LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.03.2009 - 31 R 1690/08
Vorinstanzen: SG Berlin 18.08.2008 S 7 R 8635/07
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. August 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Die 1948 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Witwenrente; vorab ist streitig, ob es sich um eine
so genannte Versorgungsehe gehandelt hat.
Die Beklagte hatte ihrem 1943 geborenen Versicherten, nachdem sie ein Gutachten des Arztes für Innere Medizin und Psychotherapie
Dr. T vom 4. Oktober 2002 eingeholt hatte, mit Bescheid vom 05. Dezember 2002 eine Erwerbsminderungsrente ab 1. September
2002 gewährt.
Im August 2005 wurde bei dem Versicherten ein inoperables Zungengrund-Plattenepithelkarzinom vom niedrig differenzierten Typ
mit bilateraler Halsmetastasierung diagnostiziert und in den folgenden Monaten mit stationär durchgeführten Chemotherapien
behandelt. Der Versicherte befand sich u.a. vom 8. Februar 2006 bis 11. Februar 2006 in stationärer Behandlung wegen einer
akuten Opiatintoxikation und vom 27. März 2006 bis 29. März 2006 wegen des Verdachts auf ein Tumorrezidiv, der sich während
dieses Krankenhausaufenthaltes nicht bestätigt hat. Weitere Krankenhausaufenthalte folgten vom 11. Juli 2006 bis 15. Juli
2006, nachdem der Versicherte zu Hause bewusstlos vorgefunden worden war, und im September 2006, hier wurde ein Adeno-CA der
Lunge diagnostiziert. Erneut stationär behandelt wurde der Versicherte vom 13. Februar 2007 bis 15. Februar 2007 und vom 24.
Februar 2007 bis 2. März 2007; am 2. März 2007 verstarb er.
Am 8. März 2007 stellte die Klägerin, die den Versicherten am 15. März 2006 geheiratet hatte, einen Antrag auf Hinterbliebenenrente,
den die Beklagte, nachdem sie Entlassungsberichte über die Krankenhausaufenthalte des Versicherten seit August 2005 beigezogen
hatte, mit Bescheid vom 22. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 2007 ablehnte.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin sind unter anderem Unterlagen der die Klägerin behandelnden
Ärzte und erneut Unterlagen der den Versicherten behandelnden Ärzte beigezogen worden. Des Weiteren ist Beweis erhoben worden
durch Vernehmung der Tochter der Klägerin als Zeugin (hinsichtlich der Einzelheiten dieser Zeugenvernehmung wird auf Bl. 129/130
der Gerichtsakte verwiesen).
Mit Urteil vom 18. August 2008 hat das Sozialgericht Berlin die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. April 2007 eine große
Witwenrente zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht unter anderem ausgeführt, die Klägerin habe gegen die Beklagte
einen Anspruch auf Gewährung einer großen Witwenrente. Die Voraussetzungen für eine Rentengewährung lägen vor, denn die Voraussetzungen
des § 46 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ( SGB VI) seien erfüllt. Zwar sei gemäß §§ 46 Abs. 2 a, 242 a Abs. 3 SGB VI der Anspruch grundsätzlich ausgeschlossen, wenn die nach dem 1. Januar 2002 geschlossene Ehe nicht mindestens ein Jahr Bestand
gehabt habe. Hierbei handele es sich um eine widerlegbare Vermutung des Gesetzes, wobei für deren Vorliegen einziger Anknüpfungspunkt
der Tod vor Ablauf eines Jahres sei. Vorliegend greife die gesetzliche Vermutung, denn die Klägerin habe am 15. März 2006
den Versicherten geheiratet. Zum Zeitpunkt seines Todes am 2. März 2007 habe die Ehe also noch kein Jahr Bestand gehabt. Die
gesetzliche Vermutung könne aber durch besondere Umstände des Einzelfalles widerlegt werden. Sie sei widerlegt, wenn diese
Umstände ergeben würden, dass trotz der kurzen Ehedauer die Annahme nicht gerechtfertigt sei, dass es alleiniger oder überwiegender
Zweck der Heirat gewesen sei, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Die Widerlegung der Vermutung erfordere
gemäß § 202 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) i. V. m. § 292 Zivilprozessordnung ( ZPO) den vollen Beweis des Gegenteils. Der Vollbeweis sei erbracht, wenn alle Umstände des Einzelfalles nach vernünftiger Abwägung
des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet seien, die volle richterliche Überzeugung
hiervon oder einen so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit zu begründen, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifele. Dabei seien
im Rahmen der Amtsermittlung Nachforschungen in der Privat- und Intimsphäre grundsätzlich nicht anzustellen, sondern die besonderen
Umstände, die die gesetzliche Vermutung widerlegen könnten, seien anhand objektiver Ermittlungsmöglichkeiten in einer typisierenden
Betrachtungsweise zu ermitteln. Bei Berücksichtigung dieser rechtlichen und prozessualen Situation sei das Gericht nach der
mündlichen Verhandlung vom 18. August 2008 davon überzeugt, dass im vorliegenden Fall die Versorgung des Hinterbliebenen nicht
alleiniges oder überwiegendes Motiv für die Eheschließung gewesen sei. Die Kammer sehe daher die gesetzliche Vermutung als
widerlegt an. Gegen die Annahme einer Versorgungsehe könnten zunächst grundsätzlich folgende besondere Umstände sprechen:
- plötzlicher Unfalltod
- die tödlichen Folgen einer Krankheit seien bei Eheschließung nicht vorhersehbar
- Vorhandensein gemeinsamer leiblicher Kinder
- Erziehung eines minderjährigen Kindes des Verstorbenen durch den Hinterbliebenen
- Heirat zur Sicherung der erforderlichen Betreuung oder Pflege des anderen Ehegatten.
Im vorliegenden Fall sei der Versicherte nicht an den Folgen eines Unfalls verstorben, es gäbe keine gemeinsamen Kinder und
der Versicherte habe auch kein minderjähriges Kind hinterlassen. Dennoch stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass unter
Anlegung oben genannter Maßstäbe es nicht alleiniger oder überwiegender Zweck der Heirat gewesen sei, die Hinterbliebenenversorgung
zu sichern. Vielmehr gehe das Gericht unter Abwägung der Gesamtumstände davon aus, dass es sich vordergründig um eine Liebesheirat
gehandelt habe und die Klägerin mit dem Versicherten ihren Lebensabend habe verbringen wollen, um sich gegenseitig wie auch
in den vergangenen Jahren beizustehen und zu helfen. Nicht in allen Fällen, in denen der Versicherte bei der Heirat schwer
krank sei, sei Grund der Heirat die Hinterbliebenenversorgung. Im Vordergrund könne insbesondere auch die Absicht stehen,
eine schon länger bestehende Gemeinschaft zu legitimieren oder der Wunsch dem Partner bei seiner Krankheit beizustehen. So
liege es hier. Nach Auffassung des Gerichts habe die Eheschließung hier am Ende eines längeren Prozesses gestanden, in dem
sich zwischen der Klägerin und dem Versicherten eine Liebesbeziehung entwickelt habe und man zwar in Kenntnis der lebensbedrohlichen
Krankheit geheiratet habe, aber man bereits lange Zeit vor der Eheschließung dem Partner bei seinen Erkrankungen beigestanden
habe. Zu würdigen sei zunächst die langjährige Beziehung der Klägerin zu dem Versicherten. Diese spreche in ihrer Ausgestaltung
gegen eine Heirat aus überwiegenden Versorgungsmotiven. Das Gericht stütze seine Überzeugung zum einen auf die Angaben der
Klägerin in der mündlichen Verhandlung, die ohne Übertreibungen, in einfachen Sätzen und ohne zu dramatisieren auf konkrete
Nachfragen des Gerichts spontan und glaubhaft geantwortet habe. Widersprüche aus dem Verfahren hätten aufgeklärt werden können
und das Gericht habe sich davon überzeugen können, dass die Klägerin wahrheitsgemäß und soweit ihre Erinnerungen dies zugelassen
hätten geantwortet habe. Dabei sei gerade in der mündlichen Verhandlung aufgefallen, dass die Klägerin Zeiträume und Daten
aus der Vergangenheit nur noch sehr grob hätte wiedergeben können. Dies erkläre sich aus den insoweit limitierten mnestischen
Möglichkeiten der Klägerin und erlaube nicht den Rückschluss, dass es der Klägerin darum gegangen sei, bewusst wahrheitswidrige
Angaben zu machen. Sie habe auf ihre Art und in ihren Worten dem Gericht ein in sich schlüssiges Bild über die Umstände der
Eheschließung zu vermitteln vermocht. Die Klägerin sei aus Sicht der Kammer authentisch gewesen. Danach hätten sich der Versicherte
und die Klägerin nicht etwa jahrelang gegen eine Ehe entschieden und in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft zusammengelebt,
vielmehr habe sich die Beziehung entwickelt, bis man sich entschieden habe zusammenzuziehen und zu heiraten. Dies ergebe sich
aus den Angaben der Klägerin, die ausgeführt habe, dass sie sowieso immer zusammen gewesen seien und sich geholfen hätten
und letztlich gedacht hätten, dann könnten sie auch heiraten. Auch spreche für einen längeren Prozess, dass nach Angaben der
Klägerin sie den Versicherten seit 20 Jahren gekannt habe und seit ca. 10 Jahren mit ihm eine Liebesbeziehung geführt habe,
die zunächst eher mit einer Freundschaft als mit einer Lebensgemeinschaft zu vergleichen gewesen sei. Man habe sich vom gemeinsamen
Kartenspiel in der Stammkneipe gekannt und im Laufe der Zeit zueinander gefunden. Zum anderen stütze das Gericht seine Überzeugung
auf die Angaben der Zeugin. Die glaubwürdige Zeugin habe die Angaben der Klägerin im Kern zu bestätigen vermocht. Die glaubhafte
Aussage zu den Umständen der Eheschließung hätten das Gericht davon zu überzeugen vermocht, dass hier weder eine Scheinehe
noch eine Notheirat geplant gewesen sei. Nach den Angaben der Zeugin habe der Freundes- und Bekanntenkreis schon geraume Zeit
auf eine mögliche Hochzeit spekuliert und die Beteiligten darauf angesprochen. Auch der Versicherte habe die Zeugin mehrmals
gefragt, was Sie davon halte, wenn er ihre Mutter heiraten würde. Letztlich sei dies die Beschreibung eines Geschehens, dass
sich typischerweise abspiele, wenn ein Liebespaar mit dem Gedanken der Eheschließung spiele. Dass keine große Hochzeitsfeier
geplant gewesen sei, trübe dieses Bild nicht. Vielmehr sei dies angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Situation der
Betroffenen für das Gericht gut nachvollziehbar. Für die Klägerin und eine Liebesheirat spreche auch, dass der Bekanntenkreis
in der Stammkneipe eine Überraschungsfeier organisiert habe und so seiner freudigen Anteilnahme Ausdruck verliehen habe. Diese
Umstände stünden nach Auffassung des Gerichts in Widerspruch zu einer missbräuchlich geplanten Hochzeit. Dieser Eindruck werde
bestätigt durch die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zu den Akten gereichten Hochzeitfotos. Auf diesen sei ein
freudiges und stolzes Ehepaar zu erkennen, das sich mit entsprechender feierlicher Garderobe zeige und den Traditionen einer
Hochzeitsfeier im Rahmen des ihm möglichen nachgehe. Schließlich habe auch der Umstand, dass nach den Angaben der Klägerin
und der Zeugin die Klägerin schon lange Zeit vor der Hochzeit den Versicherten bei seinen Chemotherapien begleitet, die Ernährungssonde
regelmäßig gewechselt und gesäubert und mit dem Versicherten täglich Spaziergänge unternommen habe, gegen die Annahme einer
Versorgungsehe gesprochen. Gegen eine Versorgungsehe spreche auch, wenn das Ableben nach den gesundheitlichen Verhältnissen
zurzeit der Eheschließung nicht in absehbarer Zeit zu erwarten gewesen sei. Nach Auffassung des Gerichts sei der Tod des Versicherten
in naher Zukunft bei Eheschließung nicht vorhersehbar gewesen. Der Versicherte habe einen langwierigen Krankheitsverlauf aufgewiesen,
wobei sich sein Gesundheitszustand nicht ad hoc, sondern stetig verschlechtert habe. Er sei schon 1998 als polymorbider Patient
eingeschätzt worden, als er noch nicht an Zungenkrebs erkrankt gewesen sei. Auch liege der Beginn der Chemotherapie einige
Zeit vor der Hochzeit. Die Bestrahlungen habe der Versicherte zunächst gut vertragen. Zwar habe sich sein Gesundheitszustand
im Oktober 2005 und im Februar 2006 jeweils vorübergehend verschlechtert, jedoch habe der Versicherte nach wenigen Tagen und
ohne dass eine Verschlimmerung des Krebsleiden festgestellt worden sei, wieder entlassen werden können. Diese Umstände hätten
zu keiner Zeit Anlass gegeben an einen in naher Zukunft tödlichen Verlauf der Erkrankung zu denken. Laut ärztlichem Attest
des behandelnden Arztes seien ein Fortschreiten der Tumorerkrankung und das Bestehen von Lungenmetastasen zum Zeitpunkt der
Hochzeit noch nicht bekannt gewesen. Über die Heilungschancen und die allgemeine Lebenserwartung hätten die Beteiligten nie
gesprochen. Erst am 11. Juli 2006 habe sich der Gesundheitszustand des Versicherten so dramatisch verschlechtert, dass er
intensiv medizinisch habe behandelt werden müssen. Es fehle insofern an einem einschneidenden Ereignis vor dem Entschluss
zu heiraten, dass die Vermutung einer Notheirat am 15. März 2006 rechtfertigen würde. Die Klägerin habe vor diesem Hintergrund
mit dem Tod des Versicherten in naher Zukunft nicht rechnen müssen. Nach Inaugenscheinnahme der Hochzeitfotos in der mündlichen
Verhandlung sei dieser Eindruck des Gerichts auch bekräftigt worden, da auf diesen der Versicherte keineswegs kränklich, sondern
eher rüstig gewirkt habe. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung aller zur Eheschließung führenden Motive seien auch
die des Verstorbenen zu berücksichtigen, wobei ausreichend sei, dass einer der Eheschließenden nicht aus einem Versorgungswunsch
heraus geheiratet habe. Das Gericht halte es in hohem Maße für unwahrscheinlich, dass der Versicherte mit der überwiegenden
Absicht der Hinterbliebenenversorgung geheiratet habe. Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen zeige sich, dass dieser
eher sorglos mit Erkrankungen und ihren Folgen umgegangen sei. Der Versicherte habe trotz erheblich eingeschränktem Sehvermögen
im Juni 1998 das Tragen einer Brille abgelehnt, im Juli 1998 sei es zur verspäteten Erstellung eines Gutachtens gekommen,
weil der Versicherte nicht ins Labor gegangen sei, im Juni 2002 habe er zunächst einen stationären Aufenthalt trotz schmerzhaft
akuter Pankreatitis abgelehnt, Nachfragen an die Ärzte über seine allgemeine Lebenserwartung nach der Krebsdiagnose im August
2005 habe er nicht gestellt und er zeige sich trotz seines schmerzhaften Zungenkarzinoms auf den Hochzeitfotos mit Zigarette.
Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin sei zwischen ihr und dem Versicherten der sich im März 2006 nicht bestätigte Verdacht
eines Tumorrezidivs nicht thematisiert worden. Vor diesem Hintergrund sei es nahezu unwahrscheinlich, dass der Versicherte
selbst von seinem baldigen Ableben aufgrund der gesundheitlichen Beschwerden ausgegangen sei. Eine Hochzeit in Versorgungsabsicht
setze jedoch denknotwendig eine Auseinandersetzung mit der eigenen gesundheitlichen Lage und dem Bewusstsein, dass der Tod
in naher Zukunft eintreten könne, voraus. Das Gericht verkenne dabei nicht, dass für ein Versorgungsmotiv spreche, dass die
Klägerin selbst mittellos sei und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Anspruch nehmen müsse. Doch selbst wenn
dieser Umstand und die Kenntnis von den lebensbedrohlichen Erkrankungen des Versicherten bei der Entscheidung zur Heirat eine
Rolle gespielt hätten, ändere dies nichts an der gerichtlichen Überzeugung, dass das Motiv, die langjährige Liebesbeziehung
durch die Eheschließung zu besiegeln, zumindest als gleichwertiger Grund daneben bestanden habe.
Gegen dieses ihr am 15. September 2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 8. Oktober 2008 Berufung bei dem Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg eingelegt. Sie führt zur Begründung u.a. aus, nach ihrer Auffassung habe die Klägerin den Beweis, dass
ihre Ehe mit dem Versicherten entgegen der gesetzlichen Vermutung nicht überwiegend aus Versorgungsgründen geschlossen worden
sei, nicht erbracht. Soweit im angefochtenen Urteil ausgeführt werde, es habe sich um eine Liebesheirat gehandelt, die nach
einer langjährigen festen Beziehung erfolgt sei, weil man gemeinsam den Lebensabend habe verbringen wollen und dieses unter
anderem durch die in der mündlichen Verhandlung überreichten Hochzeitfotos belegt werden solle, überzeuge dies nicht. Die
Klägerin gebe an, mit dem verstorbenen Versicherten bereits seit 1987/1988 eine feste Beziehung geführt zu haben, ohne dass
sie in einer gemeinsamen Wohnung gelebt hätten. Eine langjährige eheähnliche Beziehung stehe jedoch keinesfalls einem alleinigen
oder überwiegenden Versorgungsgedanken entgegen. So werde in verschiedenen Urteilen der Sozialgerichte die Auffassung vertreten,
dass ein jahrelanges eheähnliches Zusammenleben die Versorgungsvermutung nicht widerlege, sondern vielmehr die Rechtsvermutung
unterstreiche, dass alleiniger oder überwiegender Zweck gewesen sei, der späteren Witwe eine Versorgung zu verschaffen. Diese
Rechtsauffassung werde auch von dem Landessozialgericht Berlin geteilt, dieses habe bereits am 8. April 1999 entschieden,
dass allein das Bestehen einer innigen Liebesbeziehung und die wiederholte Äußerung von Heiratsabsichten für die Widerlegung
der gesetzlichen Vermutung des § 594 Reichsversicherungsordnung nicht ausreiche (Az. L 3 U 99/97). Auch das Landessozialgericht für das Saarland habe festgestellt, dass allein das Bestehen einer Liebesbeziehung die Eingehung
einer Versorgungsehe noch nicht ausschließe, da eine Liebesbeziehung nicht zwangsläufig in eine Ehe einmünden müsse (Urteil
vom 26. September 2000, Az. L 2 U 54/98). Dies dürfte nach Ansicht der Beklagten auch für jede nichteheliche Lebensgemeinschaft gelten. Nach den Feststellungen des
Sozialgerichts sei die Heirat bei Kenntnis beider Ehepartner von der lebensbedrohlichen Krankheit des verstorbenen Versicherten
erfolgt. Beim Versicherten sei im August 2005 ein inoperables Zungenkarzinom mit Halsmetastasen festgestellt und eine Magensonde
gelegt worden. Im September/Oktober 2005 sei eine Chemo- und Strahlentherapie erfolgt. Zusätzlich habe es sich bei dem verstorbenen
Versicherten um einen multimorbiden Patienten gehandelt, bei dem auch unabhängig von der Krebserkrankung bereits seit August
2002 ausweislich des damals erstellten Rentengutachtens eine dauerhafte volle Erwerbsminderung wegen eines Leberparenchymschadens
bei Alkoholmissbrauch, eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus, einer chronisch rezidivierenden Pankreatitis und eines
degenerativen Lumbalsyndroms vorgelegen habe. Das Sozialgericht gehe dennoch davon aus, dass das Ableben des Versicherten
nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der Eheschließung in naher Zukunft nicht vorhersehbar gewesen sei.
Die gesundheitlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Heirat würden diese Annahme jedoch nicht stützen. Am 8. Februar 2006 habe
die Klägerin den Versicherten in seiner Wohnung in somnolenten (Somnolenz: Benommenheit mit abnormer Schläfrigkeit als leichtere
Form der Bewusstseinstrübung, z. B. bei Vergiftungen) bis stuporösen (stuporös: körperlich und geistig völlig regungslos)
Zustand vorgefunden und dessen Klinikeinweisung veranlasst. Nur wenige Tage später am 27. Februar 2006 habe sie die Eheschließung
beim Standesamt Charlottenburg-Wilmersdorf angemeldet. Nach der Eheschließung am 15. März 2006 habe der Versicherte bereits
am 27. März 2006 wegen des (zu diesem Zeitpunkt nicht bestätigten) Verdachts auf ein Tumorrezidiv stationär behandelt werden
müssen. Dass diese Umstände keinen Anlass gegeben haben sollten, an einen in naher Zukunft liegenden tödlichen Verlauf der
Erkrankung zu denken, sei nicht nachvollziehbar. Vielmehr habe mit einem jederzeit möglichen Rezidiv der Tumorerkrankung beziehungsweise
auch mit unter Umständen tödlichen Komplikationen bei der Behandlung gerechnet werden müssen. Entsprechend sei es bereits
vor der Heirat zu diversen Komplikationen gekommen. Soweit sich das Sozialgericht auf die Rechtsprechung des Landessozialgerichts
Berlin-Brandenburg berufe, nach der auch bei schwerer Krankheit des Versicherten die Versorgungsabsicht nicht Grund der Heirat
gewesen sein müsse (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31. Januar 2007, Az. L 16 R 487/06), werde darauf hingewiesen, dass dieses Urteil bisher nicht rechtskräftig sei, sondern mit der Nichtzulassungsbeschwerde
angegriffen worden sei. Eine Entscheidung hierzu stehe noch aus (Az. B 5 R 134/08 R, alt: B 5a/5 100/07 B). Die Vermutung einer Versorgungsehe könne auch nicht durch die wirtschaftliche Situation der Klägerin
widerlegt werden, sondern werde im Gegenteil gerade durch die Einkommens- und Lebensverhältnisse der Klägerin und des verstorbenen
Versicherten bestätigt. Die ausweislich der Heiratsurkunde berufslose Klägerin habe nach den Angaben aus ihrem Versicherungskonto
vor ihrer Heirat seit dem 1. Januar 2005 von Arbeitslosengeld II gelebt. Davor habe sie zuletzt im April 1986 Pflichtbeiträge
zur Rentenversicherung entrichtet. Eigene Rentenansprüche der zum Zeitpunkt der Heirat 57-jährigen Klägerin seien daher weder
in absehbarer Zeit zu realisieren noch könnten sie nach ihrer zu erwartenden Höhe die Existenz der Klägerin sichern. Der verstorbene
Versicherte hingegen habe zuletzt eine Rente in Höhe von 1.268,28 € netto bezogen, so dass die Klägerin bei Bezug einer Witwenrente
aus dessen Versicherung voraussichtlich nicht mehr auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes angewiesen gewesen wäre.
Das Versorgungsmotiv trete deshalb hier besonders deutlich hervor, so dass es schon besonderer Umstände bedürfe, um dessen
Überwiegen zu widerlegen. Diese lägen aber, wie bereits ausgeführt, nicht vor. Der volle Beweis dafür, dass die Ehe nicht
überwiegend aus Versorgungsgründen geschlossen worden sei, könne damit nicht als erbracht angesehen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. August 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die vorbereitenden Schriftsätze sowie auf den Inhalt der Beklagtenakte
(Versicherungsnummer 25 250243 B 049) sowie der Gerichtsakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen
ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht dazu verurteilt, der Klägerin eine große Witwenrente
zu gewähren; die Voraussetzungen hierfür sind erfüllt; die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe ist widerlegt. (§§ 46 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 2a, 242a Abs. 3 SGB VI)
Zur Begründung wird zunächst gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil verwiesen, denen sich der erkennende Senat anschließt.
Soweit die Beklagte ausführt, das angefochtene Urteil überzeuge nicht, soweit es sich auf die Annahme einer Liebesheirat stütze,
da eine langjährige eheähnliche Beziehung keinesfalls einem alleinigen oder überwiegenden Versorgungsgedanken entgegenstehe,
was durch die Urteile verschiedener Sozialgerichte und Landessozialgerichte sowie durch ein Urteil des Landessozialgerichts
Berlin vom 8. April 1999 bestätigt werde, überzeugt dies nicht. Die Beklagte setzt sich nicht mit den Besonderheiten des vorliegenden
Einzelfalls auseinander. Im vorliegenden Fall haben der Versicherte und die Klägerin - worauf bereits das Sozialgericht zutreffend
hingewiesen hat - gerade nicht bereits langjährig in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft in einem gemeinsamen Haushalt gelebt.
Der gemeinsame Haushalt wurde vielmehr zeitgleich mit der Heirat begründet. Zuvor hatten der Versicherte und die Klägerin
getrennte Wohnungen. Zutreffend hat das Sozialgericht angenommen, dass es sich um eine Entwicklung von einer Freundschaft
über ein Liebesverhältnis hin zu einer Ehe gehandelt hat. Die zuvor bereits längere Zeit bestehende Beziehung der Klägerin
mit dem Versicherten spricht damit im vorliegenden Fall nicht für eine Versorgungsehe; ob eine langjährige eheähnliche Beziehung
keinesfalls einem alleinigen oder überwiegenden Versorgungsgedanken entgegensteht und dies auch für jede nichteheliche Lebensgemeinschaft
gilt, wie die Beklagte ausführt, kann offen bleiben, da sich jedenfalls der vorliegende Einzelfall anders darstellt. Die Annahme,
dass jedenfalls für die Klägerin der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nicht alleiniger oder überwiegender Zweck der
Heirat war, ist auch durch den Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, bestätigt worden. So
hat die Klägerin im Termin für den Senat glaubhaft ausgeführt, dass sie jederzeit bereit gewesen wäre, den Versicherten auch
früher zu heiraten. Die Ausführungen hierzu erfolgten spontan, offen und ehrlich. Zu keinem Zeitpunkt entstand der Eindruck,
die Klägerin mache Angaben, die sie sich vorher zurecht gelegt und deren mögliche Folgen sie zuvor abgewogen habe. Vielmehr
entstand der Eindruck einer sehr spontan und emotional handelnden Persönlichkeit, der berechnende Überlegungen auch vor dem
Hintergrund einer eher einfachen intellektuellen Ausstattung fremd sind.
Auch die finanziellen Verhältnisse der späteren Eheleute vor der Heirat sprachen letztlich entgegen der Auffassung der Beklagten
nicht für eine Versorgungsehe. Zwar verkennt der Senat nicht, dass dem Versicherten und der Klägerin vor der Heirat mehr finanzielle
Mittel und geldwerte Vorteile zur Verfügung gestanden haben dürften als nachher. Der verstorbene Versicherte bezog zuletzt
eine Erwerbsunfähigkeitsrente von 1.268,28 €. Der Klägerin standen der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II (im Jahre 2006
345 €) sowie zusätzlich die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) für die
von ihre allein genutzte Wohnung zu. Nach der Heirat fielen die Hartz-IV-Leistungen der Klägerin weg, so dass die Eheleute
finanziell schlechter standen als vor der Heirat. Nach dem Tod des Versicherten konnte die Klägerin mit einer Witwenrente
von knapp 700,- € (Rentenfaktor 0,55 nach § 67 Nr. 6 SGB VI) rechnen. Damit stünde sie de facto in etwa so da, wie ohne Heirat mit Hartz-IV-Bezug. Im Jahre 2006 betrug die angemessene
Bruttowarmmiete in Berlin für einen Ein-Personenhaushalt 360,- € (Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten
der Wohnung gem. § 22 SGB II-AV-Wohnen- vom 7. Juni 2005 i. d. F. v. 30. Mai 2006, Amtsblatt für Berlin - ABl Nr. 49 S. 3743,
ABl Nr. 28 S. 2062), zuzüglich des Regelsatzes ergeben sich daher Ansprüche in etwa derselben Höhe, wie sie aus der Witwenrente
zu erwarten sind. Vor diesem Hintergrund kann von einer Versorgungsehe im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden. Dabei
verkennt der Senat nicht, dass Rentenbezieher im Hinblick auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen besser gestellt sind
als Hartz-IV-Empfänger. Im konkreten Fall ist aber nicht zu erwarten, dass die Klägerin, die seit 1984 Sozialhilfeleistungen
bezieht und 2007 selbst an einem Karzinom erkrankt ist, in der Zukunft Einkünfte aus Arbeitseinkommen bezieht. Von einem erheblichen
Vermögen des Versicherten, in dessen ungeschmälerten Genuss die Klägerin bei einem Weiterbezug von Hartz-IV-Leistungen nicht
gekommen wäre, ist nichts bekannt geworden.
Soweit die Beklagte sich gegen die Feststellung des Sozialgerichts wendet, beide Ehepartner hätten zum Zeitpunkt der Heirat
keine Kenntnis von den lebensbedrohlichen Krankheiten des verstorbenen Versicherten gehabt, überzeugen die Argumente der Beklagten
nicht. Zwar ist bei dem Versicherten im August 2005 ein inoperables Zungenkarzinom mit Halsmetastasen festgestellt worden
und es erfolgte im September/Oktober 2005 eine Chemo- und Strahlentherapie. Zutreffend hat jedoch das Sozialgericht dargelegt,
dass die behandelnden Ärzte des Versicherten ausgeführt haben, dass zum Zeitpunkt der Heirat im März 2006 bei dem Versicherten
zwar eine grundsätzlich bedrohliche Krebserkrankung vorgelegen hat, das alsbaldige Ableben jedoch nicht zu erwarten war. Eine
akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Versicherten ist erst im September 2006 eingetreten, als weitere Metastasen
in der Lunge festgestellt worden sind. Der Krankenhausaufenthalt im Februar 2006 war dagegen lediglich wegen einer akuten
Erkrankung, nämlich wegen einer Opiatvergiftung, notwendig worden. Zwar mag es durchaus sein, dass dieses einschneidende Ergebnis,
bei dem die Klägerin den Versicherten in somnolentem bis stuporösem Zustand vorgefunden hatte, auch ein Beweggrund war einen
gemeinsamen Haushalt zu gründen und zu heiraten. Dies heißt aber nicht zwangsläufig, dass eine solche Heirat eine Versorgungehe
ist. Sie kann vielmehr, wovon das Sozialgericht vorliegend zutreffend ausgegangen ist, auch dem Zweck der gegenseitigen Fürsorge
und Pflege dienen. Dafür spricht auch die im Juni 2007 operierte Krebserkrankung der Klägerin.
Nach alledem ist die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin zurückzuweisen.
Die Revision ist zuzulassen, denn die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegen vor. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Die Frage, wie sich eine langjährige eheähnliche Lebensgemeinschaft
auf die Annahme einer so genannten Versorgungsehe auswirkt, wird von den Landessozialgerichten unterschiedlich beantwortet
und sollte daher höchstrichterlich geklärt werden. Dies gilt auch für die Bedeutung der finanziellen Verhältnisse der Betroffenen.
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