Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehungsweise wegen Erwerbsminderung.
Der 1974 geborene Kläger begann im September 1991 eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Am 10. November 1993 erlitt er
einen Wegeunfall, welcher zur Verletzung der Wirbelsäule führte. Gesundheitsbedingt musste der Kläger die Ausbildung abbrechen.
Der Bandscheibenvorfall L5/S1 wurde in der Folgezeit mehrfach operiert. Der Kläger hat zunächst eine Unfallrente wegen einer
MdE von 20 v H erhalten. Ab Juni 1995 nahm der Kläger an einer Umschulung zum Industrieelektroniker teil, welche er nach mehreren
krankheitsbedingten Unterbrechungen im Juni 1998 erfolgreich abschloss. Vom 5. Oktober 1998 bis zum 22. Februar 1999 war der
Kläger als Industrieelektroniker beschäftigt und danach aufgrund erneuter Verschlimmerung seiner Rückenprobleme krankgeschrieben.
In einer weiteren Operation im April 1999 erfolgte eine Versteifung in der Lendenwirbelsäule. Anschließend fand bis 14. Juni
1999 eine Rehabilitationsmaßnahme statt. Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde zum 20. August 2000 aufgelöst. Seitdem sind
für den Kläger Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bzw. der Arbeitslosigkeit bei der Beklagten gemeldet.
Am 21. Januar 2000 beantragte der Kläger die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte zog die Entlassungsberichte
der behandelnden Krankenhäuser für die verschiedenen Operationen sowie den Entlassungsbericht der Rehabilitationseinrichtung
vom 21. Juni 1999 bei. Sie holte das Gutachten des orthopädischen Sachverständigen Dr. L vom 13. Juli 2000 ein und veranlasste
bei der zuständigen Berufsgenossenschaft die Prüfung weiterer Rehabilitationsleistungen. Berufliche Rehabilitationsleistungen
wurden vom Kläger abgelehnt eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme fand vom 25. Mai bis 22. Juni 2000 statt. Von der Reha-Klinik
wurden die Diagnosen gestellt chronisches Schmerzsyndrom bei Zustand nach dorsoventraler Spondylodese L5/S1, Z.n. NPP-OP L5/S1
1994/1995, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, längere depressive Anpassungsstörung mit erheblicher Somatisierung.
Mit Bescheid vom 1. Oktober 2001 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit ab.
Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte das Gutachten von 11. Juni 2002 des orthopädischen Sachverständigen Dr. Z ein.
Sie wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2002 zurück. Unter Berücksichtigung aller erhobenen Befunde
und der hierdurch bedingten Einschränkung der Erwerbsfähigkeit werde der Kläger durchaus noch für fähig gehalten, vollschichtig
und regelmäßig körperlich leichte Arbeiten zu verrichten.
Seine Klage begründete der Kläger damit, dass er aufgrund der erheblichen Probleme infolge des Unfalls und der anschließenden
Operationen keiner geregelten Tätigkeit mehr nachgehen könne. Die Beklagte habe auch keine zumutbare Verweisungstätigkeit
benannt, weil die genannten Tätigkeiten vom Anforderungsprofil her in gesundheitlicher Hinsicht, aber auch sozial nicht zumutbar
sein. Entsprechende Arbeitsplätze seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vorhanden. Die Beklagte hat die Verweisungstätigkeit
eines Montage-, Prüffeld- und Verdrahtungselektrikers benannt und insofern auf ein Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom
28. August 2001 verwiesen. Das Sozialgericht hat die Befundberichte der behandelnden Ärzte und die medizinischen Unterlagen
des Arbeitsamtes (insbesondere Gutachten Dr. P vom 31.10.2002) und der Berufsgenossenschaft (insbesondere Reha-Berichte und
orthopädisches Gutachten Dr. H vom 11.02.2003) beigezogen. Es hat das neurologisch-psychiatrische Gutachten von Dr. T vom
19. April 2004 und das orthopädische Gutachten von Dr. V vom 18. Januar 2005 sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 21.
Juni 2005 eingeholt.
Mit Urteil vom 12. September 2005 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und dies damit begründet, dass der Kläger
nicht berufsunfähig, erst recht nicht erwerbsunfähig sei. Obwohl der Kläger in seiner Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt
sei, könne er noch körperlich leichte Arbeiten im Wechsel der Körperhaltung und unter Beachtung weiterer Einschränkungen vollschichtig
verrichten. Dabei sei insbesondere der Einschätzung durch den orthopädischen Sachverständigen des Gerichts zu folgen. Dessen
Einschätzung werde durch diejenigen des nervenärztlichen Sachverständigen des Gerichts bestätigt und durch die Ausführungen
der Gutachter im Verwaltungsverfahren und des Arbeitsamtes und der Berufsgenossenschaft sowie der behandelnden Ärzte nicht
ernstlich in Frage gestellt. Soweit der behandelnde Neurochirurg zu einer anderen Einschätzung gelangt sei, vermöge die Kammer
dem nicht zu folgen, weil dieser keine nachvollziehbaren und objektivierbaren Gründe für eine weitergehende Reduzierung der
Leistungsfähigkeit benannt habe. Mit dem festgestellten Leistungsbild könne der Kläger den zumutbaren Verweisungsberuf eines
Verdrahtungselektrikers noch ausüben. Aus den vorliegenden berufskundlichen Ermittlungen des LSG Nordrhein-Westfalen ergebe
sich ein Anforderungsprofil, das dem Kläger in medizinischer und fachlicher Hinsicht zumutbar sei. Es sei dem Kläger mit einem
Berufsschutz als Facharbeiter auch sozial zuzumuten.
Mit seiner Berufung macht der Kläger geltend, dass die bezeichnete Verweisungstätigkeit ihm weder gesundheitlich noch sozial
zuzumuten sei. Der Darlegungspflicht der Beklagten hinsichtlich der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit sei nicht
ansatzweise genügt. Die medizinischen Ermittlungen des Sozialgerichts seien unzureichend gewesen, weil ein neurochirurgisches
Gutachten einzuholen gewesen sei. Der Kläger hat sein Begehren auf Ansprüche seit Dezember 2000 beschränkt und verlangt keine
Leistungen wegen Berufsunfähigkeit mehr.
Der Kläger beantragt nunmehr,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. September 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 2001 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2002 zu ändern und
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger seit 1. Dezember 2000 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise ab dem 1. Januar
2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung, weiter hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach §
109 SGG das neurochirurgische Gutachten vom 6. Juli 2007 bei Dr. S, dessen ergänzende Stellungnahme vom 5. Januar 2008 und nach §
106 SGG das Gutachten der Fachärztin für Neurochirurgie A vom 13. November 2009 eingeholt.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und in Kopie neun Bände der Verwaltungsakte der Berufsgenossenschaft
vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes
wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg, weil dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit seit 1. Dezember 2000 zunächst
als Zeitrente aufgrund eines im Mai 2000 eingetretenen Leistungsfalls und spätestens seit Januar 2006 als Dauerrente zugestanden
hat. Insoweit waren das vom Kläger angefochtene Urteil und der Ablehnungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
zu korrigieren.
Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs 2 Satz 1
SGB VI in der 2000 maßgeblichen Fassung ein Versicherter, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande
ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Dabei kommt es nicht auf das konkrete Berufsleben des Betroffenen
an, sondern darauf, ob überhaupt noch irgendeine Erwerbstätigkeit von wirtschaftlicher Relevanz ausgeübt werden kann. Anspruch
auf eine solche Rente besteht auch dann, wenn das Restleistungsvermögen für Arbeiten von wirtschaftlichem Wert nicht mehr
acht Stunden arbeitstäglich erreicht und eine entsprechende Teilzeitbeschäftigung dem Versicherten nicht nachgewiesen werden
kann (st Rspr des BSG). Für eine solche nur als Zeitrente zu gewährende "Arbeitsmarktrente" bestimmt sich der Leistungsbeginn
nach §
101 Abs
1 SGB VI, wonach die Rente nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet
wird.
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers für einen Rentenanspruch mit Leistungsbeginn am 1. Dezember 2000 erfüllt. Der
Kläger war ab Mai 2000 nur noch in der Lage, vier bis sechs Stunden täglich eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
auszuüben. Dies ergibt sich aus dem durch den Senat eingeholten Gutachten der neurochirurgischen Sachverständigen. Gegen ein
darüber hinaus noch weiter eingeschränktes Leistungsvermögen sprechen für diesen Zeitpunkt sämtliche vorhandenen Gutachten,
die überwiegend noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen annahmen. Allerdings folgt der Senat der neurochirurgischen Sachverständigen
des Senats, dass zur Zeit der im Juni 2000 beendeten Rehabilitationsmaßnahme das Leistungsvermögen des Klägers selbst für
körperlich leichte Arbeiten aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung mit entsprechender Schmerzchronifizierung auf täglich unter
sechs Stunden gesunken war.
Die neurochirurgische Sachverständige hat detailliert und kritisch die bisherige Behandlung und die jeweiligen Vorgutachten
gewürdigt und die Vorbefunde einbezogen. Die einzelnen Gesundheitsstörungen auch unter Berücksichtigung des Schmerzerlebens
wurden eingehend, differenzierend hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Leistungseinschränkungen gewürdigt. Das Gutachten
hat daher für den Senat eine besonders hohe Überzeugungskraft. Die Sachverständige hat dargestellt, dass im Vordergrund ein
Postnukleotomiesyndrom stehe, das mit einem schwergradigen chronifizierten Nervenreizsyndrom der Nervenwurzel S1 und einem
entsprechenden schweren Schmerzsyndrom einhergehe. Damit seien objektiv durch die zunehmende Reizung und Fixierung des Nervs
im Spinalkanal die erheblichen Schmerzen belegt. Die Sachverständige konnte so für den Senat die Krankheitsentwicklung unter
Berücksichtigung des dadurch nachvollziehbaren Schmerzerlebens des Klägers plausibel darstellen. Sie hat insbesondere die
Behandlungen nach der OP 1999 gewürdigt. Die Rehabilitationsmaßnahme Mai/Juni 2000 war ausweislich des Reha-Entlassungsberichts
erfolglos. Es wurden als leistungsrelevante Diagnosen gestellt insbesondere ein chronisches Schmerzsyndrom bei Zustand nach
dorsoventraler Spondylodese L5/S1 und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Die neurochirurgische Sachverständige weist
darauf hin, dass bereits zum Zeitpunkt dieser Rehablitationsmaßnahme das chronische Schmerzsyndrom Stadium II nach Gerbershagen
erreicht hatte. Weil durch die Rehabilitationsmaßnahme kein Rehabilitationserfolg eintrat, bestand der im Entlassungsbericht
dargestellte Zustand für die als chronisch beurteilten Erkrankungen bereits bei Maßnahmebeginn, so dass für diesen Zeitpunkt
(Mai 2000) von einem dauerhaft untervollschichtigen Leistungsvermögen (hier mit weniger als sechs Stunden arbeitstäglich)
ausgegangen werden muss. Seit 2005 erfolgte eine ergänzende Schmerztherapie mit dem Morphinderivat Palladon mit zusätzlicher
Bedarfsmedikation Novalgin. Es bestand seit 2005 keine hinreichende Wegefähigkeit mehr.
Soweit die Sachverständigen der Beklagten und des Sozialgerichts sowie die Rehabilitationseinrichtungen noch zu anderen, günstigeren
Leistungsbeurteilungen gelangten, erscheinen diese nicht überzeugend, weil jeweils das Postnukleotomiesyndrom und das chronische
Schmerzsyndrom auch bei prognostischer Bewertung tendenziell unterschätzt wurden. Insofern hatte allerdings die neurochirurgische
Sachverständige bei ihrer Bewertung den großen Vorteil der späteren Sicht bei relativ großer Untersuchungs- und Behandlungsdichte.
Sie konnte auch angesichts des weiteren Krankheitsverlaufes zeigen, dass die Beschwerdedarstellungen des Klägers objektiv
begründet waren und die sich aus seinem Schmerzerleben ergebenden Leistungsbeeinträchtigungen früher eingetreten waren.
Das Gutachten der neurochirurgischen Sachverständigen des Senats wird bestätigt vom Gutachten des Neurochirurgen Dr. S. Auch
dieses ist in sich schlüssig, auch wenn es nicht so intensiv, wie das der Kollegin die Entwicklung der Beeinträchtigung des
Leistungsvermögens untersucht hat.
Der behandelnde Neurochirurg hielt den Kläger im März 2005 nicht mehr für in der Lage, eine regelmäßige Erwerbstätigkeit auszuüben.
Die Beurteilung durch den behandelnden Arzt wurde durch die beiden überzeugenden Gutachten der neurochirurgischen Sachverständigen
bestätigt. Noch in seinem Befundbericht vom Mai 2003 hatte sich der behandelnde Neurochirurg deutlich zurückhaltender geäußert.
Seine aus der intensiven Betreuung des Klägers folgende intensive Kenntnis des Falles und seine Fachkunde, die hinsichtlich
seiner Äußerungen gegenüber dem Gericht offensichtlich nicht durch die Nähe aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis getrübt ist,
bewirkt für den Senat eine sehr hohe Überzeugungskraft.
Seiner Einschätzung eines aufgehobenen Leistungsvermögens kann auch angesichts der Aufnahme intensiver schmerztherapeuthischer
Behandlung im Jahre 2005 der Eintritt des Leistungsfalls einer Dauerrente ab März 2005 entnommen werden. Der Anspruch auf
Zeitberentung im Rahmen der Arbeitsmarktrente setzte sich beim Kläger ununterbrochen bis zum Eintritt des Anspruchs auf eine
Dauerrente fort. Er begann wegen des für Mai 2000 anzunehmenden untervollschichtigen Leistungsvermögens mit einem Leistungsrest
für vier bis sechs Stunden wegen §
101 Abs.
1 SGB VI ab 1. Dezember 2000. Anhaltspunkte für einen früheren Zeitpunkt dauerhafter quantitativer Leistungseinschränkungen als Mai
2000 finden sich nicht in den medizinischen Unterlagen. In Hinblick auf die Krankheitsentwicklung des Klägers war die Zeitrente
zunächst sachgerecht auf etwa zwei Jahre zu befristen. Gemäß §
302b Abs.
1 Satz 2
SGB VI war die nahtlos anschließende weitere Zeitrente ab 1. Januar 2003 als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Diese folgende
Zeitrente war nunmehr auf drei Jahre bis zum 31. Dezember 2005 zu befristen. Die wegen des Leistungsfalls dauerhafter Erwerbsunfähigkeit
im März 2005 sodann zu gewährende Rente war eine Dauerrente, die wegen §
302b Abs
1 Satz 2
SGB VI ebenfalls als Erwerbsunfähigkeitsrente nach dem bis Dezember 2000 geltenden Recht zu gewähren gewesen ist.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 2000 waren erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Sie berücksichtigt den ganz überwiegenden Erfolg der Rechtsverfolgung.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür nach §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegt.