Statthaftigkeit eines Antrags auf Aussetzung der Vollstreckung im sozialgerichtlichen Verfahren bei der gerichtlichen Zubilligung
einer Verletztenrente; nicht zu ersetzender Nachteil
Gründe:
I. In dem derzeit im Senat anhängigen Berufungsverfahren (Az.: L 2 U 300/11) ist streitig, ob bei dem Kläger und Berufungsbeklagten aufgrund eines Wegeunfalls vom 7. April 2006 eine Migration der Prothese
am linken Ellbogen, eine Muskelatrophie sowie ein Gelenkschnappen als weitere Unfallfolgen festzustellen und diesem hieraus
eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. zu bewilligen ist.
Prof. Dr. B. (Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik M.) kam in einem ersten Rentengutachten vom 15. März 2007 unter Einbezug
eines radiologischen Zusatzgutachtens zu dem Ergebnis, dass als Unfallfolgen eine regelrecht, ungelockert einliegende Radiusköpfchenprothese
linksseitig nach Radiusköpfchenmehrfachfraktur, eine ausgebliebene Heilung einer Radiusköpfchenmeißlfraktur Typ Mason I rechtsseitig
mit persistierender Spaltbildung und posttraumatischen Veränderungen im humero-radialen Gelenkanteil, eine Druckschmerzhaftigkeit
sowie eine Narbe über dem linken Radiusköpfchen nach Versorgung mit Prothese anzuerkennen seien. Die MdE betrage ab 14. Juni
2006 jedoch nur mehr 10 v.H.
Mit Bescheid vom 24. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2008 erkannte der Beklagte und
Berufungskläger als durch den Arbeitsunfall verursacht eine Radiusköpfchenmehrfragmentfraktur links und eine Radiusköpfchenmeißelfraktur
Typ Mason I rechts an. Die Gewährung einer Rente lehnte sie ab, da die MdE unter 20 v.H. liege.
Im hiergegen gerichteten Klageverfahren hat das Sozialgericht München ein Gutachten des Unfallchirurgen und Orthopäden Dr.
B. vom 4. Juni 2008 eingeholt, der die MdE aufgrund eines anzuerkennenden Trümmerbruchs des linken Radiusköpfchens mit endoprothetischem
Ersatz und einer folgenlos abgeheilten, nicht dislozierten Meißelfraktur des rechten Radiusköpfchens ab Oktober 2006 auf ebenfalls
10 v.H. eingeschätzt hat. Demgegenüber hat der gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) gehörte Orthopäde Dr. R. in seinem Gutachten vom 28. Oktober 2008 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 1. April 2009
die MdE aufgrund funktioneller Einschränkungen auf 20 v.H. eingestuft. Dabei sei auch eine sich bereits abzeichnende, radiologisch
beginnende Cranialisierung der Radiusköpfchenprothese nach humeral zu berücksichtigen.
Mit Urteil vom 5. Mai 2011 hat das Sozialgericht weitere Unfallfolgen festgestellt und dem Kläger in Abänderung der streitgegenständlichen
Bescheide eine Rente nach einer MdE um 20 v.H. zugesprochen. Es hat sich hierbei vor allem auf das Gutachten des Dr. R. gestützt.
Zur Begründung der hiergegen eingelegten Berufung hat der Beklagte auf das Gutachten des Dr. B. sowie eine Stellungnahme des
Beratungsarztes Dr. L. hingewiesen. Grundsätzlich sei bei einem künstlichen Gelenkersatz im Bereich der oberen Gliedmaßen
von einer MdE um 10 v.H. auszugehen. Dr. R. habe bei seiner MdE-Einschätzung erst mögliche künftige Verschlechterungen des
Unfallfolgezustandes mit berücksichtigt.
Der Senat ist in die weitere Sachverhaltsaufklärung eingetreten.
Gleichzeitig hat der Beklagte und Antragsteller am 21. Juli 2011 die Aussetzung der Vollziehung der Urteilsrente beantragt.
Für den Fall, dass der Kläger und Antragsgegner im Berufungsverfahren obsiegen sollte, würde dieser eine entsprechende Rentennachzahlung
nebst Verzinsung erhalten. Ihm würden insofern keine Nachteile entstehen. Mit Bescheid vom 28. Juli 2011 hat der Antragsteller
eine Urteilsrente zugesprochen.
Der Antragsgegner hat einer Aussetzung der Vollstreckung nicht zugestimmt.
II. Nach dem derzeitigen Stand des Verfahrens sind die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil
des Sozialgerichts vom 5. Mai 2011 nicht erfüllt. Der nach §
199 Abs.
2 SGG statthafte und zulässige Antrag ist nicht begründet. Bei pflichtgemäßer Abwägung der Interessen beider Beteiligter ist ein
nicht zu ersetzender Nachteil des Beklagten infolge der Zahlung der Rente als Urteilsrente nicht zu begründen.
Gemäß §
154 Abs.
2 SGG hat die von dem Beklagten als Versicherungsträger eingelegte Berufung nur insoweit aufschiebende Wirkung, soweit es sich
um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteil nachgezahlt werden sollen. Für die Zeit nach Erlass
des Urteils hat ein hierzu verurteilter Versicherungsträger die Rente, sog. Urteilsrente, zu zahlen. Wird das Ersturteil auf
Berufung oder Revision aufgehoben, hat der Kläger die vorläufigen Zahlungen wieder zurückzuerstatten. Nach §
199 Abs.
2 SGG kann der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats die Vollstreckung aus dem Urteil durch einstweilige Anordnung
aussetzen, soweit die Berufung - gemäß §
154 Abs.
2 SGG - keine aufschiebende Wirkung hat.
Die Entscheidung nach §
199 Abs.
2 SGG stellt eine Ermessensentscheidung (BSG vom 05.09.2001, Az.: B 3 KR 47/01 R) dar. In welcher Weise das Ermessen ausgeübt wird, wird dabei nicht näher definiert. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG, Beschluss vom 06.08.1999 - Az.: B 4 RA 25/98 B) sind über §
198 Abs.
1 SGG die Vorschriften der
Zivilprozessordnung (
ZPO) über die Vollstreckung heranzuziehen. Insbesondere ist §
719 Abs.
1 in Verbindung mit §
707 ZPO zu beachten. Danach ordnet das Gericht die Einstellung der Zwangsvollstreckung an, wenn die Vollstreckung dem Schuldner einen
nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und zwar ggf. auch dann, wenn ein überwiegendes Interesse des Gläubigers dem entgegen
steht. Der Vollstreckungsschuldner, hier der Beklagte, muss darlegen und glaubhaft machen, dass ihm durch die Vollstreckung
ein nicht zu ersetzender Nachteil entstehen würde, wenn auch ein überwiegendes Interesse des Vollstreckungsgläubigers, hier
des Klägers, der Aussetzung entgegen steht. Ein nicht zu ersetzender Nachteil liegt nur vor, wenn der durch die Vollstreckung
eingetretene Schaden nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht und nicht ausgeglichen werden kann (BSG, aaO.). Im Rahmen
der Ermessensausübung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs mit zu berücksichtigen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl., §
199 Rdnr. 8 m.w.N.).
Der Gesetzgeber geht damit davon aus, dass grundsätzlich nach dem Urteil eine sog. Urteilsrente zu zahlen ist. Soweit der
Antragsteller zur Begründung seines Antrags auf Aussetzung der Vollstreckung ausführt, dass bei Erfolglosigkeit der Beklagtenberufung
dem Antragsteller eine Rentennachzahlung nebst Verzinsung zusteht, betrifft dies die Ausnahme von der vom Gesetzgeber vorgesehenen
Regel. Auch wenn der Senat unterstellen würde, dass aus finanziellen Gründen nach gegenwärtiger Sichtweise eine Rückforderung
der vorläufig geleisteten Urteilsrente bei Erfolg der Berufung schwierig für den Beklagten ist, muss davon ausgegangen werden,
dass dem Gesetzgeber derartige Schwierigkeiten bekannt gewesen waren und er gleichwohl diese Rechtsfolge in Kauf nahm. Hinzu
kommt, dass nach der gegenwärtigen Gutachtenslage der Erfolg der Berufung ungewiss ist. Sowohl Antragsteller als auch -gegner
können für sich ein Gutachten anführen, auf das sich ihre unterschiedliche Bewertung schlüssig stützen lässt.
Die Interessen des Klägers an der laufenden Zahlung der Rente als Urteilsrente sind daher derzeit als höherwertig als die
des Beklagten einzuschätzen. Der Senat kann dabei offen lassen, ob bei Berufungen, die nach §
154 Abs.
2 SGG keine aufschiebende Wirkung haben, die Aussetzung nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht
auf Erfolg hat (BSGE 12, 138), auszusprechen ist.
Dem Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem mit der Berufung angefochtenen Urteil war daher nicht zu entsprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar; sie kann aber jederzeit aufgehoben werden (§
199 Abs.
2 S. 3
SGG).