Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die bei ihm bestehenden Funktionsstörungen der Wirbelsäule eine Berufskrankheit
(BK) nach der Nummer 2108 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) sind.
Der Kläger ist 1963 geboren. Zu seinem Werdegang hat er folgende Angaben gemacht:
- 01.09.1982 bis 01.11.1985: Ausbildung zum Kachelofen- und Luftheizungsbauer bei der Firma S. in A-Stadt;
- 04.11.1985 bis 11./12.11.1985: Geselle bei der Firma F. in A.;
- 09.03.1986 bis 28./31.07.1986: Geselle bei der Firma M. in D.;
- 29.07./01.08.1986 bis 30.09./01.10.1986: Geselle bei der Firma F. in A.;
- 01.10.1986 bis Februar 1989: verschiedene Fortbildungsmaßnahmen;
- Februar 1989 bis Ende September 1989: arbeitslos;
- 02.10.1989 bis 28.02.1992: Maurerlehrling bei der Firma R. Bauunternehmung in U.;
- 02.03.1992 bis 18./22.07.1992: Geselle bei der Firma M. Bauunternehmung in A-Stadt;
- 01.10.1992 bis 11.01.2001: Lagerist bei der Firma S. in U.;
- derzeit ausgeübte Tätigkeit: Fußpfleger in eigener Praxis.
Der Facharzt für Orthopädie Dr.H. hat der Beklagten am 24.09.2002 angezeigt, dass der Kläger an Bandscheibenschäden leide,
die auf das Heben und Tragen von Lasten zurückzuführen seien, besonders der Bandscheibenvorfall L 5/S 1. Als Lagerarbeiter
habe der Kläger seit Oktober 1992 täglich acht Stunden Abfüllungsarbeiten erledigen müssen. Dr.H. hat mit Auszug aus seinen
medizinischen Unterlagen für die Zeit vom 01.01.1994 bis 19.02.2003 nicht nur eine thorakolumbale Skoliose und weitere Wirbelsäulenfunktionsstörungen
beschrieben, sondern auch eine hypochondrische Fixierung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Der Kläger hat ergänzend
vorgetragen, dass die bei ihm bestehenden Rückenschmerzen erstmals im Herbst 1996 aufgetreten seien.
Aus Stellungsnahmen der Württembergischen Bau-BG, der Bau-BG Bayern und Sachsen sowie der BG Feinmechanik und Elektrotechnik
ist basierend auf den Angaben des Klägers und der betreffenden Firmen in Berücksichtigung des Mainz-Dortmunder-Dosis-Models
(MDD) errechnet worden, dass der Kläger insgesamt nur einer Gesamtbelastung von 2,932 Mega-Newton-Stunden (MNh) ausgesetzt
gewesen ist.
Dementsprechend hat die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 21.01.2004 die Anerkennung einer BK nach der
Nummer 2108 der Anlage zur
BKV abgelehnt, weil der maßgebliche Richtwert nach dem MDD von 25 MNh (weit) unterschritten worden sei.
Die im Rahmen des Widerspruchsverfahrens eingeholte weitere arbeitstechnische Stellungnahme hat eine Gesamtbelastungsdosis
von nur 0 MNh ergeben, weil von der Annahme ausgegangen worden ist, alle gefährdenden Lastbewegungen seien an maximal sechs
Arbeitstagen im Jahr in einer Arbeitsschicht mit einer Tagesbelastungsdosis von 5000 Nh ausgeführt worden. Dementsprechend
hat die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.03.2005 zurückgewiesen.
Die ehemalige Bevollmächtigte des Klägers hat zur Begründung der Klage vom 25.04.2005 hervorgehoben, schon die Ausbildung
zum Kachel- und Luftheizungsbauer sei teilweise mit schweren Arbeiten verbunden gewesen. Die anschließende Tätigkeit als Maurer
bis 1992 habe erhebliche Belastungen der Wirbelsäule mit sich gebracht. Bei der Firma S. sei der Kläger täglich erheblich
beansprucht worden. Auch habe der Kläger bis zum Winter 1995/1996 in einem unbeheizten Raum arbeiten müssen. Zudem sei der
Kläger bei seinem ersten Bandscheibenvorfall erst 37 Jahre alt gewesen. Weiterhin hat die ehemalige Bevollmächtigte des Klägers
mit Schriftsatz vom 14.06.2007 den Bericht des Bundeswehrkrankenhauses U. vom 11.05.2001 eingereicht. Dort sind ein chronisches
Schmerzsyndrom, eine Somatisierungsstörung mit deutlichen Belastungs- und phobischen Anteilen sowie eine Klaustrophobie diagnostiziert
worden.
In Berücksichtigung des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R zur "Deutschen Wirbelsäulenstudie" hat die Beklagte ausgehend von folgenden Tätigkeiten des Klägers unter Zugrundelegung
des MDD eine Gesamtbelastungsdosis von 11,3 MNh errechnet:
- Säcke mit Strahlsand umpalletieren 13x25 kg / 3-4 Meter 180 Arbeitsschichten p.a.
- Säcke mit Strahlsand umfüllen 13x25 kg / 3-4 Meter 180 Arbeitsschichten p.a.
- Einlagern der Eimer mit Strahlsand 7x25 kg / 30x5 kg 180 Arbeitsschichten p.a.
- Ballons mit Glasperlen 30x9,5 kg / 5 Meter - 240x9,5 kg anheben 25 Arbeitssch. p.a.
- Müllkübel 1x35 kg / 5 Minuten 50 Arbeitsschichten p.a.
- Eimer einlagern / Türme von Eimern 45x16 kg / 4 Met. - 80x15 kg / 4 Met. 6 Arbs. p.a.
- Kartons mit Glasperlen 6x20 kg 6 Arbeitsschichten p.a.
- Paraffinblöcke 40x25 kg 17 Arbeitsschichten p.a.
- Kisten mit Wachshülsen und Drähten 12x15 kg / 18 Meter 12 Arbeitsschichten p.a.
- Chemie-Kartons / zu zweit 36x15 kg - 18x15 kg / 30 Meter 50 Arbeitsschichten p.a.
- Gebündelte Kartonagen 20x10 kg - 5x20 kg / 15 Meter 25 Arbeitsschichten p.a.
- Kopierpapier 6x20 kg / 50 Meter 17 Arbeitsschichten p.a.
- Postsäcke 3x25 kg 150 Arbeitsschichten p.a.
- Brett für Hebebühne 2x20 kg 220 Arbeitsschichten p.a.
- Kartons mit Trockenbeutel 3x15 kg / 30 Meter 100 Arbeitsschichten p.a.
- Hydraulik-Pressen 20x20 kg 12 Arbeitsschichten p.a.
Das Sozialgericht Augsburg hat den Kläger mit Nachricht vom 23.07.2008 informiert, die Beklagte habe eine an den höchstrichterlichen
Prämissen (keine Mindesttagesdosis, Vorgänge ab Mindestdruckkraft 2.700 N) ausgerichtete neue Berechnung erstellt und dabei
eine maximale Gesamtbelastungsdosis von 11,3 MNh errechnet. Nachdem der untere Grenzwert für die Gesamtbelastung von 12,5
MNh unterschritten worden sei, sei eine berufliche Ursache des beklagten Beschwerdebildes auszuschließen.
Das Sozialgericht Augsburg hat die Klage gegen den Bescheid vom 21.01.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.03.2005
mit Urteil vom 30.03.2009 abgewiesen. Bei einer Gesamtbelastungsdosis von 11,3 MNh werde auch die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen
Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh = unterer Richtwert von 12,5 MNh unterschritten. Die von dem
Kläger hervorgehobene Tätigkeit "Entleeren des Mülleimers" sei hierbei mitberücksichtigt worden. Außerdem übe der Kläger entsprechend
seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 30.03.2009 nunmehr die Tätigkeit eines medizinischen Fußpflegers aus. Es
erscheine somit fraglich, ob alle gefährdenden Tätigkeiten aufgegeben worden seien.
Hiergegen erhob der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG). Von Seiten des Senats wurden die Akten der
Beklagten sowie die erstinstanzlichen Streitakten beigezogen.
Der Kläger hat mit Berufungsbegründung vom 24.06.2009 hervorgehoben, entgegen dem Kurbericht der Reha-Klinik Bad B. vom 19.10.2001
sei die Behauptung falsch, dass er als Jugendlicher laufend in Behandlung gestanden sei. Berichte des Bundeswehrkrankenhauses
U. und der Reha-Klinik T. seien verschwiegen worden. Haltlos seien die Ausführungen des Sozialgerichts Augsburg zum Tatbestandsmerkmal
"Zwang zum Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeiten". Er habe sich eine Fußpflegepraxis aufgebaut, von der er aber nicht
leben könne. - Weiterhin hob der Kläger hervor, dass er entsprechend dem Schreiben der Präventionsabteilung der BG Elektro-
und Feinmechanik vom 07.10.2008 Ballons mit Glasperlen mit einem Gewicht von 9,5 kg habe heben und tragen müssen. Bei einem
dreißigmaligen beidhändigen Heben bedinge dies eine Kraft von 2.500 N. Dieser Beitrag zur Gesamtbelastungsdosis dürfe nicht
herausgerechnet, sondern müsse berücksichtigt werden. Der Richtwert von 12,5 MNh werde somit überschritten.
In der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2010 weist der Kläger nochmals darauf hin, dass er in der Jugend beschwerdefrei gewesen
sei. Das beidhändige Befüllen bzw. Heben und Tragen der Ballons mit Glasperlen (Gewicht: 9,5 kg) sei unter Zeitdruck erfolgt.
Weiterhin übergibt der Kläger einen Prospekt des von ihm verwendeten Fußpflegestuhles als Nachweis dafür, dass eine die Wirbelsäule
belastende Tätigkeit nicht ausgeübt werde.
Der Kläger stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.03.2009 sowie den Bescheid vom 21.01.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 23.03.2005 aufzuheben und festzustellen, dass bei ihm eine Berufskrankheit nach der Nummer 2108 der Anlage zur
BKV vorliegt.
Der Bevollmächtigte der Beklagten stellt den Antrag,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.03.2009 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß §
202 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i.V.m. §
540 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) sowie entsprechend §
136 Abs.2
SGG auf die Unterlagen der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Mit der Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird indes nur die mögliche Ursächlichkeit einer beruflichen
Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden. Im Einzelfall ist für das Vorliegen
des Tatbestands der Berufskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden
Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits
(haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten
schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht
grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom
27.06.2000
Vor allem hat die Präventionsabteilung der BG Elektro-Textil-Feinmechanik mit Berechnung vom 07.10.2008 zutreffend ausgeführt,
das Heben und Tragen (oder Halten) der Ballons mit Glasperlen liefere keinen Beitrag zur Gesamtbelastungsdosis. Bei einem
Gewicht von 9,5 kg wirke beim beidhändigen Heben der Last eine Kraft von 2.500 N. Denn das Tatbestandsmerkmal "Heben und Tragen
von schweren Lasten" ist bei Männern nur dann erfüllt, wenn ein beidhändiges Heben von 20 kg bzw. ein einhändiges Heben von
10 kg vorliegt. Dabei sind bei Männern bereits Druckkräfte ab 2,7 kN zu berücksichtigen (vergl. Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, RdZ 8.3.6.6.4.2). Bei einem Gewicht von 9,5 kg wirkt beim beidhändigen Heben
der Last eine Kraft von 2.500 N mit der Folge, dass das Heben und Tragen der Ballons mit Glasperlen hier keinen Beitrag zur
Gesamtbelastungsdosis liefert. - Entgegen der Auffassung des Klägers ist nicht entscheidungserheblich, dass er die Ballons
mit Glasperlen wie glaubhaft versichert unter Zeitdruck hat abfüllen müssen. Denn bei der Berechnung der Gesamtbelastungsdosis
nach dem MDD kommt es nicht darauf an, ob Bewegungsabläufe unter Zeitdruck erfolgen oder nicht.
Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.03.2009 zurückzuweisen.