur,
wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt,
wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten
Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren,
überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den gegebenenfalls gleichzustellenden,
akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten
(vgl. BSG, Urteil vom 27. März 2007 a.a.O.).
Solches vermag der Senat bei dem bei der Klägerin vorliegenden Schmerzsyndrom nicht zu erkennen. Die Erkrankung der Klägerin
ist weder lebensbedrohlich noch handelt es sich dabei um eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung und die Erkrankung
kann auch nicht einem nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion
gleichgestellt werden. Eine akute Lebensgefahr besteht nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die von
Dr. Ni. und Dr. E. erwähnte, jedoch nicht weiter begründete Suizidalität, denn diese ist - wie vom SG ausgeführt - mit Mitteln der Psychiatrie zu behandeln. Darüber hinaus steht der Leistungspflicht der Beklagten gestützt auf
die Rechtsprechung des BVerfG aber auch entgegen, dass bei der Klägerin mögliche Therapien nicht vollständig ausgeschöpft
sind. Es mag zwar nicht zu widerlegen sein, dass medikamentöse Behandlungen der Klägerin etwa mit Morphin, aufgrund der bei
ihr bestehenden Allergien, ihrem Hausarzt Dr. E. folgend nicht zielführend sind, doch gilt dies nicht für die Behandlung der
Klägerin in einer psychosomatischen Klinik, die von dem Neurologen Dr. Sc. empfohlen wurde, die von Dr. Ha. empfohlenen physiotherapeutischen
Maßnahmen und die Psychotherapie, die Dr. Mi. vorschlug und die nicht zwingend mit Medikamentengabe verbunden sein muss.
Ein Anspruch der Klägerin ergäbe sich schließlich auch nicht daraus, wenn die Beklagte in der Vergangenheit eine Versorgung
mit Dronabinol sichergestellt oder die Kosten hierfür erstattet hätte. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Beklagte
der Klägerin tatsächlich von August 2007 bis September 2008 die Kosten jeweils erstattet hat bzw. der Klägerin die Behandlung
mit Dronabinol zur Verfügung gestellt hat, denn durch eine solche Kostenübernahme in der Vergangenheit wäre keine Selbstbindung
der Beklagten eingetreten. Die Erbringung einer Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung hängt immer von den aktuellen
(medizinischen) Umständen ab. Sie hat für die Zukunft grundsätzlich nie eine rechtliche Bedeutung.
Da - wie dargelegt - ein Sachleistungsanspruch nicht besteht, besteht auch kein Kostenerstattungsanspruch.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.