Rente wegen Erwerbsminderung
Psychische Unreife
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der im Jahr 1966 geborene Kläger ist türkischer Staatsbürger und lebt seit 1979 in Deutschland. Bis zum Jahr 1992 war er in
einem Textilunternehmen beschäftigt, seitdem besteht kein Beschäftigungsverhältnis mehr.
Am 24. September 2009 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte führte
umfangreiche medizinische Ermittlungen durch und lehnte schließlich mit Bescheid vom 15. Oktober 2010 und Widerspruchsbescheid
vom 7. Oktober 2010 den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger könne trotz seiner bestehenden psychischen Beeinträchtigungen
vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein.
Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin hat am 6. Juni 2011 und am 24. Juli 2013 jeweils nach vorangegangener
eigener Untersuchung des Klägers der Sachverständige Dr. (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie) medizinische Sachverständigengutachten
erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, der Kläger leide an einer gestörten Erlebnisverarbeitung, sei aber vollschichtig
erwerbsfähig und auch wegefähig.
Mit Urteil vom 21. Januar 2014 hat das Sozialgericht die Klage, gestützt auf das Gesamtergebnis der medizinischen Sachverhaltsaufklärung,
abgewiesen, weil der Kläger vollschichtig erwerbstätig sein könne.
Im anschließenden Berufungsverfahren hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 12. Dezember 2014 die Fachärztin für Neurologie
und Psychiatrie Dr. ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist sie zu der Einschätzung gelangt, der
Kläger simuliere und agraviere. Die Aggravation sei bewusstseinsnah, auch wenn die psychische Störung inzwischen chronifiziert
sei. Der Kläger sei aber vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar.
Am 26. Juni 2015 hat ein Termin zur Erörterung des Sachvershalts mit dem Vorsitzenden stattgefunden. Im Anschluss hieran hat
der Kläger die Einholung eines Sachverständigengutachtens nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie beantragt, das diese nach entsprechender richterlicher Beweisanordnung
am 8. Januar 2016 erstattet hat. Darin hat die Sachverständige ausgeführt, für die psychische Unreife des Klägers spreche,
dass er sogar in psychischen Notsituationen seine Bedürfnisse und sein Kranksein nicht richtig artikulieren könne. Statt die
tatsächlich bestehenden Angstzustände, depressiven Verstimmungen, seine seelische Bedürftigkeit und seine körperlichen Beschwerden
mitzuteilen, stelle der Kläger seine "Vergesslichkeit" in den Vordergrund, argumentiere völlig unsachlich und widersprüchlich.
So könne der Eindruck entstehen, der Kläger versuche lediglich, eine Rente zu erschleichen. Der Kläger sei jedoch tatsächlich
krank, es gehöre zu seiner neurotischen Erkrankung, dass er außerstande sei, in diesem für ihn entscheidenden Punkt sachbezogen
zu argumentieren, um quasi das Ausmaß seiner seelischen Erkrankung nicht wahrzunehmen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.
Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2010 zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung,
hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer ab September 2009 zu gewähren, hilfsweise schriftliche Hinweise des
Gerichts im Hinblick auf die Mängel des Gutachtens der Frau zu erteilen, weiter hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand
der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, denn dem Kläger steht kein Anspruch
auf Gewährung einer Rente wegen voller oder wegen teilweiser Erwerbsminderung zu. Die Voraussetzungen von §
43 Abs.
2 oder Abs.
1 Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (
SGB VI) sind nicht erfüllt, denn der Kläger ist weder voll noch teilweise erwerbsgenmindert. Er ist weiterhin in der Lage, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Der Senat weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück und sieht diesbezüglich gemäß §
153 Abs.
2 SGG von einer weiteren Darstellung der Gründe ab.
Weder das weitere Vorbringen des Klägers noch die im Berufungsverfahren durchgeführte Sachverhaltsaufklärung vermögen zu einer
anderen Entscheidung führen. So hat insbesondere die Sachverständige Dr. in ihrem Gutachten vom 12. Dezember 2014 bereits
herausgearbeitet, dass der Kläger weiterhin vollschichtig bspw. In seiner früher ausgeübten körperlich anstrengenden Tätigkeit
berufstätig sein kann. Denn der Kläger leidet zu keinem Zeitpunkt an einer schweren Depression oder einer schweren Angststörung.
Die vom Kläger angegebenen Beschwerden und Befunde sind überwiegend nicht durch objektivierbare Befunde belegbar, der Kläger
macht widersprüchliche und zum Teil auch falsche Angaben. Mindestens die vermeintlichen Bewegungseinschränkungen und das so
genannte Blendungs-Blinzeln in der neurologischen Untersuchung, aber auch die Gedächtnis- und Auffassungsstörungen im Rahmen
der von der Sachverständigen durchgeführten Untersuchung sind vom Kläger simuliert. Zwar liegt eine Chronifizierung der vom
Kläger angegebenen Beschwerden und vor allem seines Verhaltens und seiner Rolle eines Kranken innerhalb der Familie vor. Dies
beruht aber nicht auf einer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung, sondern allein auf den sozialen Folgen des Verlustes
seines Arbeitsplatzes. Der Verlust dieses Arbeitsplatzes und das lang dauernde Rentenverfahren haben maßgeblich zur Chronifizierung
der Beschwerden beigetragen und eine Heilung verhindert; nähme der Kläger eine Tätigkeit auf, würden die Beschwerden nicht
mehr fortbestehen. Darüber hinaus ist es insbesondere die Unterstützung seiner Familie, die das Verhalten des Klägers gefördert
hat. Der Kläger verhält sich im Beisein seiner Tochter vermeintlich vollkommen hilflos. Er erscheint als antriebsarmer, starrer
Vater, der sich von seiner Tochter anziehen lässt, von seiner Frau duschen lässt, den ganzen Tag im Pyjama zu Hause im Bett
liegt, der die Tabletten einnimmt, die die Tochter ihm gibt und der wie ein Dement-Patient das Alter seiner Kinder nicht mehr
weis. Durch sein demonstrativ hilfloses Verhalten hat der Kläger wesentlichen Einfluss auf die Lebensgestaltung der ganzen
Familie; dies steht aber einer Arbeitsaufnahme in medizinischer Hinsicht gerade nicht entgegen.
Dem gegenüber vermag das Sachverständigengutachten der nach §
109 SGG gehörten Ärztin Dr. nicht zu überzeugen. Diese Sachverständige, die das Gericht nicht von Amts wegen beauftragt hat, setzt
sich mit den Einschätzungen der vorangegangenen Gutachten nicht auseinander und leitet im Übrigen auch nicht tatsächlich bestehende,
objektivierbare und krankheitsbedingte Funktionsbeeinträchtigungen her. Dieses Gutachten kann eine Entscheidung des Senats
nicht begründen oder ändern. Soweit der Kläger geltend macht, ihn hätte ein schriftlicher richterlicher Hinweis im Hinblick
auf die Mängel dieses Gutachtens erteilt werden müssen, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass der Senat
dieses Gutachten nicht von Amts wegen eingeholt hat und es auch nicht eingeholt hätte, hat die Beklagte bereits durch eingereichte
ärztliche Stellungnahme vom 6. April 2016 auf die Mängel des Gutachtens hingewiesen. Diese waren der Klägerseite spätestens
ab diesem Zeitpunkt bekannt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, Zulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.