Grundsicherungsleistungen
Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Beratungspflicht
Einmalige Einnahme
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann die Verletzung von Pflichten, die dem Sozialleistungsträger gegenüber den Leistungsberechtigten aus dem Sozialrechtsverhältnis
obliegen, für Leistungsberechtigte einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen.
2. Eine umfassende Beratungspflicht des Sozialversicherungsträgers oder des Sozialleistungsträgers besteht zunächst regelmäßig
bei einem entsprechenden Beratungs- und Auskunftsbegehren des Leistungsberechtigten.
3. Ausnahmsweise besteht auch dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten
Sachbearbeitung in einem Sozialrechtsverhältnis dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich
ist, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre.
4. Bei einer die Beendigung der Hilfebedürftigkeit für mindestens einen Monat bewirkenden Änderung ist es nicht mehr gerechtfertigt,
die zuvor berücksichtigte einmalige Einnahme nach erneuter Antragstellung weiterhin als Einkommen leistungsmindernd anzusetzen.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
für das sozialgerichtliche Verfahren abgelehnt, in dem die Kläger Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bereits für den Zeitraum vom 1. Mai bis 30. Juni 2015 begehren. Denn die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
liegen hier vor.
Nach §
73a Abs.
1 Satz 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i. V. m. §
114 Abs.
1 Satz 1 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält ein Prozessbeteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen
die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung
hinreichende Aussicht auf Erfolg verspricht und nicht mutwillig erscheint. Bei der Abwägung, ob einer Klage hinreichende Aussicht
auf Erfolg zukommt, gebietet Artikel
3 Abs.
1 des
Grundgesetzes (
GG) i. V. m. dem in Artikel
20 Abs.
3 GG allgemein niedergelegten Rechtsstaatsgrundsatz und der in Artikel
19 Abs.
4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie gegen Akte der öffentlichen Gewalt eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten
und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. In der Folge dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht
nicht überzogen werden, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht
selbst bietet, sondern ihn erst zugänglich macht (ständige Rechtsprechung, vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6.
Mai 2009 - 1 BvR 439/08 - zitiert nach juris -; vom 14. März 2003 - 1 BvR 1998/02 - in NJW 2003, 2976; vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 - in NJW 2000, 1936). Damit muss der Erfolg des Rechtsschutzbegehrens nicht gewiss sein; hinreichende Aussicht auf Erfolg ist nur dann zu verneinen,
wenn diese nur entfernt oder schlechthin ausgeschlossen ist. Die hinreichende Erfolgsaussicht ist daher gegeben, wenn das
Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der
Beweisführung überzeugt ist. Ist eine Rechtsfrage aufgeworfen, die in der Rechtsprechung noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig
ist, muss ebenfalls Prozesskostenhilfe bewilligt werden.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze bietet die vorliegende Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten. Zwar dürften die Erklärungen
der Kläger in ihrem Antrag auf Bewilligung von Leistungen vom 8. Mai 2015 recht eindeutig so auszulegen sein, dass sie Leistungen
erst ab dem 1. Juli 2015 geltend machen wollten (vgl. zur Auslegung eines Antrags nach dem SGB II nur Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 22. April 2015 - B 4 AS 22/14 R - juris). Dafür spricht unter anderem der handschriftliche Zusatz auf dem Antragsformular "für April + Mai + Juni kein
Bezug von Alg II Leben in den 3 Monaten von Abfindung", der im unmittelbaren Zusammenhang mit der Angabe zu einer am 2. April
2015 in Höhe von 6.082,33 Euro erhaltenen Abfindung steht und dem sich entnehmen lassen dürfte, dass Leistungen für die genannten
Monate nicht beansprucht wurden. Geht man davon aus, die Kläger hätten Leistungen auch für die Monate Mai und Juni 2015 erstmals
mit ihrer Widerspruchsbegründung vom 29. Juli 2015 geltend gemacht, so könnten sie wegen § 37 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB II damit keinen Erfolg haben.
Möglicherweise sind die Kläger aber über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch so zu stellen, als hätten sie Leistungen
für die streitigen Monate rechtzeitig geltend gemacht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann die Verletzung von Pflichten, die dem Sozialleistungsträger gegenüber den Leistungsberechtigten aus dem Sozialrechtsverhältnis
obliegen, für Leistungsberechtigte einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen (vgl. hierzu und zum Folgenden nur
BSG, a. a. O.; vgl. auch BSG, Urteil vom 31. Oktober 2007 - B 14/11b AS 63/06 R - juris). Eine umfassende Beratungspflicht des Sozialversicherungsträgers oder des Sozialleistungsträgers besteht zunächst
regelmäßig bei einem entsprechenden Beratungs- und Auskunftsbegehren des Leistungsberechtigten. Ausnahmsweise besteht auch
dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung in einem Sozialrechtsverhältnis
dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter
wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre.
Es dürfte jedenfalls im für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausreichenden Maße trotz gewisser Bedenken dahingehend,
ob ein SGB II-Leistungsträger wirklich auf alle Möglichkeiten einer "Leistungsoptimierung" hinzuwirken hat, vertretbar sein, hier von einer
nahe liegenden Gestaltungsmöglichkeit auszugehen. Denn es ging den Klägern auch ausweislich ihres bereits zitierten handschriftlichen
Zusatzes in ihrem Antrag vom 8. Mai 2015 ersichtlich darum, eine Anrechnung der dem Kläger zu 2. am 2. April 2015 zugeflossenen
Abfindung als Einkommen auf ihren Leistungsanspruch zu verhindern. Es erscheint jedenfalls vertretbar anzunehmen, dass die
Kläger dieses Ziel möglicherweise und für den Beklagten wohl auch erkennbar mit einem Leistungsbeginn schon ab Mai 2015 hätten
erreichen können. Denn in diesem Fall wäre die Abfindung möglicherweise als Vermögen zu berücksichtigen gewesen und hätte
angesichts der dem Beklagten bekannten Vermögensverhältnisse der Kläger einem Leistungsanspruch wohl nicht entgegen gestanden,
weil auch unter Berücksichtigung der Abfindung kein Vermögen vorgelegen haben dürfte, das die Freibeträge nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II überstiegen hat.
Der Senat verkennt in diesem Zusammenhang zwar nicht, dass nach der Rechtsprechung des BSG die nachträgliche Beschränkung des einmal gestellten Antrags, wenn dadurch die materiell-rechtlichen Leistungsvoraussetzungen
innerhalb des Antragsmonats zugunsten des Antragstellers verändert werden sollen, nicht der rechtlich zulässigen Disposition
des Antragstellers unterfällt (Urteil vom 24. April 2015 - B 4 AS 22/14 R - juris). Ein solcher Fall dürfte hier aber nicht vorliegen, weil eine Antragsbeschränkung hier nicht in Rede stehen dürfte,
und es jedenfalls fraglich sein könnte, ob der vorliegende Fall, in dem die Kläger bei am 31. März 2015 abgelaufenem Bewilligungszeitraum
einen Antrag auf Weiterbewilligung erst im Mai 2015 gestellt haben, mit dem vom BSG in seinem Urteil vom 24. April 2015 entschiedenen Fall vergleichbar ist, zumal das BSG in dieser Entscheidung das Recht des Antragstellers betont hat, grundsätzlich auch über den Beginn der Leistungsinanspruchnahme
zu bestimmen.
Auch verkennt der Senat nicht, dass man jedenfalls erwägen könnte, die am 2. April 2015 zugeflossene Abfindung auch dann als
Einkommen im Sinne des § 11 SGB II anzusehen, wenn man von einem zum 1. Mai 2015 wirkenden Leistungsantrag ausgeht, was einem Leistungsanspruch für die streitigen
Monate entgegen stehen könnte. Denn nach der Rechtsprechung des BSG begrenzt auch die erneute Antragstellung - hier zum 1. Mai 2015 - den so genannten Verteilzeitraum für eine einmalige Einnahme
nicht (vgl. BSG, Urteil vom 30. September 2008 - B 4 AS 29/07 R - juris). Eine einmalige Einnahme bleibt danach nach der weiteren Antragstellung grundsätzlich Einkommen und ist zu verteilen,
was allerdings dann nicht gilt, wenn die Hilfebedürftigkeit überwunden wird, zum Beispiel durch Erwerbseinkommen für mindestens
einen Monat und ohne Berücksichtigung der zu verteilenden einmaligen Einnahme und ohne sonstige, nicht nachhaltige Zuwendungen
Dritter. Bei einer die Beendigung der Hilfebedürftigkeit für mindestens einen Monat bewirkenden Änderung ist es nicht mehr
gerechtfertigt, die zuvor berücksichtigte einmalige Einnahme nach erneuter Antragstellung weiterhin als Einkommen leistungsmindernd
anzusetzen. Inwieweit die vorgenannten Grundsätze auch dann anzuwenden sind, wenn - wie hier - die in Rede stehende Einnahme
zum einem Zeitpunkt zufließt, in dem "eigentlich" und ohne die Einnahme Hilfebedürftigkeit besteht, in dem aber tatsächlich
aufgrund der fehlenden Antragstellung Leistungen nach dem SGB II nicht bezogen werden, erscheint jedenfalls fraglich. Es erscheint aber jedenfalls vertretbar, eine solche Einnahme als Vermögen
anzusehen, was vorliegend nach summarischer Einschätzung dazu führen würde, dass die Abfindung einem Leistungsanspruch der
Kläger in den streitigen Monaten nicht entgegen gestanden haben dürfte.
Auch die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe sind erfüllt. Insbesondere sind die Kläger nach
ihren aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht dazu in der Lage, sich auch nur teilweise an den Kosten
der Prozessführung zu beteiligen. Die Beiordnung der Verfahrensbevollmächtigten der Kläger folgt aus §
73a SGG i. V. m. §
121 Abs.
2 ZPO.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
73a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §§
118 Abs.
1 Satz 4,
127 Abs.
4 ZPO.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).