Beitragserstattung in der gesetzlichen Rentenversicherung; Fortgeltung des Deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommens
von 1968 in der Republik Bosnien und Herzegowina
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin ihre zur deutschen Rentenversicherung geleisteten Beiträge zu erstatten hat.
Die Klägerin ist 1950 in Bosnien-Herzegowina geboren und besitzt die entsprechende Staatsangehörigkeit. In der Zeit vom 04.03.1970
bis 31.03.1973 entrichtete sie aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigungen in Deutschland insgesamt 35 Rentenpflichtbeiträge
zur Rentenversicherung der Arbeiter. Im April 1973 kehrte sie in die Heimat zurück.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 11.02.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2002 lehnte die Beklagte den
Antrag der Klägerin vom 07.02.2002 auf Beitragserstattung im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Klägerin sei nach Art.3
Abs.1 des im Verhältnis zur Republik Bosnien und Herzegowina fort geltenden Sozialversicherungsabkommens zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien vom 12.10.1968 berechtigt, sich in der deutschen
Rentenversicherung freiwillig zu versichern (§
7 Abs.1 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch,
SGB VI). Damit seien die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beitragserstattung nach §
210 SGB VI nicht erfüllt.
Die hiergegen am 29.10.2002 zum Sozialgericht Landshut (SG LA) erhobene Klage begründete die Klägerin im Wesentlichen damit, dass sie keinen Anspruch auf eine deutsche Rente habe und
sie das Geld für eine Auswanderung nach Österreich benötige.
Nach entsprechender Anhörung der Beteiligten hat die 14. Kammer des SG LA die Klage durch Gerichtsbescheid vom 29.12.2004 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, das deutsch-jugoslawische
Abkommen finde durch Notenwechsel zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bosnien-Herzegowina
vom 13.11.1992 weiterhin Anwendung, so dass die Klägerin nach Art.3 Abs.1 des Abkommens über Soziale Sicherheit vom 12.10.1968
berechtigt sei, sich feiwillig zu versichern. Der Gerichtsbescheid ist der Klägerin am 17.01.2005 zugestellt worden.
Am 10.02.2005 ist beim SG LA ein Schreiben der Klägerin eingegangen, in dem sie mitgeteilt hat, dass sie aus sprachlichen Gründen den Inhalt des Gerichtsbescheides
nicht verstehe. Hierauf hat das SG mit Schreiben vom 28.02.2005 der Klägerin in bosnischer Sprache dargelegt, dass mit dem Gerichtsbescheid die Klage abgewiesen
worden sei und die Möglichkeit bestehe, hiergegen Berufung einzulegen. Ein Hinweis auf die in Kürze ablaufende Berufungsfrist
ist nicht erfolgt.
Am 24.10.2005 ist beim SG eine "Beschwerde" der Klägerin gegen die Entscheidung vom 29.12.2004 eingegangen, mit der sie ihr Unverständnis mit der ergangenen
Entscheidung zum Ausdruck gebracht und zugleich einen Antrag auf Rentengewährung gestellt hat.
Das SG hat jeweils mit Schreiben vom 21.11.2005 der Beklagten den Rentenantrag sowie dem Bayer. LSG die "Berufungsschrift" (erfasst
mit dem Az.: L 6 R 832/05) übersandt.
Mit Bescheid vom 07.12.2005 hat die Beklagte den Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung mit der Begründung abgelehnt, auf
die Wartezeit seien nur zwei Jahre und elf Monate anrechenbar.
Der Senat hat der Beklagten mit Schreiben vom 22.03.2006 mitgeteilt, dass der Klägerin Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten
Berufungsfrist zu gewähren sei, da sie mit Schreiben des SG keinen Hinweis auf die Berufungsfrist erhalten habe. Die Klägerin ist mit Schreiben vom 22.03.2006 darauf hingewiesen worden,
dass sie auch mit bosnischen Versicherungszeiten die Wartezeit noch erfüllen könne. Hierauf hat die Klägerin angegeben, dass
sie nach dem Krieg in Bosnien drei Jahre lang gearbeitet habe.
Im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.05.2006 hat der Senat das Verfahren
mit Beschluss vom 06.07.2007 ausgesetzt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 25.08.2008 (2 BvM 3/06) die Erledigung des Vorlagebeschlusses des BSG festgestellt hatte, hat der Senat dem Antrag der Beklagten entsprochen und
das Verfahren (unter dem neuen Az.: L 6 R 868/08) wieder aufgenommen.
Mit Schreiben vom 28.12.2010 hat die Beklagte schließlich mitgeteilt, dass der bosnische Versicherungsträger die in Bosnien
zurückgelegten Zeiten jetzt bestätigt habe, wodurch insgesamt 66 auf die Wartezeit anrechenbare Monate nunmehr anzuerkennen
seien.Mit weiterem Schreiben vom 28.07.2011 hat die Beklagte dargelegt, dass sich der gesamte Erstattungsbetrag auf 1.395,87
EUR belaufe und die monatliche Rentenanwartschaft derzeit 50,21 EUR betrage. Regelaltersrente könne die Klägerin ab 01.10.2015
beanspruchen.
Nach Ladung zur mündlichen Verhandlung ist am 23.08.2011 die schriftliche Mitteilung der Klägerin eingegangen, dass sie die
in deutscher Sprache abgefassten Schreiben der Beklagten und des Gerichts nicht verstehe. Zur mündlichen Verhandlung ist für
die Klägerin niemand erschienen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte, unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG Landshut vom 29.12.2004 und des Bescheides der Beklagten vom 11.02.2002
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2002, zu verurteilen, die in der Zeit von März 1970 bis März 1973 von ihr
entrichteten Rentenbeiträge zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen aus den hierin dargelegten Gründen für zutreffend.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie den der Akten des SG und des LSG Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Landshut vom 29.12.2004 ist zulässig, sachlich aber unbegründet.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin "ohne Verschulden" verhindert war, die Berufungsfrist von drei Monaten
nach Zustellung des angefochtenen Gerichtsbescheides einzuhalten. Denn auf ihr bereits am 10.02.2005 beim SG LA eingegangenes Schreiben wäre eine umfassende Belehrung, nicht nur zur Möglichkeit der Berufungseinlegung, sondern auch
zur Berufungsfrist, angezeigt gewesen. In ihrem weiteren am 24.10.2005 beim SG LA eingegangenen Schreiben kommt hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die Klägerin eine gerichtliche Überprüfung des Gerichtsbescheides
begehrt. Damit sind die Fristen des §
67 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), insbesondere auch die Jahresfrist des §
67 Abs.3
SGG, eingehalten. Einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und einer Entscheidung des Senats in der Hauptsache steht damit
- nach erfolgter Anhörung der Beteiligten - kein Hindernis entgegen (vgl. auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum
SGG, 9. A., §
67 Rdnr.18).
Die somit zulässige Berufung ist jedoch unbegründet. Denn zu Recht haben die Beklagte und das SG den in der Hauptsache erhobenen Anspruch auf Erstattung der Arbeitnehmeranteile verneint.
Gemäß §
210 Abs.1 Nrn.1 und 2, Abs.2 und Abs.3 Satz 1
SGB VI in der zum Antragszeitpunkt maßgebenden Fassung werden Versicherten Beiträge in der Höhe erstattet, in der sie diese getragen
haben (d.h. die Arbeitnehmeranteile), wenn seit dem endgültigen Ausscheiden aus der Versicherungspflicht 24 Kalendermonate
abgelaufen sind und die Versicherten nicht das Recht zur freiwilligen Versicherung haben oder die Regelaltersgrenze erreicht,
aber die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt haben.
Die Klägerin, die (nach wie vor die Regelaltersgrenze nicht erreicht und die allgemeine Wartezeit zudem erfüllt hat), ist
seit mehr als 24 Kalendermonaten aus der Versicherungspflicht ausgeschieden; sie ist jedoch zur freiwilligen Versicherung
berechtigt: Die in §§
7,
232 SGB VI geregelte Berechtigung zur freiwilligen Versicherung wird durch die Regelungen in einzelnen Sozialversicherungsabkommen ergänzt
(KassKomm-Wehrhahn, §
210 SGB VI Rdnr.6). Vorliegend ist das deutsch-jugoslawische Sozialversicherungsabkommen von 1968 maßgebend, da dieses Abkommen laut
Vereinbarung, die Deutschland mit Bosnien-Herzegowina getroffen hat, weiterhin Anwendung findet.
Die Fortgeltung des deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommens für die Republik Bosnien-Herzegowina wird nicht dadurch
ausgeschlossen, dass ein verbindlicher völkerrechtlicher Vertrag laut Vorlagebeschluss des 13. Senats des BSG vom 23.05.2006
(B 13 RJ 17/05 R) noch nicht vorliegt, solange die zwischenstaatliche Vereinbarung nicht in dem Verfahren nach Art.59 Abs.2 Satz 1
GG in innerstaatliches Recht transformiert worden ist. Dies gilt auch unter Beachtung des verfassungsrechtlich geregelten Gesetzesvorbehaltes
(Art.20 Abs.3
GG), in seiner konkreten Ausgestaltung durch §
31 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch,
SGB I. Denn für alle abgespaltenen Nachfolgestaaten der ehemaligen Föderativen Republik Jugoslawien hat sich ein entsprechendes
Völkergewohnheitsrecht (vgl. hierzu Vorlagebeschluss des 13. Senats des BSG vom 23.05.2006, aaO.) herausgebildet, wonach jedenfalls
das hier entscheidungserhebliche Sozialversicherungsabkommen - gegebenenfalls bis zum Abschluss eines neuen Sozialversicherungsabkommens
(wie z.B. mit Slowenien, Kroatien und Mazedonien) - Fortgeltung finden soll.
Der Senat hat keine verfassungsrechtlich (bzw. völkerrechtlich) begründeten Bedenken, eine entsprechende Fortgeltung des Sozialversicherungsabkommens
anzuerkennen. Denn die Grundsätze der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Berechenbarkeit erfordern gleichsam die sozialrechtliche
Kontinuität auch nach erfolgter Separation bzw. Dismembration (vgl. hierzu Vorlagebeschluss). Sowohl im Interesse der Vertragsstaaten
als auch ihrer Angehörigen ist die Fortgeltung der Vertragsbeziehungen und der entsprechenden innerstaatlichen Sozialgesetze
unerlässlich: Ein Automatismus dergestalt, dass durch eine Änderung der Verhältnisse eo ipso ein Gesetz obsolet würde ist
unserer Rechtsordnung fremd. Rechtsstaatliche Grundsätze erfordern in der Regel einen Aufhebungsakt, der unter Beachtung der
entsprechenden Formvorschriften - hier also des formellen Gesetzgebungsverfahrens - die bisherige Rechtslage rückgängig macht
bzw. den geänderten Verhältnissen anpasst. Insofern kann auch aus der Regelung des Art.
59 Abs.
2 Satz 1
GG nicht unmittelbar abgeleitet werden, dass die Fortgeltung eines verfassungsrechtlich ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes
nur dann anzunehmen sei, wenn es nach Änderung der Sachlage durch ein neues formelles Gesetz bestätigt oder ersetzt werde.
Darüber hinaus gebieten die Funktionsfähigkeit der neuen Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien, aber auch die Interessen
der betroffenen Versicherten, die kontinuierliche Fortgeltung der bisherigen Anspruchsgrundlagen. Entsprechende Eingriffe
in (eigentumsrechtlich geschützte) Anwartschaften sind wiederum nur unter dem Vorbehalt des Gesetzes möglich:
Das deutsch-jugoslawische Sozialversicherungsabkommen begründet in aller Regel rechtliche und wirtschaftliche Vorteile für
die betroffenen Versicherten bzw. Anspruchsberechtigten. Dies gilt im Übrigen auch hinsichtlich des erhobenen Anspruchs (§
123 SGG) auf Erstattung der Beiträge, die die Klägerin selbst getragen hat. Denn erstattet werden nur die Arbeitnehmeranteile; hierdurch
erlischt der Rentenanspruch aber insgesamt, also auch die Anwartschaft aus den Arbeitgeberanteilen (vgl. §
210 Abs.
6 Sätze 2 und 3
SGB VI). Diese gesetzliche Regelung verstößt nicht gegen das
Grundgesetz (vgl. hierzu z.B. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.06.1981, 1 BvR 445/81 - in SozR 2200 § 1303 Nr.19). Auch unter diesem Gesichtspunkt können die abgespaltenen Staaten der ehemaligen Förderativen
Republik Jugoslawien nicht daran interessiert sein, dass ihre Angehörigen sich im Ausland erworbene Rentenanwartschaften abgelten
lassen. Denn mittel- und längerfristig entlasten die vollen Ansprüche ihrer Bürger (d.h. aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen)
gegenüber dem ausländischen Versicherungsträger die Sozialkassen der neu gegründeten Staaten. Eine zum gänzlichen Verlust
der Rentenanwartschaft führende Erstattung nur des halben Beitragswertes ist letztendlich sowohl für den Staat als auch für
den Einzelnen nachteilig.
Aufgrund der fort geltenden Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen gemäß Art. 3 Abs. 1 des deutsch-jugoslawischen
Sozialversicherungsabkommens ist die Klägerin mithin zur freiwilligen Beitragsentrichtung nach wie vor berechtigt und die
Voraussetzungen für die Beitragserstattung gemäß §
210 SGB VI sind somit nicht erfüllt.
Der Klägerin ist unter den gegebenen Umständen anheim zu stellen, rechtzeitig vor Erreichung der Regelaltersgrenze (also spätestens
im Juni 2015) die Regelaltersrente zu beantragen. Nachdem zwischenzeitlich auch die Erfüllung der Wartzeit festgestellt worden
ist, kann die Klägerin von der Beklagten ferner eine Überprüfung des Ablehnungsbescheides vom 07.12.2005 gem. § 44 Sozialgesetzbuch,10.Buch,SGB X verlangen, wobei nach den vorliegenden Unterlagen eine Rentengewährung wegen Erwerbsminderung aufgrund der Nichterfüllung
der zusätzlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (mindestens 36 Pflichtbeiträge im 5-Jahreszeitraum vor Eintritt
des Leistungsfalls) weiterhin ausgeschlossen sein dürfte.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf §
193 SGG und folgt der Erwägung, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren unterlegen ist.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG sind nicht ersichtlich, zumal die im Vorlagebeschluss des BSG noch angesprochenen rechtlichen Probleme - bezogen auf die
Rechtsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Bosnien-Herzegowina - mittlerweile hinreichend erörtert, praxisbezogen
gelöst und gerichtlich entschieden worden sind.