Arbeitslosengeld II
Zugang eines Bescheides
Voraussetzungen der Bekanntgabefiktion
Ausgangsvermerk der Poststelle
1. Voraussetzung für das Eingreifen der Bekanntgabefiktion ist die Feststellung des Zeitpunktes, zu dem der maßgebende Verwaltungsakt
zur Post gegeben wurde.
2. Regelmäßig erfolgt die Dokumentation durch einen Vermerk in den Verwaltungsakten, wann der Bescheid zur Post gegeben worden
ist.
3. Fehlt ein entsprechender Vermerk über den Tag der Postaufgabe, tritt grundsätzlich keine Bekanntgabefiktion ein.
4. Dabei ist aber zu prüfen, ob es sich um einen Vermerk der Poststelle handelt, denn nur diese kann im Regelfall bestätigen,
wann das Schreiben an die Post übergeben worden ist.
5. Ein Vermerk eines Sachbearbeiters oder einer anderen Person, die das Schreiben nicht der Post übergeben hat, genügt hierfür
nicht.
Gründe
I.
Streitig ist die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Klägerin und ihre 2001 geborene Tochter beziehen aufgrund des Bescheides vom 12.05.2015 vorläufig Alg II für die Zeit
vom 01.06.2015 bis 30.05.2016. Wegen der Höhe der vom Beklagten für angemessen erachteten Unterkunfts- und Heizungskosten
legte die Klägerin Widerspruch ein. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.09.2015 zurück. Nachdem
die Klägerin bereits über die Notwendigkeit der Kostensenkung informiert worden sei, könne nunmehr nur die sich aufgrund eines
schlüssigen Konzeptes ergebenden angemessenen Unterkunfts- und Heizungskosten übernommen werden. Auf dem in der Akte sich
befindenden Widerspruchsbescheid ist oben rechts vermerkt: "abges: 17.09.15". Zudem ist eine Paraphe dort angebracht. Am 21.10.2015
hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben und die Zahlung der Unterkunfts- und Heizungskosten in der tatsächlichen Höhe geltend gemacht. Zudem hat sie die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) begehrt. Mit Beschluss vom 06.05.2016 hatte das SG den Antrag auf Bewilligung von PKH abgelehnt. Der Widerspruchsbescheid sei am 17.09.2015 zur Post gegeben worden, so dass
die Klagefrist am 21.09.2015 zu laufen begonnen und am 20.10.2015 (Dienstag) geendet habe. Damit sei die Klage verfristet
erhoben worden und es bestünde keine hinreichende Erfolgsaussicht für die Bewilligung von PKH. Zur Ergänzung des Tatbestandes
wird auf die beigezogene Akte des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) ist nicht begründet. Nach §
73a Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz i.V.m. §
114 Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht,
nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht
auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht
nicht überspannt werden. Es reicht für die Prüfung der Erfolgsaussicht aus, dass der Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit
für sich hat (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.1998 - B 13 RJ 83/97 R (Rn.26) - SozR 3-1500 § 62 Nr.19). Diese gewisse Wahrscheinlichkeit ist in aller Regel dann anzunehmen, wenn das Gericht
den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder
zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit des Obsiegens des PKH-Beantragenden ebenso wahrscheinlich
ist wie sein Unterliegen (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. §
73a Rn.7ff.). Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen sind nicht im PKH- Verfahren zu entscheiden, sondern müssen
auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.07.1993 - 1 BvR 1523/92 - NJW 1994, 241f). PKH muss jedoch nicht schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch
nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die
durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint
(vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 (Rn. 29) - BVerfGE 81, 347ff). Ist dies dagegen nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist
es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen der fehlenden Erfolgsaussichten
ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07 - NJW 2008, 1060ff). Vorliegend ist eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu verneinen. Unabhängig davon, ob der Widerspruchsbescheid
vom 16.09.2015 tatsächlich erst am 21.09.2015 beim Bevollmächtigten der Klägerin eingegangen ist, greift vorliegend § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht ein. Soweit sich der Beklagte und das SG auf die Fiktionswirkung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X stützen, geht diese Annahme nämlich fehl. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach Aufgabe zur Post
als bekanntgegeben. Unabhängig davon, dass dies nicht gilt, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt
zugegangen ist und im Zweifel die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat (§
37 Abs. 2 Satz 3 SGB X), fehlt es für den Eintritt der Fiktionswirkung bereits an Ermittlungen hinsichtlich des Tages der Aufgabe des Widerspruchsbescheides
vom 16.09.2015 zur Post. Voraussetzung für das Eingreifen der Bekanntgabefiktion ist die Feststellung des Zeitpunktes, zu
dem der maßgebende Verwaltungsakt zur Post gegeben wurde. Regelmäßig erfolgt die Dokumentation durch einen Vermerk in den
Verwaltungsakten, wann der Bescheid zur Post gegeben worden ist. Fehlt ein entsprechender Vermerk über den Tag der Postaufgabe,
tritt grundsätzlich keine Bekanntgabefiktion ein (vgl. BSG, Urteil vom 03.03.2009 - B 4 AS 37/08 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 15; Bayer. Landessozialgericht, Urteil vom 11.06.2015 - L 10 AL 159/14 m.w.N.). Vorliegend ist ein Vermerk angebracht. Dabei ist aber zu prüfen, ob es sich um einen Vermerk der Poststelle handelt,
denn nur diese kann im Regelfall bestätigen, wann das Schreiben an die Post übergeben worden ist. Ein Vermerk eines Sachbearbeiters
oder einer anderen Person, die das Schreiben nicht der Post übergeben hat, genügt hierfür nicht (Beschluss des Senates vom
11.03.2014 - L 11 AS 48/14 NZB, Urteil des Senates vom 16.01.2013 - L 11 AS 583/10; aber auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.04.2014 - L 6 AS 2145/12 B). Diesbezüglich sind somit hinreichende Erfolgsaussichten nicht von vornherein zu verneinen ebenso wie hinsichtlich der
Höhe der angemessenen Unterkunfts- und Heizungskosten. Es sind weitere Ermittlungen durch das SG dazu erforderlich, wer den Vermerk "abges" angebracht hat und gegebenenfalls in welcher Höhe Unterkunfts- und Heizungskosten
zu übernehmen sind. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zur Bewilligung von PKH ohne Ratenzahlung liegen aufgrund
der von der Klägerin gegenüber dem SG gemachten Angaben vor.
Nach alledem war der Beschluss des SG aufzuheben und der Klägerin für das erstinstanzliche Verfahren, in das auch die Tochter mit einbezogen werden sollte, PKH
ohne Ratenzahlung zu bewilligen.
Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar (§
177 SGG).