Anerkennung eines Wegeunfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung; haftungsausfüllende Kausalität bei Vorliegen eines Vorschadens
Tatbestand:
Streitig ist die Neufeststellung auf Gewährung von Heilbehandlung und Verletztengeld über den 2. Mai 2002 hinaus.
Die Klägerin hatte am 4. Februar 2002 auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte einen Verkehrsunfall mit Seitenaufprall. Die Erstbehandlung
erfolgte am 5. Februar 2002 durch den Hausarzt. Der Durchgangsarzt Dr. U. (Krankenhaus M.) diagnostizierte am 7. Februar 2002
eine Halswirbelsäulen(HWS)-Distorsion. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit schätzte er auf maximal drei Tage. In den folgenden
Wochen klagte sie über anhaltende Schmerzen im Bereich der HWS. Eine Kernspintomographie (MRT) der HWS vom 3. April 2002 ergab
außer einer schmerzhaften Fehlstellung der HWS keinen pathologischen Befund, insbesondere keinen Hinweis auf eine traumatische
Hydromyelie, Zerreißung der Gelenkkapselstrukturen oder der muskulären Weichteile des Nackens.
Mit Bescheid vom 4. Juni 2002 erkannte die Beklagte als Folge des Arbeitsunfalls eine folgenlos verheilte Zerrung der HWS
an. Die Gewährung von Heilbehandlung und Verletztengeld lehnte sie ab 3. Mai 2002 ab. Die noch bestehenden subjektiven Beschwerden
seien nicht mehr auf die Folgen des Unfalls zurückzuführen, sondern auf unfallunabhängige Erkrankungen.
Die Neurologen Dres. D./E. konnten am 4. Juni 2002 kein herdneurologisches Defizit feststellen. Dr. U. bescheinigte am 6.
Juni 2002, dass die Klägerin nach klinischer Erfahrung arbeitsfähig ist.
Am 27. Mai 2004 ging der MRT-Befund vom 26. September 2002 ein, wonach sich ein identischer Befund in Bezug auf diskrete Diskopathiezeichen
wie im MRT vom 3. April 2002 ergab. Dr. M. diagnostizierte am 8. April 2004 ein HWS-Syndrom bei Bulging (geringe Vorbuckelung)
der dorsalen Bandscheibenkonturen C3/4 und C4/5. Aufgrund vorgelegter Röntgenaufnahmen seien ein Bandscheibenschaden HWK 4/5
und HWK 5/6 sowie Wirbelblockaden bei HWK 4/5 bis HWK 6/7 nachgewiesen.
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 25. Mai und 28. September 2004 eine Neufeststellung, da mit Bescheid vom 4. Juni
2002 eine Wulstbildung an den HWK mit Nervenschmerzen nicht als Unfallfolge anerkannt worden sei.
Die Beklagte holte eine beratungsfachärztliche Stellungnahme des Prof. Dr. H. nach Aktenlage vom 28. Oktober 2004 ein. Die
angegebenen Beschwerden seien auf fortgeschrittene Verschleißerscheinungen und nicht auf das Unfallereignis zurückzuführen.
Die Beklagte lehnte eine Neufeststellung von Leistungen nach § 44 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) mit Bescheid vom 15. November 2004 ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2005 zurück.
Zur Begründung der Klage vor dem Sozialgericht Augsburg (SG) wies die Klägerin darauf hin, dass es bei dem Seitenaufprall zu einer erhöhte Belastung innerhalb der Facettengelenke gekommen
sei. Aufgrund von Langzeitstudien sei von einem Unfallzusammenhang des Bulging auszugehen. Das SG holte eine Bescheinigung der Zeiten von Arbeitsunfähigkeit der AOK Bayern, ferner Befundbereichte, Röntgenaufnahmen und den
Reha-Entlassungsbericht ein und zog die Akte der Deutschen Rentenversicherung Bund bei.
Mit Gerichtsbescheid vom 11. Januar 2007 wies es die Klage ab. Im Zusammenhang mit dem Bescheid vom 4. Juni 2002 sei weder
das Recht unrichtig angewandt worden noch sei die Beklagte von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen. Die Klägerin habe
keine neuen Tatsachen vorgetragen, die die Richtigkeit des Bescheides in Frage stellten. Aus den erneuten Röntgen- bzw. Kernspinaufnahmen
ergäben sich keine relevanten neuen Tatsachen. Aus der Begutachtungsliteratur ergebe sich, dass das grenzwertige "Bulging"
nicht unfallbedingt sein könne, da die für eine traumatische Bandscheibenverletzung zwingend erforderlichen Begleitverletzungen
ausgeschlossen werden könnten. Im Übrigen seien die vorliegenden MRT-Befunde im Wesentlichen unverändert. Soweit sich die
Klägerin auf Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft bezieht, seien diese bereits vor dem Jahre 2002 bekannt gewesen.
Die Klägerin hat in ihrer Berufungsbegründung ausgeführt, die Diagnosen eines Bandscheibenschadens HWK 4/5 bis HWK 5/6, Wirbelblockaden
HWK 4/5 bis HWK 6 und eine Dysbalance der Muskulatur im unteren sowie eine Hypermobilität im oberen HWS-Be- reich, wie sie
durch die aktuellen Röntgen- bzw. MRT-Aufnahmen sowie den Bericht des Dr. M. bestätigt würden, stellten neue Tatsachen im
Sinne des § 44 SGB X dar. Der Beweis eines Primärschadens dürfe nicht an nachweisbare Strukturschäden gebunden werden. Im Übrigen stehe ein Primärschaden
fest. Der bleibende Schmerz und die bleibenden Beschwerden seien ursächlich auf das Unfallgeschehen zurückzuführen.
Der Senat hat die Röntgen- bzw. MRT-Aufnahmen beigezogen und den Orthopäden Dr. F. mit einem Gutachten beauftragt. Dieser
gelangte am 15. Juni 2007 zu dem Ergebnis, dass nach den objektiven Befunden kaum eine HWS-Distorsion mit Leitsymptom des
Schweregrades I vorgelegen habe. Das symptomfreie Intervall habe weit über eine Stunde betragen. Der relativ späte Arztbesuch,
die Möglichkeit weiterarbeiten zu können und das permanent zunehmende Schmerzsyndrom seien verletzungsatypisch. Aus den vorliegenden
Röntgenaufnahmen nach dem Unfallereignis ergäbe sich ein eindeutiger Hinweis auf einen Vorschaden im Segment des 4. HWK. Ferner
sei das Auftreten einer Begleitverletzung auszuschließen. Der Unfall habe sich jedoch möglicherweise negativ auf die vorbestehende
Somatisierungsstörung ausgewirkt. Subjektive Empfindungsstörungen seien durch das fehlerhafte Tragen einer Halskrawatte beeinflusst
worden. Ab 3. Mai 2002 lägen keine Unfallfolgen mehr vor.
Der Senat hat die Röntgenaufnahmen vom 6. und 7. Februar 2002 beigezogen. Dr. F. hat hierzu ergänzend am 5. Oktober 2007 ausgeführt,
die Klägerin habe im Rahmen der Anamnese ausdrücklich angegeben, am Abend des Unfalltages verspürt zu haben, dass der gesamte
Rücken bretthart geworden sei. Die Möglichkeit, aus welchen Gründen auch immer weiterarbeiten zu können, sei zumindest mit
einer schwerwiegenden Distorsion der HWS nicht problemlos zu vereinbaren. Aus der vorliegenden Röntgenaufnahme vom 6. Februar
2002 ergäben sich eindeutig degenerative Veränderungen an der HWS. Durch die Röntgenaufnahmen unmittelbar nach dem Unfall
sei somit das Gutachtensergebnis bestätigt worden.
Mit Schreiben vom 10.01.2008 hat die Klägerin Dr. F., Oberarzt am Klinikum A., Fachgebiet Radiologie, Neuroradiologie und
Neurochirurgie, als Sachverständigen nach §
109 SGG benannt. Es wurden Befunde der Kernspintomographie vom 16.06.1998, 29.12.1999, 12.06.2001 und 28.09.2001 beigezogen. Der
Orthopäde Dr. E. hat berichtet, dass die Klägerin vom 22.09.1998 bis letztmalig 11.07.2001 bei ihm in Behandlung wegen Schmerzen
im Bereich der cervikalen Wirbelsäule mit Ausstrahlung in die oberen Extremitäten gewesen sei. Am 23.03.1998 war eine Computertomographie
der Halswirbelsäule erstellt worden.
Nach Beiziehung sämtlicher im Besitz der Klägerin befindlichen radiologischen Befunde hat der Sachverständige Dr.F. am 12.12.2008
ein fachradiologisches Zusatzgutachten erstellt. Die ausführliche Bilddokumentation in einem Zeitraum vom März 1998 bis Juni
2007 dokumentiere den Verlauf einer langsam fortschreitenden degenerativen Halswirbelsäulenerkrankung. Bereits anlässlich
der ersten vorliegenden Untersuchung der Halswirbelsäule in Form des HWS-CTs vom 23.03.1998 erkenne man in Rückenlage und
Neutralstellung eine Fehlhaltung der Halswirbelsäule mit Steilstellung bzw. leicht kyphotischer Fehlhaltung im Bereich der
oberen Halswirbelsäule. Diese Fehlhaltung erkenne man in sämtlichen Untersuchungen bis Juni 2007. Das angeschuldigte Unfallereignis
vom 04.02.2002 habe bildmorphologisch zu keiner signifikanten Änderung oder Beschleunigung dieses degenerativen Prozesses,
der seit März 1998 dokumentiert wird, geführt. Die im zeitlichen Zusammenhang mit dem Trauma angefertigten Untersuchungen
zeigten keine traumatisch bedingten Veränderungen der Halswirbelsäule.
Bei Durchsicht der Aktenunterlagen sei kritisch anzumerken, dass anlässlich diverser Begutachtungen/Attestierungen die vor
dem Unfallereignis bekannte Anamnese und hier insbesondere die vorliegende prätraumatische Bilddiagnostik entweder nicht oder
in unzureichender Weise gewürdigt worden sei. Die Klägerin habe bei dem Unfall vom 04.02.2002 eine HWS-Distorsion erlitten,
die nach der Klassifikation nach Erdmann allenfalls als leichtgradig gewertet werden könne. Folgen des Unfalles lägen am 03.05.2002
nicht mehr vor. Die posttraumatisch geklagten Beschwerden ließen eher an reaktive Myogelosen durch das fälschlich persistierende
Tragen der Halskravatte bis August 2002 denken.
Die Bevollmächtigte der Klägerin hat mitgeteilt, dass die Klage begründet sei. Bei der Klägerin habe sich durch den Unfall
ein chronifiziertes Schmerzsyndrom im Sinne einer anhaltend somatoformen Schmerzstörung gebildet. Hierbei handele es sich
um einen neuen Befund.
Sie hat ein Gutachten für die Deutsche Rentenversicherung übersandt. Der Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
Dr.M. hat folgende Diagnosen gestellt:
- Somatoforme Schmerzstörung anhaltend, ICD 10 F 45.4
- depressive Episode, mittelgradig, ICD 10 F 32.1
- Persönlichkeit mit asthenischen und selbstunsicheren Zügen, ICD 10 F 60.7
- Nervenwurzel- und Muskelreizerscheinungen cervikal, ICD 10 G 54.2.
Die Schmerzsymptomatik sei bis heute anhaltend, trotz durchgehender orthopädischer Behandlungen, einer kurzzeitigen nervenärztlichen
Behandlung und einer jetzt schon länger anhaltenden psychotherapeutischen Behandlung. Es entwickelte sich eine zunehmende
somatoforme anhaltende Schmerzstörung auf dem Boden einer asthenisch abhängigen Persönlichkeit. Die Klägerin kämpfe um Anerkennung
der anhaltenden Beschwerden mit der Beklagten; dadurch sei es zu einer Verstärkung der depressiven Symptomatik gekommen.
Mit Schreiben vom 22.06.2009 hat die Klägerin mitgeteilt, der erste Verdacht auf Somatisierungsstörungen sei im Oktober 2002
ausgesprochen worden. Der Senat hat Befundberichte des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E. sowie des Dr.
D. eingeholt. Dr. E. hat berichtet, die Klägerin habe sich vom 17.03.2006 bis 13.11.2007 in ambulanter Psychotherapie befunden.
Der Senat hat weiter das Gutachten des Dr. M. vom Mai 2006 für die Deutsche Rentenversicherung beigezogen; des Weiteren einen
Befundbericht der Dipl. Psychologin Dr. K. vom 12.11.2009.
Er hat Beweis erhoben und die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. C. zur gerichtlichen Sachverständigen ernannt.
Diese ist in ihrem Gutachten vom 16.03.2010 sowie in der ergänzenden Stellungnahme vom 28.06.2010 zum Ergebnis gekommen, durch
den Unfall vom 04.02.2002 sei allein eine HWS-Distorsion Grad I verursacht worden, die folgenlos ausgeheilt sei. Die zur Invalidität
führende cervikale Schmerzbeeinträchtigung sei auf dem Hintergrund einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung zu sehen,
die von einer ängstlich-depressiven Anpassungsstörung begleitet werde. Diese sei jedoch bereits vor dem Unfall, wenn auch
in klinisch geringerem Umfang, manifest gewesen. Zu einer Verstärkung hätte jede Gelegenheitsursache führen können. Unfallbedingte
Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit habe über den 02.05.2002 hinaus nicht bestanden. Eine unfallbedingte MdE ergebe
sich seit dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit nicht.
Zuletzt hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 03.09.2010 nach erfolgter Ladung die Einholung eines Gutachtens nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) beantragt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 11.01.2007 und den Bescheid der Beklagten vom 15.11.2004 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10.06.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Antrag auf Neufeststellung von Leistungen
nach § 44 SGB X statt zu geben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Übrigen wird gemäß §
136 Abs.
2 SGG auf den Inhalt der Akte der Beklagten und der Klage- und Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§
143,
151 SGG), aber unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 2002 ist nicht rechtswidrig im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB X.
Das SG hat eingehend und zutreffend ausgeführt, dass die Beklagte weder das Recht unrichtig angewandt hat noch von einem Sachverhalt
ausgegangen ist, der sich nachträglich als unrichtig erwiesen hat. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe
wird abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§
153 Abs.
2 SGG).
Bei dem Verkehrsunfall vom 4. Februar 2002 kam es aus Sicht der Klägerin zu einem seitlichen Aufprall. Auch bei einer Seitenkollision
kommt es durch die Relativbewegungen zwischen Kopf und Rumpf zu Belastungen der HWS (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall
und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 461). Die in der medizinischen Fachliteratur herrschende Klassifizierung nach Erdmann kommt
auch bei einem HWS-Beschleunigungstrauma bei Seitenaufprall zur Anwendung, da auch hier vergleichbare Beschleunigungskräfte
einwirken (siehe z.B. Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule - www.dgn.org).
Unter Zugrundelegung des Gutachtens des Dr. F. geht der Senat davon aus, dass die Klägerin durch den Unfall eine Beschleunigungsverletzung
der HWS Grad I in der Einteilung nach Erdmann und auch nach Quebek Task Force (international) erlitten hat. Der Schweregrad
I zeichnet sich dadurch aus, dass die Bänder und Teile des Kapselbandapparats lediglich gezerrt oder gedehnt sind, jedoch
ihren mechanischen Zusammenhalt im Wesentlichen behalten haben. Im Rahmen des Schweregrades II findet sich als Beschwerdebild
u.a. Gelenkkapseleinrisse, Gefäßverletzungen und eine Steilstellung der HWS. Bei Vorliegen des Schweregrades III sind hingegen
die Bänder vollkommen durchgerissen und die Gelenkkapsel gesprengt; der mechanische Zusammenhalt des passiven Halteapparates
ist vollständig liquidiert (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO., S. 462). Derartige Begleitverletzungen sind vorliegend nicht
dokumentiert und deshalb auszuschließen. Ob die für die Einteilung in den Schweregrad I typischen Symptome vorgelegen haben,
d.h. insbesondere, ob die Klägerin weniger als 16 bis 24 Stunden schmerzfrei war und ob ihr kein Weiterarbeiten am nächsten
Tag hätte möglich sein dürfen, kann der Senat offen lassen, da die Beklagte bereits für knapp drei Monate unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit
anerkannte und Verletztengeld bis 2. Mai 2002 gewährte.
Die Dauer der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit richtet sich nach dem Schweregrad des HWS-Distorsion.
Als Anhaltswerte ist die Dauer bei Schweregrad I mit zwei bis sechs Wochen anzusetzen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO.,
S. 464), so dass sich hieraus kein Anspruch auf Weitergewährung der Heilbehandlung und der Zahlung von Verletztengeld über
den 2. Mai 2002 ergibt.
Die Sachverständigen Dr. F. und Dr. F. legten unter Auswertung sämtlicher Röntgenaufnahmen dar, dass bereits zwei Tage nach
dem Unfall eine kleine knöcherne Ausziehung am 4. HWK im Bereich der Unterkante sowie eine kleine Stufenbildung an der Oberkante
erkennbar ist. Eine derartige spondylotische Ausziehung ist Ausdruck eines Verschleißschadens der HWS. Unfallbedingt hätten
diese Randzacken nach einer Bänderläsion drei Monate nach einem Unfallereignis entstehen können, nicht jedoch innerhalb von
zwei Tagen. Es ist somit ein unfallunabhängiger Vorschaden an der HWS dokumentiert.
Die radiologischen Veränderungen sind seitdem annähernd gleich geblieben, wie sich aus den folgenden Röntgen- und MRT-Aufnahmen
ergibt. Eine traumatische Verletzung von Bandscheiben oder des Bandapparates hätte jedoch zwangsläufig zur einer vermehrten
Randspornbildung geführt, die vorliegend nicht festzustellen ist. Im Übrigen ist es auch nicht zu einer deutlich stärkeren
Einengung eines verletzten Zwischenwirbelraumes gekommen. Auch dies spricht gegen eine traumatische Ursache des von Dr. M.
diagnostizierten Bulging.
Aber auch eine somatoforme Schmerzstörung als Unfallfolge ist in Übereinstimmung mit der Sachverständigen Dr. C. abzulehnen.
Frau Dr. C. kommt in ihrem Gutachten vom 16.03.2010 zum Ergebnis, es liege eine anhaltende somaforme Schmerzstörung mit protrahierter
ängstlich depressiver Anpassungsstörung bei Primärpersönlichkeit mit selbstunsicheren und zwanghaften Zügen vor. Die HWS-Distorsion
sei folgenlos ausgeheilt. Es seien degenerative HWS-Veränderungen bei langjährlicher HWS-Fehlhaltung festzustellen. Sie weist
darauf hin, dass die nun eingeholten Befunde seit 1998 eine chronisch rezidivierende Schmerzsymptomatik im Schulter-, Nacken-,
Hinterkopfbereich belegten, die zu wiederholten radiologischen Abklärungen und auch einer zuletzt im September 2001 orthopädisch
dokumentierten Konsultation führte. Im Vorfeld dieser letzten Untersuchung in der Praxis Dr. M. hatte schon der Orthopäde
Dr. E. zwischen September 1998 und Juli 2001 über eine Cervikalgie mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung berichtet. Während
des gesamten Zeitraums habe ein anhaltendes Schmerzproblem bestanden.
Die Sachverständige weist darauf hin, dass der Unfall in eine beruflich und privat angespannte Situation fiel. In dieser Situation
hätte aber jede Gelegenheitsursache zu einer weiteren Verstärkung der Symptomatik führen können, zumal laut radiologischem
Vorgutachten des Dr. F. progrediente degenerative HWS-Veränderungen die Symptomatik weiter unterhielten.
Im Ergebnis ist eine somatoforme Schmerzstörung zu bejahen, die auch von der Rentenversicherung anerkannt ist, so dass die
Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung erhält. Sie ist jedoch nicht Unfallfolge. Es ist vielmehr durch die zahlreichen Befunde
bewiesen, dass die somatoforme Schmerzstörung bereits vor dem Unfall vorlag. Es handelte sich nicht um normale Verspannungsschmerzen
durch Überlastung, da eine erhebliche Diskrepanz zu den zahllosen engmaschigen aufwändigen apparativen Untersuchungen bereits
vor dem Unfall besteht. Genau dies weist auf die psychosomatische Genese und die Verstärkung durch die ängstliche Besorgnis
und Anspannung hin. Ängstliche Spannungshaltungen bewirken eine muskuläre Verspannung mit Schmerz und nachfolgend weitere
Verspannung und noch intensiveren Schmerz.
Diese somatoforme Schmerzstörung wurde auch nicht richtunggebend verschlimmert. Die von der Klägerin nach dem Unfall bewusster
wahrgenommene Schmerzstörung ist die Folge ständiger Überforderung und in Verbindung damit Aktivierung des bereits vorgeschädigten
Stresssystems. Der Unfall als traumatisches Erlebnis war nur der Anlass dafür, dass der Klägerin die Beschwerden bewusst geworden
sind. Es hat keinerlei Beweiskraft, da es sich hier um die subjektive Wahrnehmung der Klägerin handelt.
Nach diesen Feststellungen sind im Übrigen auch die Voraussetzungen des § 48 SGB X nicht erfüllt (BSG, SozR 2200 § 581 Nr. 23), da aus den dargelegten Gründen keine objektiv nachweisbaren Veränderungen im klinischen Befund, z.B. im Sinne einer
Verschlimmerung der Unfallfolgen, gegeben sind.
Der medizinische Sachverhalt wurde umfassend aufgeklärt. Dem klägerischen Antrag vom 3. September 2010 auf Einholung eines
Gutachtens nach §
109 SGG war nicht stattzugeben, da dieser verfristet war. Zwar bestimmt das Gesetz nicht ausdrücklich eine Frist für die Antragstellung.
Jedoch kann das Gericht gemäß §
109 Abs.
2 SGG den Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach
der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher
vorgebracht worden ist. Eine Verzögerung tritt regelmäßig jedenfalls dann ein, wenn bereits - wie vorliegend - terminiert
ist.
Ferner liegt eine Verspätung aus grober Nachlässigkeit vor. Auch wenn keine richterliche Frist zur Antragstellung gesetzt
ist, muss innerhalb einer angemessenen Frist der Antrag gestellt werden, wenn erkennbar war, dass der Senat nicht weiter von
Amts wegen ermittelt. In der Regel ist eine Frist von einem Monat ausreichend (zum Ganzen: Meyer-Lade-wig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl., §
109 Rdnr. 11). So lag es hier:
Die zunächst gestellte Frist zum Gutachten der Dr. C. wurde mehrmals verlängert. Nach Eingang der ergänzenden Stellungnahme
der Sachverständigen wurde die Klägerin mit Schreiben vom 13. Juli 2010 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Rechtsstreit
zur mündlichen Verhandlung vorgesehen ist. Das Gericht hat damit deutlich zum Ausdruck gebracht, dass von Amts wegen keine
weiteren Ermittlungen erfolgen werden. Der Antrag auf Begutachtung nach §
109 SGG ging jedoch erst am 3. September 2010 nach erfolgter Ladung zur mündlichen Verhandlung ein. Die Klägerin muss sich dabei
das Verhalten eines Vertreters zurechnen lassen (§
73 Abs.
6 S. 6
SGG in Verbindung mit §
85 Abs.
2 ZPO).
Die Berufung ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenfolge stützt sich auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe nach §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG nicht vorliegen.