Verletztenrente wegen Arbeitswegeunfall
Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden
Conditio-sine-qua-non
Beurteilung des Wirkungszusammenhangs
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin aufgrund der Folgen ihres Arbeits(wege)unfalls vom 02.09.2011 Anspruch auf
weitere Heilbehandlung über den 29.12.2011 hinaus und auf Verletztenrente hat.
Die 1961 geborene Klägerin war Angestellte der X GmbH in S.
Am Freitag, dem 02.09.2011, erlitt die Klägerin zwischen 15.00 und 15.15 Uhr auf dem Weg von ihrer Arbeitsstelle nach Hause
auf der R-Straße einen Verkehrsunfall. Sie musste an einer Kreuzung wegen entgegenkommenden Verkehrs anhalten, ein von hinten
kommender Pkw fuhr auf ihren stehenden Pkw auf.
Am Dienstag, den 06.09.2011, stellte sich die Klägerin beim Durchgangsarzt (D-Arzt) und Chirurgen Dr. H. vor. Dieser stellte
im Durchgangsarztbericht vom 06.09.2011 bei fehlenden äußeren Verletzungszeichen einen deutlichen Druckschmerz im Bereich
der paravertralen Muskulatur der Halswirbelsäule (HWS), einen Druck- und Klopfschmerz über den Spinae vertebralis der oberen
und mittleren HWS sowie eine schmerzhafte Einschränkung der Kopfbeweglichkeit fest, ohne neurologische Auffälligkeiten der
oberen Extremitäten. Er diagnostizierte nach Ausschluss von knöchernen Verletzungen im Röntgenbild eine HWS-Distorsion.
Wegen zunehmender Beschwerden veranlasste Dr. H. am 27.09.2011 ein MRT. Das zeigte laut radiologischem Befund eine partielle
retrophytär überbaute, breite mediolinkslaterale Prolapsbildung im Segment C 5/6 mit möglicher Irritation der zugehörigen
linken Nervenwurzel, ein Wirbelkörperhämangiom (Blutschwämmchen) im 7. Halswirbelkörper (HWK), aber kein Knochenmarködem,
keine Gefügestörung bei steilgestellter HWS, keine lokale Myelopathie und keinen Frakturnachweis bei unauffälligen Weichteilverhältnissen.
Arbeitsfähigkeit und das Ende der Behandlung stellte Dr. H. zum 01.10.2011 fest, bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) von 0 v.H ...
In einem weiteren Befundbericht vom 28.10.2011 nannte Dr. H. vermehrte Kopfschmerzen der Klägerin seit dem Unfall bzw. Schmerzen
vom Nacken in das Hinterhaupt ziehend sowie Wetterfühligkeit bei noch verspannter und druckschmerzhafter HWS-Muskulatur, Druck-
und Klopfschmerz über den Spinae vertebralis der unteren und mittleren HWS bei endgradig schmerzhafter, aber freier Bewegung
von Kopf und HWS. Am 07.12.2011 war bei anhaltenden Schmerzen im Nackenbereich mit Ziehen zum Hinterhaupt die HWS-Muskulatur
noch gering verspannt.
Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. G. vom 21.12.2011 ein. Anschließend lehnte sie mit Bescheid
vom 29.12.2011 einen Anspruch auf weitere Behandlungskosten bzw. einen Anspruch auf Verletztengeld ab 01.10.2011 ab. Nach
den Untersuchungen, insbesondere dem MRT vom 27.09.2011, seien Unfallverletzungen zwischenzeitlich folgenlos verheilt. Unfallbedingte
Verletzungen an Knochen, Knorpeln, Muskeln, Sehnen, Bändern oder sonstigen Weichteilen lägen nicht vor. Noch bestehende Beschwerden
seien mit Sicherheit auf degenerative Veränderungen bzw. Erkrankungen zurückzuführen.
Zur Begründung ihres Widerspruchs vom 03.01.2012, eingegangen am 04.01.2012, wies die Klägerin insbesondere auf seit dem Unfall
bestehende erhebliche Beschwerden bei extrem verhärteten Muskeln an Hals, Kopf und Oberkörper hin. Während sie vor dem Unfall
sportlich sehr aktiv gewesen sei, müsse sie nun teilweise schon nach 200 m wieder umdrehen, sei wie komplett ausgeschaltet,
spüre jeden Schritt wie einen Hammerschlag auf den Kopf, könne keine Gewichte über 3 kg tragen und habe Schluckbeschwerden
in Form von Muskelbeschwerden vorn am Hals. Sie bat um Prüfung, ob Kosten für wöchentliche Feldenkrais-Gymnastik übernommen
werden könnten. Mit Schreiben vom 12.02.2012 teilte die Klägerin eine Besserung mit und bot eine Rücknahme des Widerspruchs
an, wenn die Beklagte Kosten für Feldenkrais und das kinesiologische Taping übernehmen würde. Auf die vorgelegten Quittungen
und Unterlagen wird Bezug genommen. Mit Schreiben vom 10.05.2012 hat die Klägerin auf weiterbestehende Beschwerden hingewiesen;
so habe sie nach einer Gehzeit von einer bis eineinhalb Stunden nicht mehr richtig denken können und Nacken- und Kopfschmerzen
auch an den Folgetagen gehabt mit Einschränkung der Leistungsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 27.04.2012 übernahm die Beklagte 87,60 Euro Fahrtkosten zu Behandlungen.
Die Beklagte zog bildgebende Befunde und ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse bei und holte eine beratungsärztliche
Stellungnahme des Chirurgen Prof. Dr. H. vom 19.03.2012 ein. Dieser führte aus, dass im MRT keine Anzeichen für frische Verletzungen
an der HWS ersichtlich seien, angesichts fehlender Knochenmarködeme, fehlender Frakturnachweise und bei unauffälligen Weichteilverhältnissen
ohne Zeichen für Einblutungen. Der Bandscheibenprolaps im Segment C5/6 sei angesichts der retrophytären Überbauung nicht frisch.
Ein tatsächlicher Nachweis für die im Bescheid angenommene Halsweichteilzerrung gehe aus dem MRT nicht hervor; weitergehende
Verletzungen bestünden jedenfalls nicht.
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.05.2012 als unbegründet zurück.
Mit ihrer am 22.06.2012 beim Sozialgericht München (SG) erhobenen Klage (Az. S 23 U 328/12) hat die Klägerin einen Anspruch auf Übernahme weiterer Behandlungskosten geltend gemacht. Zur Begründung hat sie ausgeführt,
dass sie erst seit dem Unfall unter erheblichen Schmerzen an Kopf und Nacken, Geräuschphänomenen, Schwellungsgefühl in der
Gesichtsregion, Gedächtnisstörungen und Zervicobrachialgien mit Gefühlsstörungen in den Händen leide und schon der zeitliche
Zusammenhang für die Unfallkausalität spräche. Sie hat sich insbesondere auf ein kinetisch positionales MRT von Dr. F. vom
13.06.2012 gestützt.
Dr. F. hat zusammenfassend insbesondere einen deutlich links exzentrisch dezentrierten Dens axis in Neutralstellung festgestellt,
eine funktionell zunehmende Dezentrierung jeweils zur Gegenseite bei Kippung und Drehung als Ausdruck einer kraniozervikalen
Instabilität bei eingeschränkter Kopfgelenksbeweglichkeit, deutlich narbige Strukturveränderungen in den Ligamenta alaria
beidseits, densnah betonte Strukturauflockerungen und Bandverplumpungen sowie ein linksseitig narbig verdicktes, rechtsseitig
ausgedünntes Ligamentum transversum atlantis, narbig-fibrotische Veränderungen im Bereich der Densspitze mit begleitender
Verdickung der hinteren dentalen Kapselstrukturen und eine mittelgradig verschmälerte subarachnoidale Pufferzone. Diese Befundkonstellation
sei durchaus vereinbar mit einer posttraumatischen Verletzungsfolge nach Kopf-Hals-Trauma.
Mit Bescheid vom 07.08.2012 lehnte die Beklagte einen Anspruch der Klägerin auf Verletztenrente ab. Die Zerrung der HWS sei
folgenlos ausgeheilt. Nicht als Unfallfolgen anerkannt würden der Bandscheibenvorfall im Segment C 5/6 und das Wirbelkörperhämangiom
im Bereich des 7. HWK. Den auf das MRT von Dr. F. gestützten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte nach Einholung einer
beratungsärztlichen Stellungnahme von Prof. Dr. H. vom 21.08.2012 mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2012 als unbegründet
zurück. Zeitnah zum Unfall seien discoligamentäre Verletzungen im Bereich der HWS ausgeschlossen worden. Die These, dass geringfügige
Unfallereignisse zu isolierter Läsion der Ligamenta alaria führen könnten, sei eine Außenseitermeinung, die durch wissenschaftliche
Studien eindeutig widerlegt worden sei, wie der Beitrag von Prof. Dr. T. (MedSach 108 2/2012) zeige. Eine HWS-Zerrung ersten
Grades heile folgenlos aus und verursache auch unter Berücksichtigung der Verschlimmerung vorbestehender Leiden nur kurze
Behandlungsbedürftigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit.
Dagegen hat die Klägerin am 27.09.2012 eine auf Verletztenrente gerichtete weitere Klage beim SG erhoben (Az. S 23 U 566/12).
Das SG hat mit Beschluss vom 18.10.2012 die beiden Verfahren verbunden, bildgebende Befunde und die Akte der Y. Versicherung beigezogen
sowie Befundberichte der Neurologin Dr. v. B. vom 13.09.2012 und des Neurologen Dr. B. vom 11.09.2012 eingeholt. Diese haben
keine neurologischen Auffälligkeiten (z.B. hinsichtlich Reflexe, Hirnnerven, Sensibilität) feststellen können bei deutlichem
Muskelhartspann und Druckschmerz an den lokalen Ansatzpunkten. Sie haben ein chronisches Schmerzsyndrom, einen Z.n. HWS-Distorsion
sowie Verdacht auf somatoforme Störung und Panikattacken diagnostiziert. Die Klägerin hat u.a. Beschwerden nach längerem Gehen,
Einschränkungen bei sportlicher Betätigung, kognitive Einbußen mit Konzentrationsstörungen, Denkhemmung, plötzliche Blockadegefühle,
einen Tunnelblick und Panikattacken geschildert.
Die Beklagte hat sich auf eine beratungsärztliche Stellungnahme von Prof. Dr. H. vom 02.10.2012 und den Aufsatz von Prof.
Dr. Thomann "Distorsion der HWS und isolierte Verletzung der Ligamenta alaria" (MedSach 2012) berufen. Prof. Dr. H. hat insbesondere
dargelegt, dass das MRT keine Gefügestörung bei steilgestellter HWS gezeigt habe und sich aus dem MRT von Dr. F. keine andere
Beurteilung ergebe.
Die Klägerin hat einen Arztbrief des Neurologen und Psychiaters Dr. O. vom 06.11.2012 vorgelegt. Dieser hat Anhaltspunkte
für neurologische Symptome infolge craniozervikaler Irritation durch Dens axis verneint; ZNS-Symptome wie die geschilderten
Denkblockaden seien hier neurologisch nicht strukturell zu erklären. Dagegen sei der Befund vereinbar mit okzipitonuchalen
Schmerzen, zervicogenen Kopf- und Nackenschmerzen, eingeschränkter HWS-Beweglichkeit und erhöhtem paravertebralen Muskeltonus
sowie mit sekundären psychosomatischen Symptomen wie ängstliches Vermeidungsverhalten und sekundäre Schmerzverstärkung.
Das SG hat ein Gutachten des Orthopäden Dr. G. eingeholt, der nach ambulanter Untersuchung in seinem Gutachten vom 23.02.2013 als
Unfallverletzung eine fragliche geringgradige Zerrverletzung der HWS ohne nachweisbare strukturelle traumatische Schädigung
gesehen hat. Bereits vor dem Unfall hätten degenerative Veränderungen mit teilweise verknöchertem Bandscheibenvorfall im Segment
HWK 5/6 sowie ein anlagebedingtes Wirbelkörperhämangiom im 7. HWK bestanden. Nach dem Unfall habe auch nach Angaben der Klägerin
bei Untersuchung ein beschwerdefreies Intervall von einigen Tagen vorgelegen, mit zunächst Ziehen im Nacken und mit Beschwerdezunahme
etwa 14 Tage später mit Unwohlsein, Steifigkeit, Schlappheit, Antriebsarmut, Kopfschmerzen und Schwindel. Ausstrahlende Beschwerden
in die Extremitäten (z.B. Sensibilitätsstörungen, Schwäche in den Armen) hätten zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Das Erstschadensbild
vier Tage nach dem Unfall habe eine unspezifische HWS-Symptomatik gezeigt, ohne neurologische Ausfälle und ohne relevante
vegetative Begleitsymptomatik, im Sinne einer leichten Zerrung ohne schwerwiegendere - insbesondere discoligamentäre oder
knöcherne - Verletzungen. Auch das MRT vom 27.09.2011 habe keine Hinweise für diskoligamentäre weichteilige Verletzungen gezeigt,
sondern nur Hinweise auf vorbestehende Verschleißprozesse. Der Bandscheibenvorfall sei u.a. angesichts der teilweisen Verknöcherung
vorbestehend; solche Verknöcherungen könnten sich erst über etliche Monate entwickeln. Die MRT-Aufnahmen vom 13.06.2012 seien
gemeinsam mit der Radiologin Dr. H. ausgewertet worden. Dabei könnten die Veränderungen an den Ligamenta alaria bzw. des Ligamentum
transversum nicht als posttraumatisch gewertet werden; hier zeige sich lediglich eine physiologische Kaliberschwankung im
Bandverlauf bei unauffälligem atlantooccipitalen Übergang. Die beschriebene leicht asymmetrische Stellung des Dens axis sei
durchaus als Normvariante zu werten mit erkennbarem physiologischen Bewegungsspiel in den Funktionsaufnahmen. Eine Verletzung
von Ligamenta alaria sei nur bei zusätzlichen knöchernen und ligamentären Verletzungen zu erwarten mit dann ausgeprägter sofortiger
Symptomatik. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit könnten nur bis 30.09.2011 angenommen werden.
Es handele sich um eine HWS-Distorsion Grad 0-1 nach Schröter, die keine Arbeitsunfähigkeit erwarten lasse. Eine MdE lasse
sich bei fehlendem Nachweis struktureller Verletzungszeichen in der durchgeführten bildgebenden Diagnostik und der unspezifischen
unfallzeitpunktnahen Befunderhebung nicht ermitteln.
Der von der Klägerin zuerst als Sachverständiger nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) benannte und beauftragte, sie behandelnde Arzt für Naturheilverfahren Dr. A. hat wegen eigener Erkrankung um Entbindung
vom Gutachtensauftrag gebeten. Mit Stellungnahme vom 13.08.2013 hat er aber ausgeführt, dass die Beschwerden der Klägerin
-Schmerzen und generelle Leistungseinschränkung - wegen des MRT von Dr. F. als Unfallfolge zu würdigen seien. Die im MRT beschriebenen
Ligamentverletzungen seien typische Folgen von HWS-Schleudertraumen. Aufgrund dieser Instabilitäten könne es immer wieder
zu zentralen nervösen Störungen, medullären Symptomen, Kleinhirnirritation mit Mikrozirkulationsstörungen kommen; in der Literatur
würden diverse Symptome damit erklärt wie brennende oder ziehende Okzipitalschmerzen, Geruchsstörungen, Tinnitus und psychische
Störungen.
Vorgelegt worden sind ein weiteres kinetisch positionales MRT von Dr. F. vom 08.08.2013, das keinen Befundwandel im Vergleich
zum Vorbefund vom 13.06.2012 gezeigt hat, und ein Funktions-CT des craniocervikalen Übergangs des Radiologen Dr. F. vom 09.12.2013,
der eine für HWS-Beschleunigungsverletzungen typische funktionelle Störung der Kopf-Hals-Gelenke genannt hat. Folge eines
erhöhten Tonus der links am Atlas ansetzenden Muskulatur sei die Dezentrierung des Atlasrings gegenüber dem Dens nach links;
Folge weiterer muskulärer Fehlfunktionen seien eine Hypomobilität in den Atlanto-Ocipital- sowie Atlanto-Axial-Gelenken und
eingeschränkte Rotation in den C2/3- und C3/4-Gelenken.
Das SG hat auf Antrag der Klägerin ein Gutachten des Orthopäden und Unfallchirurgen Prof. Dr. W. gemäß §
109 SGG eingeholt. In seinem Gutachten vom 04.02.2014 hat Prof. Dr. W. eine posttraumatische Instabilität am cranocervicalen Übergang
bei cervicalem Syndrom auf den Unfall zurückgeführt. Diese Verletzungsfolgen würden sich einer normalen MRT-Untersuchung entziehen,
seien aber im Funktions-CT und in den positionalen Kernspintomographien nachgewiesen. Die klinische Instabilität könne nur
von einem erfahrenen manualtherapeutischen Arzt nachgewiesen werden, wie z.B. Dr. T ... Dagegen sei der Bandscheibenvorfall
knöchern überbaut und alt; er habe weder vor noch nach dem Unfall zu irgendwelchen Beschwerden geführt. Bei Untersuchung durch
Prof. Dr. W. hat die Klägerin nun angegeben, sie habe sofort nach dem Unfall Schmerzen im Bereich von Kopf und Nacken gehabt,
sei aber erst am Montag zum Hausarzt gegangen. Die Beschwerden hätten dann zwei Wochen nach dem Unfall zugenommen. Prof. Dr.
W. hat unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit für 12 Wochen angenommen, eine auf Dauer bestehende Behandlungsbedürftigkeit und
eine MdE in Höhe von 20 v.H.
Die Beklagte hat mit Stellungnahme vom 11.03.2014 eingewandt, dass der Beweis einer strukturellen Verletzung hier nicht im
Vollbeweis geführt werden könne, gestützt auf die beratungsärztliche Stellungnahme von Prof. Dr. H. vom 05.03.2014. Prof.
Dr. H. hat moniert, dass eine Verletzung im Vollbeweis nachgewiesen sein müsse, eine ligamentäre Instabilität nicht bewiesen
und ein cervicocephales Syndrom keine Diagnose sei. Die MdE von 20 v.H. werde nicht begründet; in der zitierten Literatur
von Rompe sei kein cervicocephales Syndrom erfasst. Das Gutachten orientiere sich am Rande der Schulmedizin.
Dr. G. hat in seiner vom SG eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 08.04.2014 dargelegt, dass schon fraglich sei, ob eine solche Aufprallwucht bestanden
habe, dass solche Verletzungen der Bänder eintreten könnten. Die Nachbefundung der Aufnahmen mit der erfahrenen Radiologin
hätten aber keinerlei Hinweise auf posttraumatische Veränderungen gezeigt, weder im Bereich der Ligamenta alaria noch im Bereich
des Ligamentum transversum, bei unauffälligem atlantooccipitalen Übergang und einer Normvariante mit leicht asymmetrischer
Position des Dens axis bei klar erkennbarem physiologischen Bewegungsspiel des Dens axis in den verfügbaren Funktionsaufnahmen.
Manualtherapeutische Befunde besäßen in Begutachtungen keinerlei aussagekräftige Reliabilität.
Die Klägerin hat einen Arztbrief ihres behandelnden Chirotherapeuten, Akupunkteur und Kinesiologen Dr. G. vom 24.01.2014 und
einen Bericht des Orthopäden und Chirotherapeuten Dr. T. vom 17.01.2014 vorgelegt. Dr. G. hat die Beschwerden - Konzentrations-
und Denkstörungen, Panikzustände, verstärkte Müdigkeit, Spannungskopfschmerz, allgemeine Muskelverspannung, Stirnkopfschmerz
- in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall gesehen, weil sie zuvor nicht vorhanden gewesen seien. Objektive neurologische
Befunde hätten nicht vorgelegen, aber rezidivierende zervikale und thorakale Muskelverspannungen und Wirbelsäulen- sowie Rippenblockaden,
die Spannungskopfschmerzen und Haltungsunsicherheit auslösen würden.
Dr. T. hat ausgeführt, dass die Beschwerden der Klägerin (u.a. Wortfindungsstörungen, hohe Empfindlichkeit auf Stress, Konzentrationsstörungen
etc.) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 02.09.2011 zurückgeführt werden könnten, da vor dem
Unfall Beschwerdefreiheit bestanden habe, konkurrierende Erkrankungen nicht bestünden und psychovegetative und kognitive Alterationen
mögliche Symptome einer Kopfgelenksstörung seien. Die funktionelle Bewegungsinstabilität mit Strukturunregelmäßigkeiten der
Kopfgelenksbänder und Funktionsstörung im funktionellen CT würden eine Bewegungsstörung der HWS belegen.
Prof. Dr. W. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.05.2014 an seiner Beurteilung festgehalten. Nachgewiesen seien
Instabilität und Bewegungsstörungen im Bereich der Kopfgelenke durch die eigene manualdiagnostische Untersuchung. Eine Harmlosigkeitsgrenze
für ein Trauma gebe es weder biomechanisch noch statistisch. Das cervicocephale Syndrom sei durchaus eine Diagnose und umfasse
vornehmlich Schmerzen, Degenerationen und posttraumatische Veränderungen der oberen HWS mit Ausstrahlung in den Kopf.
Das SG hat im Urteil vom 15.07.2014 sowohl die Klage auf Verletztenrente als auch die Klage auf weitere Behandlungskosten abgewiesen
und ist der Beurteilung von Dr. G. gefolgt. Die Klägerin habe zwar unfallbedingt eine Zerrverletzung der HWS Grad 0-1 nach
der Klassifikation von F. Schröter erlitten; diese sei aber spätestens zum 30.09.2011 ausgeheilt gewesen. Strukturelle Läsionen
im Bereich der HWS seien klinisch und bildgebend ausgeschlossen worden. Eine unfallbedingte Substanzschädigung könne weder
an Knochen, Bändern noch an Bandscheiben im Bereich der HWS begründet werden. Als ausschlaggebend hat das SG das zeitnah zum Unfall gefertigte MRT vom 27.09.2011 gesehen, das keinen Hinweis auf eine knöcherne oder discoligamentäre
Verletzung enthalte. Angesichts der leichten HWS-Distorsion Grad 0-1 nach Schröter ohne Nachweis struktureller unfallbedingter
Schäden sei die Beschwerdesymptomatik auf wenige Wochen begrenzt. Diese Qualifizierung entspreche auch dem zeitlich verzögerten
Auftreten der Beschwerden nach vier Tagen, der fehlenden Ausstrahlung in die Arme und der Zunahme psychovegetativer Beschwerden
in den darauffolgenden Wochen. Das Gutachten von Prof. Dr. W. überzeuge nicht. Dieser habe sich weder mit dem Gutachten von
Dr. G. auseinandergesetzt noch Stellung zu den gängigen Klassifikationen des Schweregrades von HWS-Distorsionen nach Schröter,
Erdmann oder Quebec Task Force (QTF) genommen, die alle nach den hier dokumentierten Erstbefunden höchstens einen Schweregrad
I bedingen würden, so dass keine rentenberechtigende MdE bestünde. Auf die Fachliteratur hat das SG hingewiesen. Unklar bleibe nach dem Gutachten von Prof. Dr. W., aus welchem Erstschaden die Instabilität als Unfallfolge
abgeleitet werde. Dr. T., auf den sich Prof. W. stütze, habe selbst dargelegt, dass ein sogenanntes Upright-Kernspintomogramm
noch keine Standarduntersuchung sei und die Objektivierung problematisch sei. Zudem gehe Prof. Dr. W. fälschlicherweise davon
aus, dass die Beklagte den Nachweis für andere Beschwerdeursachen führen müsse. Die Beweislast für das Vorliegen von Unfallfolgen
obliege jedoch der Klägerin, die hieraus Rechte ableiten wolle. Das SG hat darauf hingewiesen, dass die Feststellung von Unfallfolgen nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand zu erfolgen habe. Die herrschende Meinung gehe nach wie vor davon aus, dass für dauerhafte Schäden nach HWS-Distorsion
im Rahmen eines sogenannten Beschleunigungstraumas auch ein morphologisches Substrat bestehen müsse. Diesem Erkenntnisstand
entspreche das Gutachten von Dr. G., nicht aber das Gutachten von Prof. Dr. W ...
Gegen das am 11.08.2014 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 09.09.2014 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG)
eingelegt. Auf die Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 24.10.2014, vom 07.11.2014, vom 28.01.2015 und vom 04.03.2015
sowie das Schreiben der Beklagten vom 28.11.2014 wird verwiesen.
Im Wesentlichen hat der Klägerbevollmächtigte vorgetragen, dass im normalen MRT die Ligamente der Kopfgelenksebene nicht abgebildet
würden und insoweit die funktionellen Aufnahmen von Dr. F. und Dr. F. entscheidend seien. Prof. Dr. W. sei zu folgen. Beklagte
und SG würden sich ausschließlich auf die Meinung der Schulmedizin stützen und sich nicht mit der davon abweichenden Meinung von
immerhin vier Fachärzten auseinandersetzen. Die Manualtherapie sei keine Außenseitermethode. Zu Unrecht habe das SG Prof. Dr. W. eine Beweislastumkehr zugeschrieben. Die Reparaturkosten am Fahrzeug von insgesamt 6.840,75 Euro sprächen gegen
die Annahme nur kleinerer Blechschäden bzw. einer unwesentlichen Geschwindigkeitsänderung beim Unfall durch Dr. G ... Die
Klägerin habe sich auch nach dem 30.09.2011 medizinisch wegen Unfallfolgen behandeln lassen. Die MdE betrage wenigstens 20
v.H. auf Dauer. Auf die beigefügten Rechnungen zu Heilbehandlungskosten wird verwiesen.
Die Beklagte hat im Wesentlichen eingewandt, dass der Erstschaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen
sein müsse und der Ursachenzusammenhang zwischen Unfallereignis und Unfallfolgen positiv vom Sachverständigen festgestellt
werden müsse (BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R), auf Basis des neuesten Erkenntnisstandes der medizinischen Wissenschaft (BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R). Nach aktuellem Stand der medizinischen Wissenschaft könne eine HWS-Zerrung aber nicht zur isolierten Läsion der Ligamenta
alaria führen. Isolierte discoligamentäre Läsionen seien extrem selten und hier nicht nachgewiesen angesichts der Erstbefunde
ohne Hinweise für neurologische Ausfälle und angesichts des MRT vom 27.09.2011. Hier liege allenfalls eine Zerrung der HWS
mit Schweregrad 1 vor, was unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit längstens etwa einen Monat und keine
MdE in rentenberechtigender Höhe bedinge. Hier habe die Beklagte Behandlungsbedürftigkeit von fast vier Monaten akzeptiert.
Das Gutachten von Dr. G. sei schlüssig und stehe im Einklang mit der medizinischen Wissenschaft. Dr. F. vertrete eine Außenseitermeinung.
Sofern er eine Vereinbarkeit mit einer posttraumatischen Verletzungsfolge annehme, sei damit der Vollbeweis einer strukturellen
Läsion nicht erbracht. Außerdem sei mehr als acht Monate nach dem Unfall keine exakte zeitliche Zuordnung mehr möglich. Zu
den Behandlungskosten hat die Beklagte ausgeführt, dass diese außerhalb des anerkannten Behandlungszeitraums entstanden seien,
dass es für die Erstattung alternativer Behandlungsmethoden keine Rechtsgrundlage gebe, dass für Medikamente und Hilfsmittel
ärztliche Verordnungen erforderlich seien und dass die Erstattung bei Privatrechnungen nur in Höhe der Sätze nach UV-GOÄ erfolge. Generell ausgeschlossen seien das Seminar Feldenkrais-Methode, Wärmestofftiere, Bion-Pads sowie diverse Nahrungsergänzungsmittel,
Heilpraktiker und die Bioresonanztherapie.
In der mündlichen Verhandlung am 24.02.2016 hat die Klägerin nochmals den Unfallhergang geschildert und die Gutachten sind
mit den Beteiligten erörtert worden. Die Klägerin hat klargestellt, dass ärztliche Verordnungen hinsichtlich "Thermacare"
und dem Feldenkrais-Seminar nicht vorgelegen hatten.
Der Klägerbevollmächtigte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 15.07.2014 aufzuheben, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 29.12.2011
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.05.2012 zu verurteilen, weitere Behandlungskosten aus dem Arbeitsunfall vom
02.09.2011 entsprechend der im Berufungsverfahren vorgelegten Belege zu erstatten, und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides
vom 07.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2012 zu verurteilen, der Klägerin nach dem Arbeitsunfall
vom 02.09.2011 eine Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 v.H. zu gewähren.
Der Beklagtenvertreter beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und auf die Akte des
LSG Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
A) Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung erweist sich als unbegründet. Die Klägerin hat weder
Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 02.09.2011 noch auf weitere Heilbehandlung von Unfallfolgen
über den 29.12.2011 hinaus.
1. Die form- und fristgerecht erhobenen Klagen in Form der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß §
54 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG sind unbegründet, soweit die Beklagte im Bescheid vom 07.08.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2012
einen Anspruch der Klägerin auf Verletztenrente abgelehnt hat. Gemäß §
56 Abs.
1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Mindern die Folgen des Versicherungsfalles die Erwerbsfähigkeit
um wenigstens 10 v.H., besteht für den Versicherungsfall gemäß §
56 Abs.
1 Satz 2 und
3 SGB VII Anspruch auf Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundersätze zusammen
wenigstens die Zahl 20 erreichen. Nach §
56 Abs.
3 Satz 2
SGB VII wird bei einer MdE Teilrente in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente geleistet, der dem Grad der MdE entspricht.
Aus dem von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall der Klägerin vom 02.09.2011 resultieren aber über die 26. Woche hinaus
nach Überzeugung des Senats keine Unfallfolgen, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) begründen.
Gesundheitsstörungen, die wesentlich durch das Unfallereignis (mit-) verursacht worden sind, sind als Gesundheitserstschäden
Tatbestandsvoraussetzung eines Arbeitsunfalls nach §
8 Abs.
1 SGB VII. Unfallfolgen wiederum sind Gesundheitsstörungen, die wesentlich durch diese unfallbedingten Gesundheitserstschäden verursacht
worden sind.
Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheits(erst)schaden sowie für die Kausalität zwischen Gesundheits(erst)schaden
und weiteren Gesundheitsschäden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG vom 17.02.2009 - B 2 U 18/07 R - [...] RdNr. 12), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis
Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Die versicherte
Verrichtung muss also eine Wirkursache (ggf. neben anderen Wirkursachen) der Einwirkung, die Einwirkung muss eine Wirkursache
(ggf. neben anderen Wirkursachen) des Gesundheitserstschadens und der Gesundheitserstschaden muss (ggf. neben anderen Wirkursachen)
für die Unfallfolgen sein (vgl. hierzu BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R - [...] RdNr. 56). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum
Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.
Welche Ursache wesentlich ist, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum
Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (vgl. BSG vom 17.02.2009 - B 2 U 18/07 R - [...] RdNr. 12). Außerdem gründet die Beurteilung auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Ursachenzusammenhängen
zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten (vgl. BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - [...] RdNr. 17). Gesichtspunkte für die Beurteilung sind neben der versicherten Ursache als solcher, einschließlich Art
und Ausmaß der Einwirkung, u.a. die konkurrierende Ursache (nach Art und Ausmaß), der zeitliche Ablauf des Geschehens, das
Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte
(vgl. BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - [...] RdNr. 16).
Für die Beurteilung eines Wirkungszusammenhangs reicht ein bloßer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang nicht aus; vielmehr
ist der jeweils neueste anerkannte Stand des einschlägigen Erfahrungswissens als Maßstab für die objektive Kausalitätsbeurteilung
zugrunde zu legen (vgl. BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R - [...] RdNr. 61). Dies wird in der Regel die Auffassung der Mehrheit der im jeweiligen Fachbereich veröffentlichenden Wissenschaftler/Fachkundigen
eines Fachgebiets sein. Lässt sich eine solche "herrschende Meinung" nicht feststellen, so darf der Richter nicht als Schiedsrichter
im Streit einer Wissenschaft fungieren und selbst eine (von ihm anerkannte) Ansicht zur maßgeblichen des jeweiligen für ihn
fachfremden Wissenschaftsgebietes erklären (vgl. BSG ebenda). Vielmehr kommt, falls auch durch staatliche Merkblätter, Empfehlungen der Fachverbände etc. kein von den Fachkreisen
mehrheitlich anerkannter neuester Erfahrungsstand festgestellt werden kann, eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen in
Betracht (vgl. BSG ebenda unter Abgrenzung zum Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - [...] RdNr. 18).
Ausgangsbasis der richterlichen Erkenntnisbildung über wissenschaftliche Erfahrungssätze sind auch bei Fragen der objektiven
Verursachung Fachbücher und Standardwerke insbesondere zur Begutachtung im jeweiligen Bereich, Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft
der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und andere wissenschaftliche Veröffentlichungen (vgl. hierzu
BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R - [...] RdNr. 68). Grundlegende und fundierte Zweifel seitens der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen
Fachwissenschaftler können einem wissenschaftlichem Erkenntnisstand den Boden entziehen; einzelne Gegenstimmen sind dazu aber
nicht geeignet (vgl. hierzu auch BSG vom 23.04.2015 - B 2 U 10/14 R - [...] RdNr. 22).
Soweit der Klägerbevollmächtigte moniert hat, die Beurteilung von SG und Beklagter stütze sich ausschließlich auf die Meinung der "Schulmedizin", ist folglich ausdrücklich darauf hinzuweisen,
dass sich die Beurteilung der Ursachenzusammenhänge nach der BSG-Rechtsprechung auf die herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung zu den Ursachenzusammenhängen stützen muss und damit auf
die Ansicht der Mehrheit der im Fachbereich veröffentlichen Wissenschaftler (vgl. hierzu bereits das Urteil des Senats vom
08.02.2012 - L 2 U 80/10 - [...] RdNr. 66).
Hinsichtlich des Beweismaßstabes ist zu beachten, dass das Vorliegen eines Gesundheits(erst)schadens bzw. eines Gesundheitsfolgeschadens
(Unfallfolgen) im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen
muss, während für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitserst-
bzw. -folgeschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit genügt (vgl. BSG vom 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R - [...] RdNr. 16).
Der Senat schließt sich der Einschätzung des SG an, dass das Unfallereignis am 02.09.2011 bei der Klägerin lediglich eine leichte HWS-Zerrung Grad 0-1 nach Schröter bzw.
Grad 1 nach Erdmann oder Quebec Tasc Force verursacht hat. Der Senat nimmt auf die entsprechenden Ausführungen im SG-Urteil Bezug, die auf das Gutachten von Dr. G. unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Literatur wie Schönberger /
Mehrtens / Valentin, "Arbeitsunfall und Berufskrankheit" 8. Auflage Bl. 465 ff. sowie den Aufsatz von Thomann (MedSach 2012)
gestützt sind.
Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Weitergehende Gesundheitserstschäden über eine leichte Zerrung der HWS-Muskulatur
bzw. eine solche HWS-Distorsion Grad 1 hinaus sind nach den vorliegenden Unterlagen und Gutachten nicht mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Weder sind Bandverletzungen im Bereich der Ligamenta alaria bzw. des Ligamentum
transversum im Vollbeweis nachgewiesen noch eine krankheitswertige Asymmetrie des Dens axis bzw. eine Gefügestörung.
Dr. G. hat schlüssig und überzeugend dargelegt, dass weder Erstschadensbild noch Beschwerdeverlauf noch bildgebende Befunde
einschließlich des von Dr. F. gefertigten MRT vom 13.06.2012 - allein oder in der Gesamtschau - entsprechende Gesundheitsstörungen
belegen.
So hat das Erstschadensbild am 06.09.2011 - vier Tage nach dem Unfall - laut Dr. G. eine unspezifische HWS-Symptomatik gezeigt,
keine neurologischen Ausfälle und keine relevante vegetative Begleitsymptomatik, im Sinne einer leichten Zerrung ohne schwerwiegendere
- insbesondere discoligamentäre oder knöcherne - Verletzungen. Ausstrahlende Beschwerden in die Extremitäten wie Sensibilitätsstörungen,
Schwäche in den Armen oder Ähnliches haben, wie Dr. G. unter Auswertung der vorliegenden Befunde schlüssig dargelegt hat,
zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Diese Einschätzung stimmt im Übrigen auch mit derjenigen der von der Klägerin aufgesuchten
Neurologen Dr. v. B., Dr. B. und Dr. O. überein.
Auch das MRT vom 27.09.2011 hat - wie schon vom Radiologen im Befund ausgeführt - keine Hinweise für knöcherne, diskoligamentäre
oder weichteilige Verletzungen, Einblutungen, Knochenmarködeme oder Gefügestörungen gezeigt. In der Beurteilung, dass das
Wirbelkörperhämangiom im 7. Halswirbelkörper und der Bandscheibenvorfall im Segment C5/6 angesichts der bereits erfolgten
knöchernen Überbauung keine Folgen des Unfalls vom 02.09.2011 sind, stimmen die Sachverständigen im Übrigen nachvollziehbar
überein.
Unter Auswertung der MRT-Aufnahmen vom 13.06.2012 gemeinsam mit der Radiologin Dr. H. hat Dr. G. lediglich physiologische
Kaliberschwankungen im Bandverlauf, aber keine Hinweise für posttraumatische bzw. unfallbedingte Verletzungen an den Ligamenta
alaria bzw. des Ligamentum transversum feststellen können, bei unauffälligem atlantooccipitalen Übergang und einer im Normbereich
liegenden leichten asymmetrischen Stellung des Dens axis mit erkennbarem physiologischen Bewegungsspiel in den Funktionsaufnahmen.
Überzeugend hat Dr. G. ausgeführt, dass die Verletzung eines Ligamentum alaria nur bei zusätzlichen knöchernen und ligamentären
Verletzungen zu erwarten ist, mit dann ausgeprägter sofortiger Symptomatik, während bei der Klägerin auch nach ihren eigenen
Angaben bei Untersuchung durch Dr. G. ein beschwerdefreies Intervall von einigen Tagen vorgelegen hat. Während dann laut Klägerin
zunächst ein Ziehen im Nacken aufgetreten war, haben die Beschwerden etwa vierzehn Tage nach dem Unfall zugenommen, mit Unwohlsein,
Steifigkeit, Schlappheit, Antriebsarmut, Kopfschmerzen und Schwindel. Der Crescendoverlauf mit Zunahme der Beschwerden ca.
zwei Wochen nach dem Unfall, den auch Prof. Dr. W. beschreibt und der sich in den zeitnahen Berichten von Dr. H. u.a. vom
27.09.2011 wiederfindet, spricht aber gegen den Unfall als wesentliche Teilursache der Beschwerden. Eine progrediente Beschwerdesymptomatik
mit Crescendo-Charakter ist innerhalb der ersten 48 Stunden möglich, danach spricht sie gegen eine organische Verursachung
(vgl. SMV Bl. 463; auch Lang u.a., Leitlinie zur Begutachtung der Halswirbelsäulendistorsion, 2008, a.a.O.; vgl. zum symptomfreien
Intervall von max. 48 Stunden für Schweregrad 1 nach Erdmann auch Tegenthoff u.a., Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie, Beschleunigungstrauma der HWS, Stand 2012, veröffentlicht unter www. awmf.org).
Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, dass eine bloße Vereinbarkeit der Befundkonstellation mit einer "posttraumatischen" Verletzungsfolge
nach Kopf-Hals-Trauma - so die Aussage von Dr. F. im Befund zum funktionellen MRT vom 13.06.2012 - als Nachweis für Bandzerreißungen
nicht ausreicht.
Dass nach derzeit herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung funktionelle bildgebende Befunde keine wesentlichen Erkenntnisse
bei einem Beschleunigungstrauma der HWS erbringen, ergibt sich auch aus der aktuellen Leitlinie der DGN (Tegenthoff u.a. a.a.O.),
wonach im Rahmen der Diagnostik solche funktionellen bildgebenden Befunde (z.B. funktionelles MRT) ausdrücklich nicht empfohlen
werden. Ferner wird in dieser Leitlinie dargelegt, dass früher Verletzungen der Ligamenta alaria überbewertet worden sind.
Vor diesem Hintergrund überzeugen die Ausführungen von Prof. Dr. W. den Senat nicht, der aus den funktionellen bildgebenden
Befunden Bänderverletzungen mit daraus resultierender anhaltender Instabilität ableitet. Ergänzend ist darauf hinzuweisen,
dass Beschwerden wie ausgeprägte Muskelverspannungen, Druckschmerzen und (verspannungsbedingte) Bewegungseinschränkungen (Hypomobilität)
keineswegs nur bei HWS-Schleudertraumata auftreten, sondern ebenso bei degenerativen HWS-Beschwerden auftreten können und
bei der Klägerin auch nach Prof. Dr. W. - altersentsprechende - degenerative Veränderungen der HWS vorliegen mit Osteochondrose,
Spondylose und Spondylarthrose sowie ein alter Bandscheibenvorfall im Bereich C 5/6. Soweit daher Dr. F. im Befund seines
Funktions-CT vom 09.12.2013 auf eine Dezentrierung des Atlasrings nach links als Folge eines erhöhten Muskeltonus der links
am Atlas ansetzenden Muskulatur und mäßiggradige Hypomobilitäten der HWS hinweist, lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf
die Ursache dieser mit Bewegungseinschränkungen einhergehenden Muskelverspannungen ziehen. Ebensowenig legt Dr. G. dar, warum
rezidivierende zervikale und thorakale Muskelverspannungen und Wirbelsäulen- sowie Rippenblockaden auf das Jahre zurückliegende
Unfallereignis als wesentliche Teilursache zurückzuführen sein sollen. Dass das sogenannte "cervicocephale Syndrom" lediglich
eine unspezifische Umschreibung für Beschwerden im Bereich von HWS und Kopf darstellt, aber keine Diagnose, die Rückschlüsse
auf die Genese zulässt, räumt Prof. Dr. W. letztlich selbst ein, wenn er in seiner ergänzenden Stellungnahme ausführt, dass
dieses Syndrom vornehmlich Schmerzen, Degenerationen (!) und posttraumatische Veränderungen der oberen HWS mit Ausstrahlung
in den Kopf erfasst.
Die Begründung eines Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfall vom 02.09.2011 und den breit gefächerten Beschwerden der Klägerin
- von Muskelverspannungen bis hin zu Wortfindungsstörungen - in den Ausführungen von Prof. Dr. W., Dr. A., Dr. G. und Dr.
T. erschöpft sich im Wesentlichen in der Feststellung, dass die Beschwerden zeitlich nach dem Unfall aufgetreten sind, dass
ein gewisser Prozentsatz von Menschen aus nach wie vor letztlich ungeklärten Gründen zeitlich nach HWS-Distorsionen chronische
Beschwerden entwickelt und auf die Beschaffenheit von Bändern und Gelenken der Klägerin, die sich allerdings - wie dargelegt
- im Normbereich befinden und auf Basis der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht als Ursache für anhaltende Beschwerden
anzuerkennen sind. Dabei setzen sich Prof. Dr. W., Dr. A., Dr. G. oder Dr. T. insbesondere nicht mit der Crescendo-Problematik
der Beschwerden auseinander. Soweit der Arzt für Naturheilverfahren Dr. A. auf zentrale nervöse Störungen oder Symptome mit
Kleinhirnirritation aufgrund von Instabilitäten hinweist, ist festzuhalten, dass von Fachärzten nie entsprechende neurologische
Auffälligkeiten festgestellt worden sind.
Damit sind zur Überzeugung des Senats über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus keine wesentlichen Unfallfolgen mehr nachgewiesen.
Die über diesen Zeitpunkt hinaus bestehenden Beschwerden lassen sich in Übereinstimmung mit Dr. G. und Prof. Dr. H. nicht
mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 02.09.2011 bzw. die leichte Zerrung im Bereich der HWS als wesentliche
Teilursache zurückführen.
2. Auch die auf Erstattung weiterer Heilbehandlungskosten gerichtete Klage erweist sich als unbegründet.
Nach §
26 Abs.
1 Satz 1
SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Heilbehandlung von Folgen eines Versicherungsfalls (vgl. §
26 Abs.
2 Nr.
1 SGB VII, hierzu BSG vom 20.03.2007 - B 2 U 38/05 R - [...] RdNr.15). Dabei bestimmt der Unfallversicherungsträger nach §
26 Abs.
5 Satz 1
SGB VII Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen (vgl. BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 21/10 R - [...] RdNr. 16 m.w.N.: BSG vom 22.03.2011 - B 2 U 12/10 R - [...] RdNr.
20 f.). Die Leistungen sind nach §
26 Abs.
4 Satz 2
SGB VII als Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und als "Naturalleistung" zu gewähren, sofern nicht Ausnahmen im
SGB VII oder
SGB IX ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. BSG vom 20.03.2007 - B 2 U 38/05 R - [...] RdNr. 13). Eine Kostenerstattung wie hier für selbst beschaffte Leistungen zur Heilbehandlung findet allein unter
den Voraussetzungen von §
13 Abs.
3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) statt, der angesichts der Regelungslücke hinsichtlich der Kostenerstattung entsprechend anwendbar ist (vgl. BSG ebenda).
Die Beklagte hat aber weder eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht noch hat sie eine notwendige Leistung
zu Unrecht abgelehnt, so dass der Klägerin dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Wie bereits dargelegt hat die Klägerin aufgrund des Unfalls vom 02.09.2011 nur eine leichtgradige HWS-Zerrung maximal Grad
1 nach Schröter erlitten, ohne Begleitverletzungen im Bereich Knochen, Bändern oder Weichteilen. Vor diesem Hintergrund hat
Dr. G. eine unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin nur bis 30.09.2011 festgestellt. Die Klägerin hat daher keinen
Anspruch auf Heilbehandlung von Unfallfolgen über die bereits bis 29.12.2011 bewilligten Ansprüche hinaus und infolgedessen
auch keinen Erstattungsanspruch von Heilbehandlungskosten. Beschwerden, die über diesen Zeitraum hinaus bestehen, lassen sich
nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall bzw. die HWS-Distorsion als wesentliche Teilursache zurückführen.
Die abweichende Einschätzung von Prof. Dr. W. beruht auf der unzutreffenden Annahme weiterer Unfallfolgen und überzeugt daher
auch insoweit nicht.
Ferner besteht schon mangels ärztlicher Verordnung kein Anspruch auf Kostenerstattung für die bis 29.12.2011 verwendeten Thermacare
Wärmeauflagen bzw. Wärmeumschläge oder das Seminar Feldenkrais-Methode. Dabei kann der Senat offenlassen, ob Thermacare Wärmeauflagen
bzw. Wärmeumschläge, bei denen Wärme durch Oxidation bestimmter Substanzen mit Luftsauerstoff nach Entnahme aus der Verpackung
erzeugt wird, Arznei- oder Verbandsmittel i.S.v. §
29 SGB VII sind, und ob ein Seminar zur Feldenkrais-Methode, das vorrangig der verbesserten Selbstwahrnehmung und Körpererfahrung unter
Anleitung eines Lehrers dient, die Voraussetzungen für ein Heilmittel i.S.v. §
30 SGB VII erfüllt. Denn nach §§
29,
30 SGB VII setzt ein Anspruch eine ärztliche Verordnung voraus, die hier fehlt.
B) Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
C) Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.