Arbeitslosengeld II und Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII
Vorläufige Bewilligung
Anordnungsanspruch eines EU-Ausländers
Ermessensreduzierung auf Null
Gründe
I.
Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes
(Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bzw. auf Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Der Antragsteller (Ast) ist rumänischer Staatsangehöriger und hält sich nach eigenen Angaben seit 06.11.2010 in der Bundesrepublik
Deutschland auf. Er war lediglich vom 01.07.2015 bis 30.09.2015 geringfügig beschäftigt und bezog hernach für sechs Monate
Alg II bis 31.03.2016 (Bescheide vom 22.10.2015, 29.11.2015, 03.12.2015 und 08.04.2016). Die restliche Zeit habe er ausschließlich
mit Hilfe sozialer Einrichtungen bestritten. Aussicht auf eine weitere Beschäftigung habe er nicht. Seinen am 25.02.2016 gestellten
Weiterbewilligungsantrag lehnte der Antragsgegner (Ag) mit Bescheid vom 06.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18.04.2016 ab. Nach Ausübung einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr bestehe lediglich für sechs Monate ein Anspruch
auf Alg II. Ein Daueraufenthaltsrecht stehe ihm mangels weniger als fünf Jahre dauernden, rechtmäßigen Aufenthaltes nicht
zu. Dagegen hat der Ast Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Bereits am 12.04.2016 hat der Ast beim SG einstweiligen Rechtsschutz begehrt. Das SG hat die Stadt A-Stadt (Beigeladene) mit Beschluss vom 25.04.2016 zum Verfahren beigeladen und diese nach deren Stellungnahme
und nach Auslegung des Begehrens des Ast mit Beschluss vom 06.05.2016 verpflichtet, vorläufig HLU in der gesetzlichen Höhe
für die Zeit vom 12.04.2016 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30.09.2016, zu
gewähren. Die Beigeladene habe die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Dagegen hat die Beigeladene Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben und die Aufhebung des Beschlusses des
SG begehrt. Der Ast hätte aufgefordert werden müssen, eine Bescheinigung über sein Daueraufenthaltsrecht vorzulegen. Im Übrigen
seien Leistungen nach dem SGB XII entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ausgeschlossen. Diesbezüglich zitiert die Beigeladene über mehrere Seiten wörtlich einen Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen
vom 07.03.2016 - L 12 SO 79/16 B ER. Im Übrigen habe die Beigeladene keinen Anlass zur Beantragung einstweiligen Rechtsschutzes
gegeben und im erstinstanzlichen Verfahren auch keinen Antrag gestellt. Eine Entscheidung durch sie sei auch nicht ergangen.
Mit der Auferlegung von Kosten durch das SG sei sie daher nicht einverstanden.
Für das Beschwerdeverfahren hat der Ast die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) begehrt.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Akte des Ag Bezug
genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG den Antrag des Ast auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung als einen Antrag nach §
86 b Abs.
2 Satz 1
SGG ausgelegt und diesem Antrag dahingehend stattgegeben, dass es die Beigeladene zur vorläufigen Leistung verpflichtet hat.
Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf das geltend gemachte Begehren zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes stellt für den vorliegenden Rechtsstreit §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG dar, denn der Ast begehrt die Bewilligung von Leistungen. Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn den Ast ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht
anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre
(so BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel/ Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. Rn. 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
- das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche
Anspruch, auf den der Ast sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 2 und
4 SGG i.V.m. §
920 Abs.
2, §
294 Zivilprozessordnung -
ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG 11. Aufl., §
86 b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes
sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen
Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich
unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde
Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen.
In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers
zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 - 1 BvR 2971/06-). In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend
geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das
Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend
geprüft werden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO; weniger eindeutig: BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12).
Vorliegend stehen solche existenzsichernden Leistungen in Streit. Dabei ist nach der trotz aller Kritik mittlerweile als gefestigt
anzusehenden Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 03.12.2012 - B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 59/13 R - sowie vom 16.12.2015 - B 14 AS 13/14 R -, bestätigt durch Urteil vom 20.01.2016 - B 14 AS 35/15 R - und zuletzt Terminsbericht 10/16 vom 17.03.2016 zu B 4 AS 32/15 R) aus rechtlicher Sicht ein Anordnungsanspruch gestützt auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII gegeben - auf die der Gesetzgeber auch bereits zu reagieren gedenkt -, wobei das BSG in den genannten Urteilen die Möglichkeit offen lässt, im Einzelfall von einer Ermessensreduzierung auf Null abzusehen. Nicht
erkennbar ist insgesamt, dass der Antragsteller nicht auf Dauer im Inland verweilen möchte oder die Ausländerbehörde bereits
konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthaltes eingeleitet hätte. Zu all diesem fehlt ein Vortrag der Beigeladenen - sie
zitiert lediglich wortwörtlich eine Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 07.03.2016 (L 12 SO 79/16 B ER) über mehrere
Seiten ohne auf bereits vorliegende Entscheidungen des unter anderem für sie zuständigen 18. Senates (Beschluss vom 14.03.2016
- L 18 AS 53/16 B ER) und des 16. Senates des BayLSG (Beschluss vom 25.04.2016 - L 16 AS 221/16 B ER) einzugehen - ebenso wie zu der als offen anzusehenden Frage, ob dem Ast aufgrund eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthaltes
in der Bundesrepublik Deutschland ggf. ein Anspruch gegen den Ag zusteht. Diese tatsächlichen Fragen können jedoch im Rahmen
des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht geklärt werden, sie sind im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens zu überprüfen.
Damit kann der Anordnungsanspruch vorliegend als offen angesehen werden. Vom Bestehen eines Anordnungsgrundes ist aufgrund
der Einkommenssituation des Ast auszugehen. Die daher vorzunehmende Folgenabwägung kann vorliegend nur zu Gunsten des Ast
ausfallen. Die Sicherstellung dessen physischer Existenz hat eindeutig Vorrang vor den rein monetären Interessen der Beigeladenen,
zumal diese - sollte sich ein fünfjähriger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Hauptsacheverfahren
ergeben - Rückgriff beim Ag nehmen könnte. Der vom SG vorgesehene Zeitraum hinsichtlich der vorläufig zu erbringenden Leistung erscheint auch zur Prüfung der Frage, ob ggf. ein
fünfjähriger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bestanden hat, als angemessen.
Zur weiteren Begründung wird auf die Ausführungen des SG im Beschluss vom 06.05.2016 gemäß §
142 Abs.
2 Satz 3
SGG Bezug genommen. Nach alledem war die Beschwerde der Beigeladenen zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden
Anwendung des §
193 SGG, wobei die Beigeladene bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu erkennen gegeben hat, dass sie einen Anspruch des Ast -
auch ohne entsprechenden Antrag und ohne entsprechende Verbescheidung - ablehnen wird. Dies hat sie bestätigt durch die Einlegung
der Beschwerde. Dem Ast ist für das Beschwerdeverfahren gem. §
73 a Abs.
1 SGG i.V.m. §§
114,
115,
119 Abs.
1 Satz 2,
121 Abs.
2 ZPO PKH ohne Ratenzahlung zu bewilligen. Er verfügt nach dem von ihm vorgelegten Fragebogen über seine persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse weder über Einkommen noch über Vermögen. Er kann daher die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen, die Rechtsverfolgung
bietet Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).