Anspruch auf Anerkennung des Merkzeichens "RF" im Schwerbehindertenrecht
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger das Merkzeichen "RF" zuzuerkennen und ihm ein Beiblatt mit kostenloser
Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr auszustellen ist.
Der 1973 geborene Kläger verunfallte im Juli 1991. In der Folge besteht bei ihm ein Anfallsleidens (Epilepsie), ein hirnorganisches
Psychosyndroms, eine inkomplette Halbseitenlähmung links, ein Zustand nach Femurfraktur links bei Zustand nach Polytrauma
sowie ein Polytrauma mit gedeckter Schädel-Hirn-Verletzung, weswegen ihm zuletzt mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2001 ein
GdB von 100 seit dem 07.08.2000 sowie die Merkzeichen "G", "B" und "aG" zuerkannt sind. Am 23.11.2011 verunfallte der Kläger
erneut. Er zog sich einen Bruch des Schienbeinkopfes links zu, der mit einem Fixateur behandelt wurde. Es verblieb wohl eine
Kniefehlstellung.
Der unverheiratete Kläger bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente sowie Wohngeld. Seit dem 06.12.2011 ist ihm Pflegestufe I
zuerkannt, er bezieht Pflegegeld. Er bewohnt alleine eine gemietete Zwei-Zimmer-Wohnung im EG eines Hauses, die er über fünf
Stufen erreicht. Seine Mutter versorgt den Haushalt.
Am 26.01.2011 beantragte der Kläger beim Landratsamt R. die Feststellung des Merkzeichens "RF". Von dort aus wurde ein Entlassungsbericht
der Kliniken S. K. vom 08.09.2009 über die dort im Zeitraum vom 21.07.2009 bis 08.09.2009 erfolgte Reha-Maßnahme, beigezogen.
In diesem Bericht wurden Diagnosen einer spastischen Hemiparese links, eines hirnorganischen Psychosyndroms nach Schädelhirntrauma,
einer symptomatischen Epilepsie mit komplex fokalen und sekundär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen, letzter Grand
Mal Juni 2009, eines Zustandes nach Femurfraktur links bei Zustand nach Polytrauma sowie eines Polytraumas mit gedeckter Schädel-Hirn-Verletzung
Juli 1991 gestellt. Der Kläger sei innerhalb des Hauses und im näheren Außenbereich mit Handstock gehfähig. Größere Menschenansammlungen
oder unebenes Gelände hätten ihn verunsichert, so dass er bei größeren Strecken auf einen Rollstuhl zurückgegriffen habe.
Im weiteren Behandlungsverlauf sei der Kläger zunehmend stabiler geworden, so dass er die Treppe habe freihändig auf- und
abgehen können und auch mit Stock innerhalb der Fußgängerzone gegangen sei. Zusätzlich wurde ein Bericht des Epilepsie-Zentrums
K. vom 08.02.2011 beigezogen. Der Versorgungsarzt Dr. Z.-C. äußerte sich in einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom
17.03.2011 dahingehend, dass das Anfallsleiden Pausen von mehreren Monaten habe und der Kläger nicht gehindert sei, die Wohnung
zu verlassen. Er könne mit entsprechenden Hilfsmitteln auch an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Nach dem Entlassungsbericht
der Kliniken S. sei das Merkzeichen "aG" ein Grenzfall. Es liege aber keine Besserung vor.
Mit Bescheid vom 18.03.2011 lehnte das Landratsamt R., der versorgungsärztlichen Stellungnahme folgend, die Feststellung des
Merkzeichens "RF" ab.
Mit seinem Widerspruch vom 28.03.2011 wies der Kläger u.a. darauf hin, er könne wegen seiner Epilepsie an Übungen im Wasser
nicht teilnehmen und schilderte die Schwierigkeiten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in seinem Wohnumfeld Geschäfte zu erreichen,
öffentliche Veranstaltungen zu erreichen oder Ärzte aufzusuchen. Er könne auch nicht zur Freilichtbühne nach Ö. fahren, da
man als Rollstuhlfahrer keine Chance habe aus der S ... auszusteigen bzw. dort einzusteigen. Nach den gesetzlichen Regelungen
zähle er zu den Berechtigten des Merkzeichens "RF".
Einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme der Dres. Z./K./O. vom 15.05.2011 folgend wies der Beklagte den Widerspruch des
Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2011 zurück. Die eingeschränkte Möglichkeit, nur an bestimmten Veranstaltungen
teilnehmen zu können, begründe die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht. Dasselbe gelte auch für örtlich nur wenige oder
fehlende Veranstaltungen. Der Kläger sei jedoch noch in der Lage, gegebenenfalls mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen
Hilfsmitteln zumindest gelegentlich öffentliche Veranstaltungsorte aufzusuchen.
Der Kläger wandte sich mit Schreiben vom 31.05.2011, eingegangen am 03.06.2011, an das Landratsamt R., begehrte unter Vorlage
einer Kopie des Bescheides der Wohngeldbehörde der Stadt G. vom 13.01.2011, ihm ein Beiblatt mit kostenloser Wertmarke zur
unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auszustellen und zu Unrecht gezahlte Kosten für die
entgeltliche Wertmarke i.H.v. 60,00 EUR zu erstatten.
Mit Bescheid des Landratsamts R. vom 14.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 17.08.2011 wurde
die Ausstellung einer entsprechenden Wertmarke abgelehnt. Eine für ein Jahr gültige Wertmarke ohne Zuzahlung des Eigenanteils
werde an schwerbehinderte Menschen ausgegeben, wenn laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II oder laufende Leistungen nach dem Dritten (Hilfe zum Lebensunterhalt) und Vierten Kapitel (Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung) des SGB XII oder dem Achten Sozialgesetzbuch oder den § 26 c, 27 a und 27 d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) bezogen würden. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da der Kläger Wohngeld erhalte.
Am 14.07.2011 hat der Kläger beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben und sich sowohl gegen die Ablehnung des Merkzeichens "RF" als auch die Ablehnung der Ausstellung eines Beiblattes
mit kostenloser Wertmarke gewandt. Aufgrund seiner geringen Erwerbsunfähigkeitsrente und den entsprechenden Abzügen habe er
weniger Geld als Hartz IV-Empfänger und erhalte nur Wohngeld. Daher dürfe er in der Tafel in Gaggenau einkaufen. Die Voraussetzungen
für die Ausstellung einer kostenlosen Wertmarke seien ebenso erfüllt wie die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF". Es verwies
dazu auf die bestehenden Schwierigkeiten und Erschwernisse, Geschäfte mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen oder öffentliche
Veranstaltungen besuchen zu können.
Mit Gerichtsbescheid vom 31.01.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Hinsichtlich der Feststellung des Merkzeichens "RF" sei erforderlich, dass der Behinderte wegen seines
Leidens allgemein und umfassend vom Besuch an öffentlichen Veranstaltungen, d.h. von Zusammenkünften politischer, künstlerischer,
wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher und unterhaltender Art, ausgeschlossen sei, also allenfalls an einem nicht nennenswerten
Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen könne. Dabei sei es unerheblich, ob diejenigen Veranstaltungen, an
denen der Behinderte noch teilnehmen könne, seinen persönlichen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprächen. Solange
der Behinderte mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen
aufsuchen könne, sei er an der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert. Die beim Kläger wegen der spastischen
Hemiparese links bestehenden Einschränkungen der Beweglichkeit seien zwar erheblich, hätten jedoch nicht zur Folge, dass er
allgemein und umfassend ständig gehindert sei, öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen. Die Fähigkeitsstörungen des Bewegungsapparates
mit der Notwendigkeit auch der Inanspruchnahme eines Rollstuhles bei Zurücklegung längerer Strecken hinderten ihn nicht, an
einzelnen öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Den medizinischen Unterlagen lasse sich nicht entnehmen, dass der Kläger
nicht in der Lage sei, sich mittels eines Rollstuhls fortzubewegen. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Ausstellung eines
Beiblatts mit kostenloser Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr. Die vom Kläger dargelegten
finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse rechtfertigten eine andere Entscheidung nicht. Maßgebend sei, ob der Kläger
laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II oder laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII oder dem SGB VIII oder den §§ 26c, 27a und 27d BVG erhalte. Dies sei jedoch nicht der Fall, da er Wohngeld beziehe. Diese Leistung erfülle die Voraussetzungen eines Leistungsbezugs
nicht.
Gegen den ihm am 03.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 23.02.2012 beim SG (Eingang beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) am 27.02.2012) Berufung eingelegt. Im Gerichtsbescheid sei kein
einziger Satz zu lesen, der für seine Klage spreche. Auch habe er vom SG eine Antwort auf die von ihm genannten Punkte erwartet. Auch sei offen, weshalb der Tochter eines bekannten Sängers das Merkzeichen
"RF" erteilt sei, ihm aber nicht. Er verfüge auch nicht über Personen, deren Hilfe er sich beim Besuch von Veranstaltungen
bedienen könne. Am Bahnhof in R. seien überall Treppen, er habe auch nicht einmal die Möglichkeit ins Landratsamt zu gelangen.
Auf der Internetseite "www.die-experten.com" sei nachzulesen, wer GEZ-Gebühren zahlen müsse. Wohngeld sei dort ausdrücklich
genannt. Auch sei in Folge des Unfalles am 23.11.2011 eine Fehlstellung des linken Kniegelenks eingetreten, die auf Dauer
bleibe.
Mit Schreiben vom 10.06.2012 hat der Kläger mitgeteilt, er beziehe eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente i.H.v. 797,65
EUR und Wohngeld i.H.v. 26,00 EUR monatlich.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 31.01.2012, den Bescheid des Landratsamts R. vom 18.03.2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 14.06.2011 aufzuheben, festzustellen, dass der Bescheid des Landratsamts R. vom
14.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 17.08.2011 rechtswidrig war und den Beklagten zu verurteilen,
ab dem 26.01.2011 den Nachteilsausgleich RF festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Beiziehung von ärztlichen Unterlagen des behandelnden Hausarztes Dr. G ... Wegen des Inhalt
der Unterlagen wird auf Blatt 23 bis 43 der Senatsakten Bezug genommen. Die Unterlagen waren sowohl dem Kläger als auch dem
Beklagten übersandt worden. Dr. G. vom versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten hat in einer Stellungnahme vom 20.11.2012
ausgeführt, neurologisch lägen nach dem aktuellen Befund eine leichte linksbetonte spastische Tetraparese und ein leichtes
hirnorganisches Psychosyndrom vor, von Seiten der symptomatischen Epilepsie habe sich der letzte Anfall offenbar 2009 ereignet.
Ein ständiges Gebundensein an die Wohnung sei aus den Befunden ebenso wenig ableitbar wie unzumutbar störend wirkende unwillkürliche
Kopf- und Gliedmaßenbewegungen i.V. mit der Spastik. Mit Hilfe von Begleitpersonen und mit technischen Hilfsmitteln sei ein
genereller Ausschluss von allen öffentlichen Veranstaltungen weiterhin nicht begründbar. Hilflosigkeit als Voraussetzung für
eine kostenlose Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr sei aus den bisher vorliegenden
Befunden nicht ableitbar.
Des Weiteren hat der Senat von der Pflegekasse des Klägers, der Knappschaft, ein Pflegegutachten vom 26.03.2012 beigezogen;
wegen des Inhalts wird auf Blatt 52 bis 62 der Senatsakte Bezug genommen. Dieses Gutachten gelangt zu dem Ergebnis, es bestehe
keine Einschränkung der Alltagskompetenz. Aufstehen und Laufen in der Wohnung mit Gehstock sei mühsam möglich; "sehr unsicheres
Gangbild". Ein Hilfebedarf beim Gehen und Stehen wurde jedoch verneint. Ein Hilfebedarf beim Treppensteigen und beim Verlassen/Wiederaufsuchen
der Wohnung wurde bejaht. Insgesamt kommt das Gutachten zu dem Ergebnis eines Hilfebedarfs bei der Grundpflege von 53 Minuten/Tag
sowie bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von 45 Minuten/Tag im Wochendurchschnitt. Der Beklagte hat hierzu auf die versorgungsärztliche
Stellungnahme von Dr. R. vom 26.02.2013 verwiesen, wonach die Voraussetzungen für das begehrte Merkzeichen und die kostenlose
Wertmarke aus dem Gutachten nicht ableitbar seien.
Mit Schreiben vom 25.03.2013 haben der Kläger und seine Mutter weiter vorgetragen und u.a. angefragt, weshalb es unbeachtlich
sein solle, dass er Hilfe zur Pflege erhalte bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt. Er erhalte mit dem Pflegegeld doch auch eine
staatliche Sozialleistung. Auf Blatt 67/68 der Senatsakte wird verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Beklagte: Blatt 66 der
Senatsakte; Kläger: Blatt 70 der Senatsakte).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des Senats sowie
die beigezogenen Akten des SG und des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung (§§
153 Abs.
1 i.V.m. §
124 Abs.
2 SGG) über die Berufung des Klägers entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt hatten und eine mündliche
Verhandlung nicht erforderlich erscheint.
Die gemäß §
151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§
143,
144 SGG zulässig, aber nicht begründet.
Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist zum Einen die mit dem Ziel der Zuerkennung des Merkzeichens "RF" geführte kombinierte
Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§
54 Abs.
1 Satz 1 i.V.m. §
55 SGG) gegen den Bescheid des Landratsamts R. vom 18.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 14.06.2011.
Diese zulässige und fristgerechte Klage hat das SG zutreffend abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "RF". Der angefochtene Bescheid vom
18.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 14.06.2011 ist nicht rechtswidrig, der Kläger wird nicht in seinen
Rechten verletzt; der Gerichtsbescheid des SG ist insoweit nicht zu beanstanden (dazu unter 1.).
Gegenstand des Verfahrens ist aber auch die am 14.07.2011 erhobene Klage auf Ausstellung eines Beiblattes mit kostenloser
Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im ÖPNV, was das Landratsamt R. mit Bescheid vom 14.06.2011 abgelehnt hatte. Der
Klageschrift vom 13.07.2011 ist auch dieses klägerische Begehren zu entnehmen, denn der Kläger zitiert - zwar mit nicht ausreichend
differenzierter Bezeichnung als Widerspruchsbescheid - die unter dem 14.06.2011 ergangenen Verwaltungsakte nach den ausdrücklich
genannten Az. 02/34/338 209 (Ablehnungsbescheid über Ausstellung der Wertmarke) und Az. 1 ...-W ...-/L., D. (Widerspruchsbescheid
wegen Merkzeichen RF). Diese Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1 i.V.m. Abs.
5 SGG; dazu vgl. BSG 06.10.2011, B 9 SB 7/10 R, BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr 2 = juris) war zum Zeitpunkt der Klageerhebung jedoch nicht zulässig, weil die Sachurteilsvoraussetzung
eines abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens nicht vorgelegen hatte. Über den vom Kläger ordnungsgemäß eingelegten Widerspruch
vom 03.07.2011 gegen den Bescheid vom 14.06.2011 war erst nach Klageerhebung mit Widerspruchsbescheid vom 17.08.2011 entschieden
worden. Die Klageerhebung war auch nicht deshalb zulässig geworden (§
78 Abs.
1 SGG), weil der Widerspruchsbescheid gemäß §
96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, denn dieser Verwaltungsakt ist nicht dem Wortlaut der Vorschrift entsprechend "nach
Erlass des Widerspruchsbescheides" ergangen. Mit §
96 SGG soll das Vorverfahren als Klagevoraussetzung nicht umgangen werden, weshalb es einer ausdrücklichen Einbeziehung - gegebenenfalls
muss dem Kläger durch das Gericht die Möglichkeit gegeben werden, das fehlende Vorverfahren noch nachzuholen (vgl. Leitherer
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage, §
78 Rn. 3a) - in das bereits anhängige Klageverfahren bedarf. Ergeht der Widerspruchsbescheid bis zur letzten mündlichen Verhandlung
in der Tatsacheninstanz und wird von den Beteiligten zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, ist der Zulässigkeitsmangel geheilt
(h.M. vgl. BSGE 16, 21; Leitherer, aaO. § 78 Rn. 3 m.w.N.). Diese Voraussetzungen der Heilung sind eingetreten. Der noch während des schriftlichen
Verfahrens vor dem SG ergangene Widerspruchsbescheid vom 17.08.2011 wurde mit der Klagebegründung vom 11.09.2011 - letztlich auch fristgerecht
- einbezogen, worauf die Beklagte mit ihrer Klageerwiderung vom 08.12.2011 auch eingegangen ist. Die Klage war daher zunächst
zulässig geworden.
Diese zunächst zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage ist aber später unzulässig geworden. Denn für das (Leistungs-)Begehren
des Klägers auf Ausgabe der auf jeweils ein Jahr befristeten Wertmarke (dazu vgl. §
145 Abs.
1 Satz 9 - bis 31.12.2012 Satz 5 -
SGB IX) ist das Rechtsschutzbedürfnis entfallen (BSG 25.10.2012, B 9 SB 1/12 R, SozR 4-3250 § 145 Nr 4 = juris RdNr. 21). Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 9 - bis 31.12.2012: Satz 5 -
SGB IX wird auf Antrag eine für ein Jahr gültige Wertmarke ausgegeben. Nach Ablauf des Jahres erledigt sich der ablehnende Verwaltungsakt
i.S.d. § 39 Abs. 2 SGB X auf sonstige Weise; die Verwaltung hatte vorliegend auf diese gesetzlichen Regelungen Bezug genommen und auch lediglich über
die Erteilung einer Wertmarke für ein Jahr entschieden. Da die Ausgabe der Wertmarke für einen in der Vergangenheit liegenden
Zeitraum dem Kläger auch keine günstige Rechtsposition mehr verschaffen kann, ist das Interesse des Klägers an der gerichtlich
durchgesetzten Ausstellung einer solchen Wertmarke für die Vergangenheit nicht mehr schutzwürdig. Das für die Fortführung
der ursprünglich zulässigen Anfechtungs- und Leistungsklage notwendige Rechtsschutzbedürfnis ist entfallen, über die Ausgabe
einer entsprechenden Wertmarke für das Folgejahr hat die Verwaltung aber nicht entschieden, weshalb die zunächst zulässige
Klage nach Ablauf des in §
145 Abs.
1 Satz 9 - bis 31.12.2012: Satz 5 -
SGB IX genannten Jahres insoweit unzulässig geworden war. Infolge dessen war aber der Antrag des Klägers als Fortsetzungsfeststellungsklage
i.S.d. §
131 Abs.
1 Satz 3
SGG, also als Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des zunächst mit einer zulässigen Klage angefochtenen Verwaltungsaktes,
zu verstehen. Dass der Kläger dies wollte, konnte der Senat seinem Begehren entnehmen. Bei dieser Umstellung des Klagebegehrens
handelt es sich wegen §
99 Abs.
2 Nr.
2 SGG auch nicht um eine unzulässige Klageänderung (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage, §
99 RdNr. 4). Das für eine solche Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche Interesse des Klägers an der Feststellung, dass
der zwischenzeitlich erledigte Verwaltungsakt rechtswidrig war, liegt vor (BSG aaO. RdNr 22). Denn der Kläger kann mit Erfolg eine bestehende Wiederholungsgefahr geltend machen. Eine solche ist gegeben,
wenn die nicht entfernt liegende Möglichkeit eines wiederholten Auftretens der Rechtsfrage zwischen den Beteiligten besteht,
etwa, wenn sich konkret abzeichnet, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen oder rechtlichen Umständen ein
gleichartiges Leistungsbegehren wieder auftreten kann (BSG aaO.; BSG 08.11.2011, B 1 KR 19/10 R, BSGE 109, 212 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 19, RdNr. 9; BSG 18.05.2011, B 3 KR 7/10 R, BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 34, RdNr. 22). Da der Antrag auf Ausgabe einer unentgeltlichen Wertmarke gemäß §
145 SGB IX wegen des gesetzlich vorgesehenen Gültigkeitszeitraums spätestens jährlich erneut zu stellen ist, liegt es nahe, dass ein
gleichartiges Leistungsbegehren und damit die zwischen den Beteiligten streitige Rechtsfrage mit Beginn des jeweils folgenden
Gültigkeitszeitraums erneut entstehen wird (BSG aaO.). Damit ist die erhobene Klage, als Fortsetzungsfeststellungsklage verstanden, zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Der angefochtene Bescheid des Landratsamts R. vom 14.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 17.08.2011
war nicht rechtswidrig, der Kläger wurde auch nicht in seinen Rechten verletzt. Denn er hatte keinen Anspruch auf Ausstellung
eines Beiblattes mit kostenloser Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr; der Gerichtsbescheid
des SG ist auch insoweit im Ergebnis nicht zu beanstanden (dazu unter 2.).
1.) Die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" sind nach §
69 Abs.
5 SGB IX i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg für die Zeit bis 31.12.2012 in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags
(RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit
dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl.
2009, S. 131) gilt. Für die Zeit ab dem 01.01.2013 regelt dies nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis
21.12.2010, der in B.-W. durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher
Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen
Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen
Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Gleichermaßen ist in § 4 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 RBStV, zuvor § 6 Abs. 1 Nrn. 7
und 8 RGebStV, vorausgesetzt, dass es sich um (Nr. 1 bzw. Nr. 7. a) blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte
Menschen mit einem Grad der Behinderung von (wenigstens) 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung; (Nr. 2 bzw. Nr. 7.
b) hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen
nicht möglich ist, oder (Nr. 3 bzw. Nr. 8) behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigsten
80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, handelt.
Der Kläger ist weder blind noch hörgeschädigt in diesem Sinne. Zwar ist ihm nicht nur vorübergehend ein GdB von 100 sowie
die Merkzeichen "G", "aG" und "B" zuerkannt, weshalb es auch nicht auf die Frage ankommt, ob auch bei einem GdB von unter
80 eine Zuerkennung des Merkzeichens "RF" möglich ist (dazu vgl. BSG 16.02.2012, B 9 SB 2/11 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 14 = juris). Doch ist neben einem entsprechenden GdB auch Voraussetzung des Merkzeichens "RF", dass der Kläger wegen
seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Der behinderte Mensch muss wegen seines Leidens
allgemein und umfassend vom Besuch an öffentlichen Veranstaltungen, d.h. von Zusammenkünften politischer, künstlerischer,
wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher und unterhaltender Art ausgeschlossen sein, also allenfalls an einem nicht nennenswerten
Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen können. Das ist vorliegend zu verneinen. Die Auswirkungen der auf dem
Unfall 1991 bzw. möglicherweise auch auf dem Unfall 2011 beruhenden Funktionsbeeinträchtigungen, in deren Vordergrund das
Anfallsleiden (Epilepsie), das hirnorganische Psychosyndrom sowie die inkomplette Halbseitenlähmung links und ggf. Einschränkungen
der Kniebeweglichkeit links stehen, sind nicht derart, dass der Kläger wegen seiner Leiden allgemein von öffentlichen Veranstaltungen
ausgeschlossen ist. Er ist weder durch seine Anfälle (der letzte war 2009) noch durch die Lähmung in Verbindung mit der Kniebeeinträchtigung
gehindert, solche Veranstaltungen aufzusuchen. Dies wird nicht nur durch die vorliegenden Rehabilitationsberichte und das
Pflegegutachten deutlich, wo beschrieben ist, dass der Kläger durchaus noch in der Lage ist, sich außerhalb der Wohnung aufzuhalten
und zu bewegen, vielmehr zeigt auch der Einkauf bei Läden wie z.B. der G. Tafel - die Berechtigung zum Einkauf ist ausweislich
des vorliegenden Ausweises (Blatt 15 der SG-Akte) alleine dem Kläger erteilt, eine grds. mögliche Bevollmächtigung ist auf dem Ausweis ausgeschlossen -, dass der Kläger
sich tatsächlich außerhalb der Wohnung bewegen und damit im Ergebnis auch Veranstaltungen aufsuchen sowie daran teilnehmen
kann. Eine medizinische Unmöglichkeit der Teilnahme an Veranstaltungen macht der Kläger in der Sache auch gar nicht geltend.
Vielmehr hat er angeführt, wegen der örtlichen Gegebenheiten von Straßen, Bauwerken und des ÖPNV nicht zu solchen Veranstaltungen
kommen zu können. Auch dass er mit Hilfe von Begleitpersonen nicht an den genannten Veranstaltungen teilnehmen kann, bestreitet
er nicht. Vielmehr hat er geltend gemacht, keine solchen Begleitpersonen - unentgeltlich - zur Verfügung zu haben.
Aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere dem Pflegegutachten aus dem Jahr 2012 (Blatt 52 bis 62 der Senatsakte)
sowie den Rehabilitationsberichten aus dem Jahr 2011 (Blatt 25 bis 32 der Senatsakte) sowie dem Jahr 2012 (Blatt 37 bis 42
der Senatsakte) ist ersichtlich, dass der Kläger in der Lage ist, gewisse Strecken - ggf. mit einem Stock - zu Fuß zurückzulegen
aber auch mit dem Rollstuhl mobil ist. Er ist damit nicht an die Wohnung "gefesselt" und kann - auch mit einer Begleitperson
(dazu ist ihm Merkzeichen "B" zuerkannt) - mit öffentlichen Verkehrsmitteln an Veranstaltungsorte gelangen sowie an Veranstaltungen
teilnehmen. Die vom Kläger umfänglich beschriebenen Schwierigkeiten, öffentliche Plätze, Geschäfte u.ä. wegen der örtlichen
und verkehrstechnischen Möglichkeiten zu erreichen, erschweren zwar dessen tatsächliche Möglichkeiten zum Besuch einer Veranstaltung,
begründen dagegen nicht die medizinische Unfähigkeit zum Besuch dieser Veranstaltungen, worauf es alleine ankommt. Auch die
Frage, ob dem Kläger tatsächlich eine unentgeltliche Begleitperson zur Verfügung steht, ist unerheblich. Vielmehr kommt es
darauf an, ob der Kläger allgemein wegen seines Leidens - auch unter Zuhilfenahme einer Begleitperson - Veranstaltungen aufsuchen
könnte. Dies ist aber vorliegend zu bejahen.
Soweit der Kläger geltend macht, anderen Personen, insbesondere der Tochter eines Sängers, sei das Merkzeichen "RF" zuerkannt
worden, so ist dies nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Zu beurteilen ist alleine, ob der Kläger die medizinischen
Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" erfüllt. Auch soweit der Kläger unter Nennung von Gruppen von Beziehern einzelner Sozialleistungen
- in der Sache hinweisend auf § 6 Abs. 1 RGebStV bzw. § 4 Abs. 1 RBStV - anführt, ihm stehe wegen Pflegeleistungen, Wohngeldbezugs
o.ä. das Merkzeichen "RF" zu, so folgt ihm der Senat nicht. Denn die Versorgungsverwaltung und die Sozialgerichte haben lediglich
über ein gesundheitliches Merkmal des Befreiungstatbestandes, nicht aber über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht
zu entscheiden (BSG 28.06.2000, B 9 SB 2/00 R, SozR 3-3870 § 4 Nr 26 = juris RdNr 14). Über die Befreiung bzw. Ermäßigung von den Rundfunkgebühren/Rundfunkbeiträgen entscheidet dagegen
alleine die zuständige Landesrundfunkanstalt, weshalb der Kläger nicht gehindert ist, dort unter Nachweis der in § 6 Abs.
1 RGebStV bzw. § 4 Abs. 1 bzw. Abs. 2 RBStV geforderten Umstände die Befreiung bzw. Ermäßigung der Gebühren bzw. Beiträge
zu beantragen.
2.) Der Kläger hatte auch keinen Anspruch auf Ausstellung eines Beiblattes mit kostenloser Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung
im öffentlichen Personennahverkehr.
Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend
gekennzeichneten Ausweises nach §
69 Abs.
5 SGB IX im Nahverkehr i.S.d. §
147 Abs.
1 unentgeltlich befördert. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist (§
145 Abs.
1 Satz 2
SGB IX). Diese Wertmarke wird entweder entgeltlich (§
145 Abs.
1 Satz 3 ff
SGB IX) oder unentgeltlich (§
145 Abs.
1 Satz 9
SGB IX) ausgegeben. Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 9 - bis 31.12.2012: Satz 5 -
SGB IX wird auf Antrag eine für ein Jahr gültige Wertmarke, ohne dass der Betrag nach §
145 Abs.
1 Satz 3
SGB IX in seiner jeweiligen Höhe zu entrichten ist, an schwerbehinderte Menschen ausgegeben, (1.) die blind im Sinne des § 72 Abs. 5 SGB XII oder entsprechender Vorschriften oder hilflos im Sinne des §
33b EStG oder entsprechender Vorschriften sind oder (2.) die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII, dem SGB VIII oder den §§ 27a und 27d BVG erhalten oder (3.) die am 01.10.1979 die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 und Abs. 3 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie
von anderen Behinderten im Nahverkehr vom 27.08.1965 (BGBl. I S. 978), das zuletzt durch Artikel 41 des Zuständigkeitsanpassungs-Gesetzes vom 18.03.1975 (BGBl. I S. 705) geändert worden ist, erfüllten, solange ein Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 70 festgestellt ist oder von mindestens
50 festgestellt ist und sie infolge der Schädigung erheblich gehbehindert sind; das Gleiche gilt für schwerbehinderte Menschen,
die diese Voraussetzungen am 01.10.1979 nur deshalb nicht erfüllt haben, weil sie ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt
zu diesem Zeitpunkt in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet hatten.
Der Kläger ist weder blind i.S.d. § 72 Abs. 5 SGB XII - Einschränkungen der Sehfähigkeit bestehen auf keinem Auge - noch unterfällt er, da er auch keine Leistungen nach dem BVG oder dem SGB VIII erhält, dem von §
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
3 SGB IX bezeichneten Personenkreis, der bereits am 01.10.1979 bestimmte Voraussetzungen erfüllen musste.
Der Kläger, dem das Merkzeichen "H" nicht zuerkannt ist, ist auch nicht hilflos i.S.d. §
33b EStG oder anderer entsprechender Gesetze (§
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
1 SGB IX). Hilflos in diesem Sinne ist nach §
33b Abs.
6 Satz 3
EStG eine Person, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen
Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe
in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu diesen Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd
geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§
33b Abs.
6 Satz 4
EStG). Bei den insoweit zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar
zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren.
Dazu zählen zunächst die auch von der sozialen Pflegeversicherung erfassten Bereiche der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden,
Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und
Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung).
Hinzu kommen Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistigen Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit
zu Interaktionen). Nicht vom Begriff der Hilflosigkeit umschlossen ist der Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen.
Was das Ausmaß des Hilfebedarfs anbelangt, ist davon auszugehen, dass die tatbestandlich vorausgesetzte "Reihe von Verrichtungen"
regelmäßig erst dann bejaht werden kann, wenn mindestens drei Verrichtungen in Rede stehen, die einen Hilfebedarf in erheblichem
Umfang erforderlich machen. Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Beschädigten nur noch
mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel wird dabei
neben der Zahl der Verrichtungen, auf den zeitlichen Aufwand und den wirtschaftlichen Wert der Hilfe im Rahmen einer Gesamtbetrachtung
abzustellen sein. Hierzu hat das BSG (12.02.2003, B 9 SB 1/02 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 1 = juris; LSG Berlin-Brandenburg 30.03.2003, L 11 SB 321/08, juris; Spiolek in GK-
SGB IX §
145 RdNr. 35 ff, 39) ausgeführt, dass ein täglicher Zeitaufwand - für sich genommen - erst dann als hinreichend erheblich anzusehen
sei, wenn dieser mindestens zwei Stunden erreiche oder jedenfalls eine Stunde übersteige und zusätzlich besondere Umstände
hinzukämen. Nicht berücksichtigt werde der Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung.
Zwar ist dem Kläger die Pflegestufe I i.S.d. §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB XI zuerkannt, doch überschreitet der dort festgestellte Hilfebedarf von 53 Minuten/Tag für die Grundpflege und 45 Minuten/Tag
für die hauswirtschaftliche Versorgung nicht die vom BSG angenommenen maßgeblichen Schwellenwerte (dazu vgl. BSG 12.02.2003, B 9 SB 1/02 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 1 = juris; LSG Berlin-Brandenburg 30.03.2003, L 11 SB 321/08, juris).
Der Kläger bezieht auch i.S.d. §
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
2 SGB IX nicht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII. Er bezieht vielmehr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach dem
SGB VI, Wohngeld nach dem WoGG von der Stadt R. und Pflegegeld nach dem
SGB XI von der Pflegekasse. Andere Sozialleistungen bezieht der Kläger ausweislich seines eigenen Vortrages nicht.
Keine der vom Kläger bezogenen Leistungen fällt unter den in §
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
2 SGB IX benannten Leistungskatalog. Nach der Rechtsprechung des BSG besteht zwar keine Veranlassung den Wortlaut der Vorschrift erweiternd dahin auszulegen, dass auch Nicht-Bezieher laufender
Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII erfasst sind (BSG 06.10.2011, B 9 SB 6/10 R, SozR 4-3250 § 145 Nr. 3 = juris RdNr. 18). Jedoch hat das BSG (aaO. RdNr. 19) - innerhalb der Wortlautgrenze - eine weite Auslegung des Begriffs "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen
nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" für angezeigt gehalten. Vom Begriff seien nicht nur Leistungen umfasst, die ihren Rechtsgrund allein im SGB XII hätten, sondern auch für den Lebensunterhalt laufende Leistungen, die in entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten
Kapitels des SGB XII an Personen erbracht würden, die Sozialhilfeempfängern im Wesentlichen gleichstünden. Die vom Kläger bezogene Erwerbsunfähigkeitsrente
sowie das Pflegegeld stellen keine Leistungen in diesem Sinne dar. Auch wenn im SGB XII Hilfen zur Pflege vorgesehen sind, so stammen diese aus dem Fünften Kapitel des SGB XII, nicht aus dem Dritten bzw. Vierten Kapitel dieses Gesetzbuches. Insoweit handelt es sich weder um laufende Leistungen für
den Lebensunterhalt, die in entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII erbracht werden, noch wird der Kläger durch den Bezug dieser Leistungen einem Sozialhilfeempfänger gleichgestellt.
Bei dem dem Kläger gezahlten Wohngeld handelt es sich zwar um eine laufende Leistung, die einem Teilbereich des Lebensunterhalts
- demjenigen des Wohnens - zu dienen bestimmt ist. Sie ist in gewisser Weise einkommens- und bedürftigkeitsabhängig und dient
neben der Förderung des Wohnungsbaus gemäß § 1 Abs. 1 WoGG der wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens, damit der Gewährleistung eines in materieller
Hinsicht menschenwürdigen Lebens (Schwerz, Wohngeldgesetz, Handkommentar, 4. Auflage, § 1 RdNr 2). Ob die Wohngeldleistung damit "nicht unbedingt formal, aber materiell-rechtlich dem "System des Sozialhilferechts"
zugewiesen" (so BSG aaO.) ist, kann vorliegend offen bleiben. Zwar kommt es nach der Rechtsprechung des BSG (aaO. RdNr. 32) nicht entscheidend auf die Zweckidentität einer Leistung hinsichtlich der Gewährleistung des Existenzminimums
an, vielmehr auf die Zuordnung des Personenkreises zum "System des Sozialhilferechts". Jedoch wird dadurch nicht entbehrlich,
dass es sich um Leistungen handeln muss, die zumindest in entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII gewährt werden (dazu vgl. BSG 06.10.2011, B 9 SB 7/10 R, BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr. 2 = juris). Mit diesem Erfordernis hat das BSG ausgeschlossen, dass es alleine darauf ankommt, ob die Leistung Sozialhilfecharakter hat. Maßgeblich ist vielmehr auch eine
direkte oder mittelbare Anknüpfung (zur analogen Anknüpfung vgl. BSG 06.10.2011, B 9 SB 7/10 R, BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr. 2 = juris) der bezogenen Leistung an die im Dritten bzw. Vierten Kapitel des SGB XII beinhalteten Vorschriften.
Von dieser direkten oder entsprechenden Anknüpfung an die Leistungen des Dritten oder Vierten Kapitels des SGB XII kann auch nicht für solche Leistungen abgesehen werden, die dem System der Sozialhilfe unterfallen oder sozialhilfeähnlich
sind. Denn die direkte oder entsprechende Anwendung der Vorschriften des Dritten oder Vierten Kapitels des SGB XII grenzt diejenigen Leistungen, und damit die Berechtigten nach §
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
2 SGB IX, von denjenigen Leistungen ab, die nicht zur Ausstellung einer kostenlosen Wertmarke i.S.d. § 145 Abs. 1 Satz 9 SGB Nr. 2
IX berechtigen. Würde darauf verzichtet, dass es sich um laufende Leistungen zum Lebensunterhalt handeln muss, deren Rechtsgrund
in direkt oder entsprechender Anwendung der Vorschriften des Dritten bzw. Vierten Kapitels des SGB XII liegt, ließe sich der Personenkreis der nach §
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
2 SGB IX berechtigten Personen nicht eingrenzen. Wie das BSG (06.10.2011, B 9 SB 6/10 R, SozR 4-3250 § 145 Nr. 3 = juris) deutlich gemacht hat, kommt es nämlich nicht alleine darauf an, dass die Person bzw. die von ihr bezogene
Leistung dem System der Sozialhilfe zuzuordnen ist. Vielmehr muss die Leistung entweder dem Dritten oder Vierten Kapitel des
SGB XII entspringen oder in ihrem Rechtsgrund auf diese Vorschriften Bezug nehmen, wie z.B. §
2 AsylbLG (dazu vgl. BSG 06.10.2011, B 9 SB 7/10 R, BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr. 2 = juris). Damit sind vom Anwendungsbereich des §
145 Abs.
1 Satz 9 Nr.
2 SGB IX jedenfalls diejenigen Leistungen ausgeschlossen, deren Rechtsgrundlagen weder im Dritten oder Vierten Kapitel des
SGB IX liegen noch deren Rechtsgrundlagen diese Vorschriften für entsprechend anwendbar erklären.
Das ist aber gerade beim Wohngeld nach dem WoGG der Fall. Denn Wohngeld nach dem WoGG ist selbst keine Sozialhilfeleistung i.S.d. Dritten bzw. Vierten Kapitels des SGB XII, es wird auch weder in direkter noch in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Dritten oder Vierten Kapitels des SGB XII gewährt; vielmehr schließt ein Leistungsbezug nach dem SGB II oder z.B. Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WoGG) oder Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 WoGG) Wohngeld aus. Damit hat und hatte der Kläger auch keinen Anspruch auf Erteilung einer entsprechenden Wertmarke.
Auch dass der Kläger eine Berechtigung hat, bei den Läden der G. Tafel einzukaufen, führt nicht dazu, dass er einem Bezieher
von Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII gleichsteht. Die Berechtigung wird vom Träger der Tafel nach eigenen Maßstäben erteilt. Diese binden aber den Träger der
Sozialhilfe oder den Beklagten nicht.
Damit war die Ablehnung der Ausstellung einer entsprechenden auf ein Jahr befristeten Wertmarke nicht rechtswidrig. Der Kläger
hatte in Folge dessen im Jahr der Antragstellung (2011) auch keinen Anspruch auf Erstattung der ihm für die Anschaffung der
entgeltlichen Wertmarke angefallenen Aufwendungen (60,00 EUR). Im Übrigen hätte der Kläger aus den dargestellten Gründen (dazu
siehe oben 2.) bei unveränderten Verhältnissen auch in den Jahren seither keinen Anspruch auf Ausstellung einer unentgeltlichen,
jeweils für ein Jahr gültigen Wertmarke i.S.d. §
145 Abs.
1 Satz 9
SGB IX gehabt, weshalb auch eine auf Verurteilung des Beklagten zur entsprechenden Ausstellung einer Wertmarke gerichtete Klage
- ungeachtet der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer solchen - in der Sache ohne Erfolg geblieben wäre.
Die Berufung war daher insgesamt zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.