Anerkennung einer Nierenerkrankung als Berufskrankheit in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Anerkennung seiner Nierenerkrankung als Berufskrankheit nach der Ziffer 1302 der
Berufskrankheitenverordnung -
BKV - (Erkrankungen durch Halogen-Kohlenwasserstoffe).
Der 1963 geborene Kläger arbeitete seit 01.07.1986 bei der Firma W. in B. als Chemiewerker. Die Beklagte leitete am 07.10.2005
Ermittlungen wegen des Verdachts auf eine beruflich bedingte Nierenerkrankung ein. Sie holte Befundberichte der behandelnden
Ärzte, insbesondere des Dialysezentrums P., sowie einen Leistungsauszug der AOK Bayern ein. Der Arbeitgeber des Klägers übersandte
eine Aufstellung der Messergebnisse der Stoffe, mit denen der Kläger bei seiner beruflichen Tätigkeit in Kontakt gekommen
war. Hier kam es insbesondere in den Jahren 1986 bis 1990 verstärkt zu Kontakt mit halogenierten Kohlenwasserstoffen. Ein
Kontakt zu Kohlenwasserstoffen im Allgemeinen bestand teilweise noch bis 1996.
Erstmals im Oktober 2000 wurden beim Kläger erhöhte Kreatininwerte (Nierenwerte) durch seinen Hausarzt Dr.S. festgestellt.
Im November 2002 wurde eine Nierenbiopsie durchgeführt. Hierbei wurde eine "tubulo-interstitielle Nephritis mit Tubulusatrophie,
interstitieller Fibrose und geringgradiger IGH-Nephritis" diagnostiziert. Inzwischen ist der Kläger aufgrund dieser Erkrankung
dialysepflichtig.
Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) kam in seiner Stellungnahme vom 23.02.2006 zum Ergebnis, dass der Kläger
zwischen 1986 und 1990 oberhalb der Grenzwerte für Halogenkohlenwasserstoffe (Trichlorethan und Perchlorethan) exponiert gewesen
sein dürfte sowie zwischen 1986 und 1996 oberhalb der Grenzwerte für Kohlenwasserstoffe (insbesondere Toluol und Xylol). Von
einer Exposition gegenüber cadmiumhaltigen Arbeitsstoffen sei nach dem Stand der Erkenntnisse nicht auszugehen.
Im Auftrag der Beklagten erstellte der Arbeitsmediziner Prof.Dr.N., B-Stadt, am 09.10.2006 ein Gutachten. Hinsichtlich einer
Berufskrankheit nach der Ziffer 1302 der
BKV (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe) verneinte er die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs mit der
Nierenerkrankung des Klägers. Es könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass die chronische Exposition
mit Kohlenwasserstoff Nierenerkrankungen wie im Fall des Klägers auslösen könne. Lediglich könne ein Zusammenhang zwischen
der Kohlenwasserstoffexposition und der Verschlimmerung einer Nierenfunktionsstörung vermutet werden. Er verwies hierzu auf
verschiedene Studien, wobei einige Studienergebnisse für einen Zusammenhang sprächen. Aber gerade bei Studien mit sehr hoher
Fallzahl sei der Zusammenhang zwischen Kohlenwasserstoffexposition und dadurch bedingter Auslösung bzw. Verschlimmerung einer
Nierenerkrankung nicht gegeben. Eine BK Nr.1302 sei deshalb zu verneinen. Auch eine BK der Nr.1317 der
BKV liege nicht vor, da es beim Kläger keinen Hinweis auf eine toxische Polyneuropathie oder Encephalopathie gebe. Eine berufliche
Exposition des Klägers mit Cadmium oder seinen Verbindungen konnte nicht eruiert werden, so dass eine BK der Nr.1104 der
BKV ebenfalls zu verneinen sei. Der Gewerbearzt, Facharzt für innere Medizin und Arbeitsmedizin Dr.W. teilte die Auffassung des
Prof.Dr.N. in seiner Stellungnahme vom 02.01.2007.
Mit Bescheid vom 14.02.2007 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung einer Berufskrankheit nach den Nrn.1104, 1302 bzw.
1317 der Anlage zur
BKV ab. Zur Begründung berief sie sich insbesondere auf das Gutachten des Prof.Dr.N ... Im Widerspruchsverfahren wurde eine ergänzende
Stellungnahme von Prof.Dr.N. eingeholt. Mit Widerspruchsbescheid vom 06.09.2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers
zurück.
Hiergegen legte der Kläger am 17.09.2007 Klage beim Sozialgericht Landshut (SG) ein. Das Gericht holte u.a. einen Befundbericht des Dialsysezentrums P. ein und beauftragte Prof.Dr.D., Direktor des Instituts
und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität E., mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser
kam am 22.07.2008 zum Ergebnis, dass es sich um eine Erkrankung handele, die nach dem Merkblatt zur BK Nr.1302 der
BKV als Berufskrankheit bei einer geeigneten beruflichen Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen anerkannt werden könne.
Es sei seit vielen Jahren bekannt, dass eine Nierenschädigung durch eine berufliche Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen
verursacht werden könne. Es sei jedoch eine hohe berufliche Exposition zu fordern, um eine tubulo-interstitielle Nierenerkrankung
verursachen zu können. Es sei beim Kläger von einer Grenzwertüberschreitung insbesondere gegenüber Trichlorethan und Perchlorethan
im Zeitraum von 1986 bis 1990 auszugehen. Damit die Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit nach der BK 1302 der
BKV anerkannt werden könne, sei zu fordern, dass die Manifestation seiner Nierenerkrankung noch unter der beruflichen Exposition
bzw. zeitnah mit dieser erfolgt sei. Nach Angaben von Dr.S. seien erhöhte Kreatinin-Werte erstmalig im Oktober 2000 aufgefallen.
Erhöhte Harnsäurewerte, die ebenfalls für eine Funktionseinschränkung der Niere sprechen könnten, seien dagegen bereits seit
ca. 1995 bekannt. Der TAD habe ermittelt, dass im Arbeitsbereich des Versicherten ab ca. 1996 nach einer technischen Umgestaltung
eine nennenswerte Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen nicht mehr bestanden habe, da Lösungsmittel in der Regel
nur noch über Rohrleitungen direkt zugeführt wurden. Selbst wenn die erhöhten Harnsäurewerte des Klägers als Folge einer Funktionseinschränkung
der Niere gewertet würden, so seien diese erstmalig ca. fünf Jahre nach Beendigung der hohen beruflichen Exposition gegenüber
Halogenkohlenwasserstoffen (Zeitraum 1986 bis 1990) beschrieben worden. Damit lasse sich ein zeitnaher Zusammenhang zwischen
einer hohen beruflichen Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen und der Entstehung einer Nierenerkrankung nicht herstellen.
Ergänzend sei zu betonen, dass Nierenschäden durch Halogenkohlenwasserstoffe selten seien. Ein Zusammenhang zwischen der Exposition
und der Erstmanifestation der Nierenerkrankung könne nicht wahrscheinlich gemacht werden. Eine BK Nr. 1302 könne deshalb nicht
anerkannt werden.
Der Klägerbevollmächtigte hat daraufhin weitere Laborbefunde aus dem Kreiskrankenhaus B. vom 16.07.1992 übersandt. Hierzu
hat Prof.Dr.D. eine ergänzende Stellungnahme vom 20.10.2008 erstellt. Auch aufgrund der nachgereichten Unterlagen finde sich
kein hinreichender Hinweis für die Manifestation der Nierenerkrankung des Klägers unter einer hohen beruflichen Exposition
gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen. Es sei von einer schicksalhaften Erkrankung auszugehen, wobei der Auslöser unbekannt
sei.
Daraufhin hat das SG die Klage mit Urteil vom 08.12.2008 abgewiesen und sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Prof.Dr.D. gestützt.
Hiergegen hat der Kläger am 11.02.2009 Berufung eingelegt. Im Auftrag des Senats hat der Nephrologe Prof.Dr.C., ..., am 02.08.2010
ein weiteres Gutachten erstellt. Es sei seit vielen Jahren bekannt, dass eine Nierenschädigung durch eine berufliche Exposition
gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen verursacht werden könne. Das Merkblatt zur BK Nr. 1302 der
BKV stamme aus dem Jahre 1987. Es sei davon auszugehen, dass alle Halogenkohlenwasserstoffe eine Nierenschädigung verursachen
können. Dabei sei eine hohe berufliche Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen zu fordern, um eine tubulo-interstitielle
Nierenerkrankung verursachen zu können. Eine solch hohe Exposition sei im Fall des Klägers an seinem Arbeitsplatz bei der
Firma W. in B. seitens des TAD ermittelt worden. Demnach sei von einer Grenzwertüberschreitung, insbesondere gegenüber den
Halogenkohlenwasserstoffen Trichlorethan und Perchlorethan im Zeitraum von 1986 bis 1990 auszugehen. Ein erhöhter Kreatininwert
(H) sei bereits am 14.07.1992 bestimmt worden. Erhöhte Harnsäurewerte, die seit ca. 1995 bekannt seien, dürften daher mit
abnehmender Nierenleistung zunehmend Folge der Funktionseinschränkung der Nieren sein. Die Einwirkung durch Halogenkohlenwasserstoffe
nehme eine gewisse Zeit in Anspruch, um sich messbar als Einschränkung der Nierenleistung darzustellen. Es bestehe mit hoher
Wahrscheinlichkeit ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der hohen Exposition und der Erstmanifestation der Nierenerkrankung.
Obwohl kein Normalbereich bei der Angabe eines erhöhten Kreatininwertes in den Laborbefunden von 1992 angegeben wird, müsse
man im Gegensatz zu Prof.Dr.D. feststellen, dass die Kennzeichnung des Wertes mit "H" durch das Labor anzeige, dass der Wert
oberhalb des Normbereiches liege. Die Aussage in der ergänzenden Stellungnahme von Prof.Dr.D., dass der Kreatininwert im Serum
noch im Normbereich liegen dürfte, sei somit nicht korrekt. Dazu komme, dass die aus diesem Wert berechnete glomeruläre Filtrationsrate
anzeige, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine messbare Einschränkung der Nierenleistung vorgelegen habe.
Prof.Dr.N. ist in einer weiteren Stellungnahme vom 23.09.2010 bei seiner Meinung geblieben. Er ist der Deutung der Laborwerte
aus 1992 durch Prof.Dr.C. nicht gefolgt. Nach wie vor sei von einer Verschlechterung der Nierenleistung frühestens für das
Jahr 2000 auszugehen. Damit lägen fast zehn Jahre zwischen beruflicher Exposition und Erkrankung.
Der Senat hat daraufhin nochmals Prof.Dr.C. mit einer ergänzenden Stellungnahme betraut. Dieser hat am 28.10.2011 ausgeführt,
dass der Laborwert mit "H" gekennzeichnet sei. Er falle also offensichtlich aus dem Normalbereich heraus. Es sei deshalb bereits
zu diesem Zeitpunkt von einer eingeschränkten Nierenfunktion auszugehen. Im Gegensatz zu den Ausführungen von Prof.Dr.D. müsse
bei der Nierenschädigung des Klägers durchaus keine tubuläre Proteinurie vorliegen. Dies sei geradezu ein Charakteristikum
für interstitielle Nierenerkrankungen. Zusammenfassend sei die Aussage, dass eine chronische Nierenerkrankung zusätzlich eine
Proteinurie erfordern würde, aus nephrologischer Sicht falsch, da viele Nierenerkrankungen ohne erhöhte Eiweißausscheidung
einher gehen, die mit Urinsticks erfassbar wären.
Die Beklagte hat eine weitere Stellungnahme von Prof.Dr.N. vorgelegt.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 08.12.2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14.02.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 06.09.2007 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr.1302 der Anlage zur
BKV vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§
151 Abs.1
SGG) eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung einer BK nach §
9 Abs.1 Satz 1
SGB VII bzw. § 551 Abs.1 Satz 2 der
Reichsversicherungsordnung (
RVO) in Verbindung mit Nr.1302 der Anlage 1 zur
BKV (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe).
Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist gemäß §§
54 Abs.1, 55 Abs.1 Nr.3
SGG zulässig. Streitgegenständlich ist allein die BK nach Nr.1302 der Anlage zur
BKV.
Ob sich die vom Kläger verfolgten Ansprüche nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (
RVO) oder dem Sozialgesetzbuch (
SGB VII) richten, braucht im Ergebnis nicht entschieden zu werden, da zunächst nur der Antrag auf Feststellung einer BK Streitgegenstand
ist.
Nach § 551 Abs.1 Satz 2
RVO bzw. §
9 Abs.1 Satz 1
SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit der Zustimmung des Bundesrates als
Berufskrankheiten bezeichnet hat und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 539, 540, 543, bis 545
RVO bzw. §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Dies setzt voraus, dass eine Krankheit vorliegt, die in der zum Zeitpunkt des Eintritts
des Versicherungsfalls geltenden
BKV aufgeführt ist. Dies trifft hier zu (vgl. Verordnung zur Änderung der
Berufskrankheitenverordnung vom 08.12.1976 (BGBl. I S.33 29, 33 31), vom 22.03.1988 (BGBl. I 400), seit 01.12.1997 die
BKV vom 31.10.1997 - BGBl. I S.26, 23).
Die BK Nr.1302 zählt zu den Berufskrankheiten, die durch chemische Einwirkungen verursacht sind. Aus der wissenschaftlichen
Begründung zur Berufskrankheit Nr.1302 (Bekanntmachung des BMA vom 29.03.1987, BABL 6/1985) ist zu entnehmen, dass die Halogenkohlenwasserstoffe
(Verbindungen von Kohlenwasserstoffen mit Fluor, Chlor, Brom, Jod) eine heterogene Gruppe zahlreicher organischer Verbindungen
sind, die auch in toxikologischer Hinsicht uneinheitlich sind. Halogenkohlenwasserstoffe werden industriell vielseitig verwendet,
teilweise auch als Stoffgemische, was die Beurteilung der gesundheitlichen Gefährdung erschwert. Man findet sie auch vielfach
als Verunreinigung technischer Produkte. Der Einsatz halogenierter Kohlenwasserstoffe erfolgt vorrangig als Lösemittel.
Unbestritten lag beim Kläger eine hohe berufliche Exposition in den Jahren 1986 bis 1990 vor. Nach dem Bericht des Technischen
Aufsichtsdienstes vom 23.02.2006 war der Kläger in dieser Zeit in grenzüberschreitender Weise gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen
exponiert. Prof.Dr.C. und Prof.Dr.D. sind sich auch darin einig, dass diese Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen
zu der beim Kläger diagnostizierten Nierenerkrankung führen kann. Beim Kläger ist histologisch eine tubulo-interstitielle
Nephritis mit Tubulusatrophie und interstitieller Fibrose zweifelsfrei gesichert. Hierbei handelt es sich um eine Erkrankung,
die nach dem Merkblatt zur BK Nr.1302 der
BKV als Berufskrankheit bei einer geeigneten beruflichen Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen anerkannt werden kann.
Das Merkblatt zur BK 1302 der
BKV stammt aus dem Jahre 1987 (BABL 6/1985). Demnach ist seit vielen Jahren bekannt, dass eine Nierenschädigung durch eine berufliche
Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen verursacht werden kann. Es ist davon auszugehen, dass alle Halogenkohlenwasserstoffe
eine Nierenschädigung verursachen können. Allerdings muss eine hohe berufliche Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen
gegeben sein, um eine tubulo-interstitielle Nierenerkrankung verursachen zu können. Eine solche hohe Exposition wurde am Arbeitsplatz
des Klägers bei der Firma W. in B. seitens des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten ermittelt. Demnach ist von einer
Grenzwertüberschreitung, insbesondere gegenüber den Halogenkohlenwasserstoffen Trichlorethan und Perchlorethan im Zeitraum
von 1986 bis 1990, auszugehen.
Die Nierenerkrankung des Klägers ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.C. mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit durch die berufliche Exposition des Klägers verursacht worden. Aufgrund der vorliegenden Kreatininwerte
des Klägers ist laut Prof.Dr.C. davon auszugehen, dass beim Kläger bereits 1992 eine ca. 30 %-ige Einschränkung der Nierenleistung
stattgefunden hatte. Unter der Annahme einer Abnahme der Nierenleistung um ca. 4 ml/min./1,73 m²/Jahr erreichte der Kläger
im Jahre 2002 eine glomeruläre Filtrationsrate um 43 ml/min./1,73 m². Tatsächlich kann beim Kläger aus einem Kreatininwert
von 1,89 Ende 2002 (25.11.) eine glomeruläre Filtrationsrate von 44 errechnet werden, was einem Stadium III der Niereninsuffizienz
entspricht. Im Jahre 2005 war die Nierenleistung auf 16 und 2006 auf 11, aktuell auf 9 ml/min./1,73 m² herabgesunken (Stadium
V). Entscheidend ist vorliegend, ob eine Rückrechnung von 2002 auf eine eingeschränkte glomeruläre Filtrationsrate medizinisch
zulässig, wie Prof.Dr.C. darlegt, oder ausgeschlossen ist, wie insbesondere von Prof.Dr.N. argumentiert wird.
Prof.Dr.C. führt aus, dass er als Nephrologe aufgrund dieser Werte rückwirkend für die Jahre 1986 bis 1990 die glomeruläre
Filtrationsrate abschätzen kann. Im Jahre 1990 hätte sie demnach etwa 91, 1988 95, 1987 99 und 1986 103 ml/min./1,73 m²betragen.
Dies war für den damals 23-jährigen Kläger ein normaler Wert. Bereits am 14.07.1992 lag die glomeruläre Filtrationsrate mit
83 ml aber unterhalb eines Wertes von 90 ml und somit formal im Stadium der Nierenleistungsschwäche Grad II. Laut Prof.Dr.C.
ist es somit am wahrscheinlichsten, dass die Nierenleistungsschwäche, die 1992 nachweisbar war, auf die sehr hohe Exposition
gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen in den Jahren 1986 bis 1990 zurückzuführen ist. Die Berechnung der Nierenleistung bis
auf das Jahr 1986 ist berechtigt, da bei tubulo-interstitiellen Erkrankungen und auch anderen chronischen Nierenerkrankungen
ein typischer jährlicher Abfall der Nierenleistung nachgewiesen werden kann. Dagegen ist es unwahrscheinlich, dass in den
Jahren 1986 bis Anfang der 90-er Jahre eine Veränderung der Serumkreatininwerte festgestellt werden konnte, da zunächst ca.
30 % der Nierenleistung wegfallen müssen, bevor der Kreatininwert als relativ unsensibler Parameter ansteigt. Da aber bereits
im Jahre 1992 der Serumkreatininwert oberhalb der Normgrenze lag, muss bereits zu diesem Zeitpunkt von einem erheblichen Nierenschaden
ausgegangen werden, dessen Entwicklung gerade in dem Zeitraum der maximalen Exposition des Klägers, in den Jahren 1986 bis
1990, hineinfällt. Somit ist aus nephrologischer Sicht ein sehr wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Exposition gegenüber
Halogenkohlenwasserstoffen in den Jahren 1986 bis 1990 und allmählicher Entwicklung einer Nierenschädigung, die bioptisch
im Jahre 2002 gesichert werden konnte, zu bejahen. Es muss hierbei beachtet werden, dass im Jahre 2002 der Nierenschaden bereits
mehr als 60 % der Niere betraf. Für die Nierenschädigung spricht auch die Erhöhung der Harnsäurewerte, wie sie bereits 1995
dokumentiert ist.
Die Einwendungen des Prof.Dr.N. vom 23.09.2010 und vom 09.02.2012 können zu keiner anderen Einschätzung führen. Prof.Dr.C.
führt aus, dass der Kreatininwert vom 14.07.1992 von 1,18 mg/dl durch das Labor mit "hoch" gekennzeichnet wurde. Wenn ein
Labor einen Wert mit hoch kennzeichnet, fällt dieser - entgegen auch der Darstellung von Prof.Dr.D. - offensichtlich aus dem
Normalbereich heraus. Der Normalbereich für den Kreatininwert ist abhängig von der verwendeten Labormethode. Die Kennzeichnung
durch "hoch" zeigt an, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines normalen Kreatininwertes äußerst gering ist (kleiner
5 %). Die Bezeichnung "hoch" gibt also an, dass der Kreatininwert außerhalb des Normbereiches liegt, ohne dass zusätzlich
ein Normbereich angegeben werden muss. Zu Recht weist Prof.Dr.C. darauf hin, dass es rein spekulativ ist, ob der Kreatininwert
durch eine längere Trinkpause oder ungewöhnliche muskuläre Anspannung beeinflusst gewesen sein könnte.
Weiter führt er aus, dass eine Reihe von Nierenerkrankungen ohne eine erhöhte Eiweißausscheidung einhergehen. Für das Vorliegen
einer Nierenerkrankung ist der Nachweis einer Eiweißausscheidung unerheblich. Entscheidend ist, dass beim Kläger eine chronische
tubulo-interstitielle Nierenschädigung vorliegt, bei der im Frühstadium durchaus keine tubuläre Proteinurie vorliegen muss.
Eine geringe oder fehlende Proteinurie ist geradezu ein Charakteristikum für interstitielle Nierenerkrankungen. Prof.Dr.C.
bezieht sich hierbei auf internationale Untersuchungen insbesondere der Mayo Clinic in den USA. Er weist darauf hin, dass
die üblichen Urinsticks einen Eiweißverlust über die Niere auch erst in einem fortgeschrittenen Stadium erfassen. Nach den
US-amerikanischen Leitlinien gibt es für jede Nierenerkrankung eine charakteristische durchschnittliche Verschlechterung der
Nierenleistung pro Jahr. Der Abfall der glomerulären Filtrationsrate sollte nach den Guidelines sogar bei jeder Nierenerkrankung
vor und zurück gerechnet werden.
Zusammenfassend ist die Stellungnahme des Prof.Dr.N. nicht stichhaltig, so dass die Ursache der Nierenleistungsschwäche des
Klägers nach Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit Prof.Dr.C. am wahrscheinlichsten auf die sehr hohe Exposition gegenüber
Halogenkohlenwasserstoffen in den Jahren 1986 bis 1990 zurückzuführen ist. Die lange Latenzzeit stimmt sehr gut mit dem charakteristischen
langjährigen Verlauf seiner Nierenerkrankung überein.
Die Kostenfolge ergibt sich aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG liegen nicht vor.