Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Leistungsausschluss bei Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter
Freiheitsentziehung; Anwendbarkeit des § 929 Abs. 2 ZPO im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I. Mit dem am 22. Dezember 2010 beim Sozialgericht Berlin gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt
der Antragsteller die Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nebst Kosten für Unterkunft und Heizung
seit dem 1. Oktober 2010 sowie die Übernahme einer Betriebs- und Heizkostennachforderung für das Jahr 2009 mit Rechnung vom
8. November 2010 in Höhe von 506,82 EUR.
Der 1966 geborene Antragsteller ist Mieter einer 34,54 qm großen Wohnung, für die er seit dem 1. Januar 2011 eine Bruttowarmmiete
in Höhe von 325 EUR zu entrichtet hat. Der Antragsgegner gewährte ihm zuletzt mit Bescheid vom 19. April 2010 Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Mai 2010 bis zum 31. Oktober 2010 unter Anerkennung von Kosten für Unterkunft
und Heizung in Höhe von 287,53 EUR. Der Antragsteller stellte sich am 16. August 2010 ausweislich eines Schreibens der Justizvollzugsanstalt
des Offenen Vollzuges Berlin (nachfolgend: JVA) vom 16. November 2010 zum Strafantritt zur Verbüßung von drei Restgesamtfreiheitsstrafen
bis zum 2. April 2012. Seit Juli 2010 nahm er eine vom Antragsgegner befristete Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung
wahr, die mit Strafantritt endete. Am 6. Oktober 2010 wurde der Antragsteller zum Freigang zugelassen. Die Arbeitsmaßnahme
wurde im Zuge dessen zunächst wieder aufgegriffen und am 5. November 2010 erneut beendet. Der Antragsteller wird seither im
Außenkommando der JVA beschäftigt. Mit Bescheid vom 20. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November
2010 lehnte der Antragsgegner die Weitergewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab, gegen den der Antragsteller
beim Sozialgericht Berlin zum Aktenzeichen S 200 AS 38423/10 Klage erhoben hat, über die noch nicht entschieden ist.
Das Sozialgericht Berlin hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 21. Januar 2011 vorläufig verpflichtet, ab dem 22. Dezember
2010 bis zum 31. Mai 2011, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, dem Antragsteller Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum vom 22. Dezember 2010 bis zum 31. Dezember 2011 in Höhe von 107,70 EUR und
im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2011 in Höhe von monatlich 359 EUR und Kosten der Unterkunft im Zeitraum vom
22. Dezember 2010 bis zum 31. Dezember 2010 in Höhe von 83,56 EUR und im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2011
in Höhe von 318,53 EUR monatlich zu gewähren; im Übrigen hat es den Antrag sinngemäß zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat am 3. Februar 2011 gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt mit der wesentlichen Begründung, der Antragsteller
sei von den Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ausgeschlossen. Aufgrund der Inhaftierung habe er nach
diesem Gesetz keinen Leistungsanspruch. Denn er übe keine Beschäftigung von mindestens 15 Wochenstunden aus. Die fehlende
Erwerbsfähigkeit werde insofern gesetzlich fingiert.
II. Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts ist schon deswegen
aufzuheben, weil die einstweilige Anordnung nicht innerhalb der Frist des §
929 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) vollzogen worden ist. Nach dieser Vorschrift ist die Vollziehung des Arrestbefehls (hier der einstweiligen Anordnung) unstatthaft,
wenn seit dem Tage, an dem der Befehl verkündet oder der Partei (hier dem Beteiligten), auf deren Gesuch er erging, zugestellt
ist, ein Monat verstrichen ist. §
929 Abs.
2 ZPO findet gemäß §
86b Abs.
2 Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) auf den einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechende Anwendung.
Die danach analog geltende Vollziehungsfrist ist verstrichen. Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2011
ist dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 29. Januar 2011 zugestellt worden; bis zum 28. Februar 2011 (vgl. §
64 Abs.
2 Satz 2
SGG) sind keine Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Antragsgegner eingeleitet worden. Die einmonatige Voll-ziehungsfrist ist von
Amts wegen zu beachten; sie kann weder abgekürzt noch verlängert werden. Ist sie, wie hier, verstrichen, ist die Vollziehung
der einstweiligen Anordnung nicht mehr zulässig. Deren Regelungsgehalt ist aufgrund dessen ab diesem Zeitpunkt weggefallen
mit der Folge, dass die einstweilige Anordnung aufzuheben ist (vgl. schon den Beschluss des Senats vom 22. Juni 2007 - L 14 B 633/07 AS ER - Juris, sowie ferner LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26. Januar 2011 - L 6 AS 616/10 B ER - und LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13. Dezember 2010 - L 5 KR 173/10 B ER - jeweils Juris und m.w.N.).
Für den Ablauf der Vollziehungsfrist kommt es weder darauf an, dass der Antragsgegner nicht die Aussetzung der Vollziehung
des Beschlusses beantragt hat, noch darauf, dass der Antragsteller unter Fristsetzung bis zum 4. März 2011 mit Schriftsatz
vom 28. Februar 2011 angedroht hat, die Vollstreckung aus dem sozialgerichtlichen Beschluss zu betreiben. Denn der Wortlaut
des §
929 Abs.
2 ZPO, der die Vollziehung verlangt, ist insofern eindeutig.
Dahinstehen kann hier, ob aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art.
19 Abs.
4 des Grundgesetzes (
GG) oder zur vorläufigen Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums (Art.
1 Abs.
1 i.V.m. Art.
20 Abs.
3 GG) ausnahmsweise eine erneute einstweilige Regelung durch das Gericht geboten sein könnte (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, aaO.,
Rn. 20). Denn die Beschwerde des Antragsgegners ist auch in der Sache begründet.
Der Antragsteller hat auf die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts keinen Anspruch. Er ist weder leistungsberechtigt
nach dem Zweiten noch nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Gemäß § 7 Abs. 4 Sätze 2 und 3 Nr. 2 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung
des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (BGBl. I, 453) erhält Leistungen nach diesem Buch u.a.
nicht, wer sich, wie der Antragsteller, in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhält
und nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
So liegt es hier. Der Antragsteller hält sich trotz der Zulassung zur Vollzugslockerung, zum Regelurlaub sowie zum Freigang
im Sinne des §
39 Abs.
1 StVollzG in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung auf. Er ist zur Verbüßung einer Strafhaft seit
dem 16. August 2010 in der JVA untergebracht, welches dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gleichsteht. Bei dem
Aufenthalt in einer solchen, vom Gesetz gleichgestellten "stationären Einrichtung" kommt es nicht darauf an, ob diese ihrer
Art nach die Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von vornherein
ausschließt oder nicht (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 81/09 - Terminbericht Nr. 8/11, im Internet unter http://www.bundessozialgericht.de). Vielmehr setzt § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB
II voraus, dass eine Erwerbstätigkeit in vorgenanntem Mindestumfang tatsächlich ausgeübt wird. Dies ist beim Antragsteller
nicht der Fall. Er kann auch nicht einem Erwerbstätigen dadurch gleichgestellt werden, dass er im Außenkommando der JVA beschäftigt
wird. Hiermit kommt er vielmehr ausschließlich seiner Arbeitspflicht als Inhaftierter gemäß §
41 Abs.
1 StVollzG nach, ohne unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes beschäftigt zu sein.
Der Antragsteller hat auch gegen den örtlich gemäß § 98 Abs. 4 und 2 Satz 1 SGB XII zuständigen, beigeladenen Sozialhilfeträger
keinen Anspruch auf Übernahme der mit Schriftsatz vom 28. März 2011 sinngemäß jenem gegenüber geltend gemachten Unterkunftskosten.
Zwar hat der Beigeladene die Gewährung von Sozialhilfe mit Bescheid vom 18. November 2010, gegen den der Antragsteller Widerspruch
erhoben hat, zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller sei erwerbsfähig. Der Antragsteller hat jedoch gleichwohl
keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen. Ein solcher ergibt sich zunächst nicht aus § 27b Abs. 1 SGB XII in der Fassung
des Gesetzes vom 24. März 2011 (aaO.), wonach der notwendige Lebensunterhalt in Einrichtungen den darin erbrachten sowie in
stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt umfasst. Denn weder handelt es sich bei der
JVA um eine Einrichtung im Sinne des § 13 Abs. 2 SGB XII noch wird ein einrichtungsbezogener, ungedeckter Bedarf vom Antragsteller
geltend gemacht oder ist ein solcher ersichtlich.
Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gemäß §§ 67, 68 Abs.
1 SGB XII. Tatbestandliche Voraussetzung hierfür ist gemäß § 67 Satz 1 SGB XII, dass bei der leistungsberechtigten Person
besondere Lebensverhältnisse vorliegen, die mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind. Gemäß § 68 SGB XII i.V.m. § 1 Abs.
2 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (nachfolgend DVO) bestehen
besondere Lebensverhältnisse u.a. bei fehlender oder nicht ausreichender Wohnung, bei ungesicherter wirtschaftlicher Lebensgrundlage,
bei gewaltgeprägten Lebensumständen, bei Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung oder bei vergleichbaren nachteiligen
Umständen. Solches ist gegenwärtig bei dem Antragsteller, der frühestens im Sommer dieses Jahres aus der Haft entlassen werden
wird, nicht der Fall (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. März 2010 - L 8 SO 10/09 B - Juris Rn. 35 ff. zum Fall
der Haftunterbrechung).
Zwar kann nach der Rechtsprechung ausnahmsweise Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII präventiv gewährt werden, wenn sie schon während
der Haftzeit erforderlich wird. Insofern sind gemäß § 4 Abs. 1 und 2 DVO Maßnahmen zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung
nach dem Dritten Kapitel SGB XII möglich, wie vom Beigeladenen auch nicht mehr grundsätzlich bestritten wird. Eine solche
vorbeugende Leistung (vgl. auch § 15 Abs. 1 SGB XII) kommt jedoch regelmäßig nur bei kurzen Haftstrafen in Betracht, wenn
die Übernahme der Miete zum Erhalt der bislang bewohnten Unterkunft erforderlich ist. Zwar ist die Rechtsprechung hinsichtlich
der insofern längstens hinzunehmenden Haftstrafe nicht einheitlich (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Oktober
2009 - L 23 SO 109/09 B PKH - Juris Rn. 21 ff. m.w.N.; Bieback in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Auflage 2010, § 68 Rn. 22).
Unter Berücksichtigung dessen jedoch, dass hier nach Maßgabe des dem Schriftsatz des Antragstellers vom 28. Februar 2011 beigefügten
Schreibens seines Vermieters vom 21. Februar 2011 nunmehr Mietrückstände seit dem 1. November 2010 einschließlich der Betriebskostennachforderung
zuzüglich zu den laufenden Unterkunftskosten im Raum stehen, ohne dass ein Termin für die Haftentlassung gegenwärtig hinreichend
konkret bestimmt wäre, nach dem Schreiben der JVA vom 28. März 2011 vielmehr lediglich damit gerechnet wird, dass im August
2011 eine Reststrafaussetzung zur Bewährung stattfindet, ist vorliegend nicht von einer zeitlich beschränkten, kurzen Haftdauer
auszugehen, sondern von einem längerfristigen Haftaufenthalt, der die vorbeugende Sicherung der Wohnung durch den Beigeladenen
nicht erforderlich macht.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen
nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung auch nur teilweise oder in Raten aufzubringen (§§ 73a Abs.
1 SGG i.V.m. §§
114 f.
ZPO). Die Erfolgsausschichten der Rechtsverfolgung oder -verteidigung sind nicht zu prüfen (§
119 Abs.
1 Satz 2
ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).