Rentenversicherung
Berücksichtigung zusätzlicher Anrechnungszeiten
Anwendbarkeit des Ausschlusstatbestands
Ausgleich gegebenenfalls fehlender Pflichtbeiträge
1. Dass der Ausschlusstatbestand jedenfalls auch auf die Vorschrift des §
58 Abs.
1 Satz 1 Nr.
5 SGB VI Anwendung findet, folgt bereits aus dem insofern uneingeschränkten Wortlaut der Norm und deren systematischer Stellung innerhalb
des ersten Absatzes.
2. Anders als §
58 Abs.
2 SGB VI, der sich nur auf Einzeltatbestände des Absatzes 1 bezieht, ist §
58 Abs.
1 Satz 3
SGB VI offen formuliert.
3. Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, wonach gemäß §
58 Abs.
1 Satz 1 Nr.
5 SGB VI zwar grundsätzlich in einer früheren Rente berücksichtigte Zurechnungszeiten, die Beitragszeiten ersetzten sollten, bei einer
späteren Bewilligung einer anderen Rente als Anrechnungszeiten berücksichtigt werden.
4. Eine den Wortlaut einschränkende Anwendung der Ausschlussnorm widerspräche dagegen dem gesetzgeberischen Kompensationsgedanken.
5. Denn Anrechnungszeiten beruhen, da sie ohne eigene Beitragsleistung erworben sind, überwiegend auf staatlicher Gewährung
und sind insofern Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge mit dem Zweck des Ausgleichs gegebenenfalls fehlender Pflichtbeiträge.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zahlung einer höheren Rente unter Berücksichtigung zusätzlicher Anrechnungszeiten.
Die Klägerin ist 1953 im früheren J geboren. Seit 27. Mai 2003 war sie arbeitsunfähig und bezog nach vorangegangenem Krankengeldbezug
(vom 8. Juli bis 14. Juli 2003) ab 15. Juli 2003 bis 6. Juli 2004 und vom 8. Juli 2004 bis 31. Dezember 2004 Arbeitslosengeld
(Alg) und ab 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2006 sowie vom 1. November 2007 bis 31. Dezember 2007 Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende (Alg II); für die genannten Zeiten des Sozialleistungsbezugs wurden bis 31. Dezember 2007 Pflichtbeiträge
zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Die Beklagte gewährte der Klägerin ab 1. Februar 2004 unter Anerkennung eines
Leistungsfalls am 21. Juli 2003 zunächst befristet (Bescheide vom 24. Oktober 2007 und 4. Februar 2008) und sodann auf Dauer
(Bescheid vom 9. September 2009) Rente wegen voller Erwerbsminderung. Hierbei berücksichtigte sie die Zeiten vom 21. Juli
2003 bis 31. Dezember 2004 und ab 1. Januar 2005 bis 13. März 2013 als Zurechnungszeit (Bescheid vom 24. Oktober 2007).
Die Beklagte bewilligte der Klägerin auf ihren entsprechenden Antrag mit Bescheid vom 12. September 2013 anstelle der bisherigen
Rente ab 1. November 2013 Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Höhe eines Zahlbetrages von 748,61 EUR zuzüglich der
abgeführten Beitragsanteile für die Kranken- und Pflegeversicherung. Hierbei berücksichtigte sie die Zeiten vom 21. Juli 2003
(Leistungsfall) bis zum 6. Juli 2004, vom 8. Juli 2004 bis zum 31. Dezember 2006 und vom 1. November 2007 bis zum 31. Dezember
2007 nicht als Anrechnungszeit, weil diese nach Vollendung des 25. Lebensjahres lägen und Versicherungspflicht aufgrund des
Sozialleistungsbezugs bestanden habe. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7.
Oktober 2013 zurück mit der Begründung, Zeiten, in denen Versicherten nach Vollendung des 25. Lebensjahres wegen des Bezugs
von Sozialleistungen versicherungspflichtig waren, seien nach aktueller höchstrichterlicher Rechtsprechung keine Anrechnungszeiten.
Die Rentenbezugszeit in den gegenständlichen Zeiten treffe mit versicherungspflichtigem Sozialleistungsbezug (Alg und Alg
II) zusammen, so dass diese Zeiten vollständig als Pflichtbeitragszeiten im Versicherungsverlauf enthalten seien.
Mit ihrer nachfolgenden Klage hat die Klägerin geltend gemacht, das Bundessozialgericht (BSG) habe die Anerkennung von Anrechnungszeiten trotz Pflichtbeiträgen nicht generell ausgeschlossen. Nicht der Bezug der Erwerbsminderungsrente,
sondern der rechtlich unabhängige Anspruch auf Krankengeld, Alg und Alg II habe zur Rentenversicherungspflicht geführt.
Mit Urteil vom 22. September 2015 hat das Sozialgericht Berlin (SG) die Klage abgewiesen und zur Begründung unter Wiedergabe des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27.
März 2015 - L 14 R 44/14 - ausgeführt: Die Berücksichtigung zusätzlicher Anrechnungszeiten aufgrund des Bezugs der Erwerbsminderungsrente bzw. einer
vor dem Beginn dieser Rente liegenden Zurechnungszeit sei ausgeschlossen, weil die Klägerin im gesamten streitgegenständlichen
Zeitraum wegen des Bezugs von Sozialleistungen versicherungspflichtig gewesen sei und auch das 25. Lebensjahr vollendet habe.
Mit ihrer Berufung macht die Klägerin geltend, die Gefahr einer Doppelanrechnung bestehe nicht, weil bei der Bewertung von
beitragsgeminderten Zeiten sich im Rahmen einer Günstigerberechnung im Ergebnis allein der besser bewertete Tatbestand durchsetze.
Es bestehe ein Bedürfnis für die Bewertung einer Anrechnungszeit jedenfalls dann, wenn die parallel bestehende Pflichtbeitragszeit
einen anderen Lebenssachverhalt betreffe und - wie etwa beim Bezug von Alg II - nicht annähernd geeignet sei, den durch den
Rentenbezug entstehenden Beitragsausfall zu kompensieren. Andernfalls würden selbst niedrigste Beiträge aufgrund eines Alg
II-Bezugs die im Regelfall mit dem Gesamtleistungswert deutlich besser bewertete Rentenbezugszeit verdrängen, welches mit
dem Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. September 2015 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom
12. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2013 zu verurteilen, ihr eine höhere Altersrente
unter Berücksichtigung zusätzlicher Anrechnungszeiten vom 21. Juli 2003 bis 6. Juli 2004, vom 8. Juli 2004 bis 31. Dezember
2006 und vom 1. November 2007 bis 31. Dezember 2007 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die
Gerichtsakte und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat entsprechend den vorliegenden Einverständnissen der Beteiligten ohne
mündliche Verhandlung gemäß §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz -
SGG - hat entscheiden können und mit der die Klägerin ihre erstinstanzlich sinngemäß erhobene kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs-
und Leistungsklage i.S.v. §
54 Abs.
1 und 4
SGG gerichtet auf die Neufeststellung der ihr gewährten Altersrente und Zahlung eines höheren Rentenbetrags weiterverfolgt, ist
unbegründet.
Der angefochtene Rentenbescheid ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin daher nicht, soweit es die Beklagte abgelehnt hat,
die Zeiten vom 21. Juli 2003 bis 6. Juli 2004, vom 8. Juli 2004 bis 31. Dezember 2006 und vom 1. November 2007 bis 31. Dezember
2007 als Anrechnungszeit nach §
58 Abs.
1 Satz 1 Nr.
5 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (
SGB VI) als Anrechnungszeit zu berücksichtigen und ihr eine höhere Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 1. November 2013
zu zahlen. Danach sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte eine Rente bezogen haben, soweit diese Zeiten auch als
Zurechnungszeit in der Rente berücksichtigt waren, und die vor dem Beginn dieser Rente liegende Zurechnungszeit. Dies ist
zwar bei der Klägerin der Fall, wie sich aus dem Bescheid vom 24. Oktober 2007 ergibt, mit dem die Beklagte der Klägerin befristet
Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund eines Leistungsfalls am 21. Juli 2003 bewilligt hat unter Anerkennung der Zeiten
vom 21. Juli 2003 bis 31. Dezember 2004 wegen des Bezugs von Alg und sodann ab Januar 2005 bis 13. März 2013 wegen des Bezugs
der Rente als Zurechnungszeit.
Entgegen der Ansicht der Klägerin steht einer Berücksichtigung der gegenständlichen Zeiten als Anrechnungszeiten aber der
Ausschlusstatbestand des §
58 Abs.
1 Satz 3
SGB VI entgegen, wonach Zeiten, in denen Versicherte, wie die Klägerin, nach Vollendung des 25. Lebensjahres wegen des Bezugs von
Sozialleistungen versicherungspflichtig waren, keine Anrechnungszeiten sind. Eine einschränkende Anwendung dieser Vorschrift
lässt sich weder mit dem Wortlaut des Gesetzes begründen noch ist eine solche im Wege teleologischer Auslegung oder verfassungsrechtlich
geboten.
Dass der Ausschlusstatbestand jedenfalls auch auf die hier anwendbare Vorschrift des §
58 Abs.
1 Satz 1 Nr.
5 SGB VI Anwendung findet, folgt bereits aus dem insofern uneingeschränkten Wortlaut der Norm (vgl. auch BSG, Urteil vom 19. April 2011 - B 13 R 79/09 R - juris Rn. 23 zu §
58 Abs.
1 Satz 1 Nr.
4 SGB VI) und deren systematischer Stellung innerhalb des ersten Absatzes. Anders als §
58 Abs.
2 SGB VI, der sich nur auf Einzeltatbestände des Absatzes 1 bezieht, ist §
58 Abs.
1 Satz 3
SGB VI offen formuliert. Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 11/4124, 167), wonach gemäß §
58 Abs.
1 Satz 1 Nr.
5 SGB VI zwar grundsätzlich in einer früheren Rente, wie hier, berücksichtigte Zurechnungszeiten, die Beitragszeiten ersetzten sollten,
bei einer späteren Bewilligung einer anderen Rente als Anrechnungszeiten berücksichtigt werden. Indes, so die Gesetzesbegründung
weiter, sind - von einer Übergangsphase bis 1997 abgesehen - Zeiten, in denen Versicherte wegen des Bezugs von Sozialleistungen
(ausdrücklich genannt: u.a. Krankengeld, Alg und die seinerzeit noch geregelte, ab 1. Januar 2005 durch das Inkrafttreten
des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuchs und der hiermit im Bedarfsfalle einsetzenden Grundsicherungsleistungen ersetzte Arbeitslosenhilfe)
versicherungspflichtig waren, vollwertige Beitragszeiten und nicht Anrechnungszeiten. So liegt es, wie ausgeführt bei der
Klägerin, die aufgrund des Bezugs von Krankengeld, Alg bzw. Alg II gemäß §
3 Abs.
1 Nr.
3 bzw. 3a
SGB VI in den bis 31. Oktober 2010 geltenden Fassungen (des Gesetzes v. 18. Dezember 1989 [BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337], v.
30. Juli 2004 [BGBl. I S. 2014] und v. 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]) versicherungspflichtig war.
Eine den Wortlaut einschränkende Anwendung des Ausschlussnorm widerspräche dagegen dem gesetzgeberischen Kompensationsgedanken
(vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. März 2015 - L 14 R 44/14 - juris Rn. 29f.). Denn Anrechnungszeiten beruhen, da sie ohne eigene Beitragsleistung erworben sind, überwiegend auf staatlicher
Gewährung und sind insofern Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge mit dem Zweck des Ausgleichs gegebenenfalls fehlender
Pflichtbeiträge (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2011 - B 13 R 79/09 R - a.a.O. Rn. 35). So liegt es vorliegend, wie ausgeführt, indes gerade nicht. Zwar schließen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung
Pflichtbeiträge Anrechnungszeiten nicht generell aus (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 1995 - 4 RA 84/94 - juris Rn. 28), wenngleich grundsätzlich auf denselben Lebenssachverhalt nicht zugleich Regeln über verschiedene rentenrechtliche
Zeiten anwendbar sein sollten (vgl. §
54 SGB VI; BSG, Urteil vom 19. Dezember 1995, a.a.O. Rn. 25). Dies wäre hier aber der Fall, da die der Klägerin gewährten Sozialleistungen
(Krankengeld, Alg und Alg II) aufgrund der seinerzeit bestehenden Arbeitsunfähigkeit (bei noch nicht vom Rentenversicherungsträger
festgestellter voller Erwerbsminderung) auf demselben Lebensunterhalt beruhen und im Wege staatlicher Fürsorge der Sicherung
des Lebensunterhalt zu dienen bestimmt waren. Bei dieser Sachlage kommt die von der Klägerin begehrte, isolierte rentenrechtliche
Berücksichtigung als selbständige Anrechnungszeit auch nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalls nicht in Betracht.
Tragfähige sonstige Gesichtspunkte - auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht oder durch Sonderregelungen innerhalb des
SGB VI -, die gleichwohl eine einschränkende Auslegung des §
58 Abs.
1 Satz 3
SGB VI gebieten würden, finden sich nicht (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2011 - B 13 R 79/09 - juris Rn. 23, 32 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nrn. 1 oder 2
SGG liegen nicht vor.