Altersrente unter Berücksichtigung der Beschäftigung in einem Ghetto
Begriff der Zwangsarbeit
Genereller Arbeitszwang
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung der Zeit von August 1941 bis Dezember
1943 als Zeit der Beschäftigung in einem Ghetto sowie von Ersatzzeiten.
Der 1912 in J (auch J oder J) im Landesteil Moldau, Rumänien, geborene Kläger lebt in Israel, dessen Staatsangehörigkeit er
auch besitzt. Er wurde als Jude von den Nationalsozialisten verfolgt und ist als Verfolgter im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz
(BEG) anerkannt. In einer eidesstattlichen Erklärung gegenüber dem Bezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz gab der Kläger
am 30. April 1962 an, er habe als Jude in Rumänien unter den allgemeinen antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen gelitten und habe
von Juli 1941 bis zum 23. August 1944 das Judenzeichen in J-Rumänien getragen. Mit eidesstattlichen Versicherungen jeweils
vom 6. Mai 1962 bestätigten Frau E und Frau M, den Kläger seit der Vorkriegszeit aus J-Rumänien zu kennen. Seit Juli 1941
bis 23. August 1944 habe er in J das Judenzeichen tragen müssen. Mit diesem Kennzeichen hätten sie den Kläger ständig während
dieser Zeit gesehen. Sie könnten deswegen die Freiheitsbegrenzung bzw. -entziehung des Klägers während dieser Zeit aus eigenem
Wissen bestätigen. In einer Anfrage an den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS) in Arolsen gab der im Entschädigungsverfahren
bevollmächtigte Rechtsanwalt an, der Kläger habe in der Zeit von Juli 1941 bis zum 23. August 1944 in J einen Freiheitsschaden
durch Tragen des Judensterns erlitten. Er sei am 23. August 1944 befreit worden und dann bis Oktober 1944 in J verblieben.
Anschließend habe er sich einen Monat in B aufgehalten und dann acht Monate in Wien im R Spital, anschließend drei Monate
in S und einen Monat in B [richtig: ]. Die Auswanderung sei im November 1944 von Bt-Rumänien nach Palästina via Österreich
und Deutschland erfolgt, per Eisenbahn und von Deutschland per Flugzeug, mit seiner Gattin und drei Kindern. Weiter findet
sich in den Entschädigungsakten ein mit Schreibmaschine ausgefüllter und vom Kläger am 6. Mai 1962 unterzeichneter Fragebogen,
in dem angegeben wurde, dass der Kläger sich von Juli 1941 bis 23. August 1944 in J-Rumänien aufgehalten habe und dort in
der Freiheit beschränkt worden sei durch vollständige Freiheitsentziehung, Sperrstunden, "diff. gelb. Judenkennzeichen getragen".
Am 23. August 1944 seien sie von den russischen Truppen befreit worden.
In Israel hat der Kläger insgesamt 276 Monate Beiträge zur dortigen Rentenversicherung entrichtet und bezieht seit dem 1.
April 1977 eine Altersrente.
Am 4. Juni 2010 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Altersrente aufgrund einer Arbeit im
Ghetto. Er gab an, in der Zeit von Dezember 1941 bis Dezember 1943 im Ghetto Balta in Transnistrien Bauarbeiten bzw. Landwirtschaftsarbeiten
ausgeübt zu haben, Arbeitsstelle sei das Ghetto und Arbeitgeber der Judenrat gewesen. Vorher, in der Zeit von Oktober 1941
bis November 1941, habe er in J den Judenstern tragen müssen.
In den Akten der Beklagten findet sich eine "Ghettoliste", in der für Balta in der Ukraine, Gebiet Odessa; Transnistrien,
ein Ghetto aufgeführt ist, das am 30. August 1941 eröffnet und am 18. März 1944 liquidiert wurde. Im Ghetto hätten sich 4000
Juden befunden, zwei Waisenhäuser seien unterhalten worden.
Mit Bescheid vom 24. August 2011 hat die Beklagte den Antrag auf Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten abgelehnt. Die Arbeitszeit
von Dezember 1941 bis Dezember 1943 im Ghetto Balta sei nicht glaubhaft gemacht worden. Nach Auswertung der Entschädigungsakte
des Amtes für Wiedergutmachung habe sich der Kläger von Juli 1941 bis August 1944 in J/Rumänien aufgehalten und sei dort den
Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden ausgesetzt gewesen. Obwohl sie die jüngsten Angaben besonders beachtet hätten, könnten sie
sich die verbleibenden Widersprüche nicht erklären. Nach ihrem Kenntnisstand seien die Angaben nicht plausibel.
Am 20. März 2012 stellte der Kläger über seine Bevollmächtigten erneut einen Antrag auf Altersrente und Anerkennung von Versicherungszeiten.
Gleichzeitig wurde ein Antrag auf Überprüfung des Sachverhaltes gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nach Maßgabe des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) gestellt.
Am 11. Juli 2012 übersandte der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine Kopie einer Erklärung des Klägers aus der Entschädigungsakte
des Israelischen Finanzministeriums vom 8. Juli 2012. Darin hat der Kläger angegeben, in der Zeit von 1941 bis 1943 im Lager
Balta gewesen zu sein und von 1944 bis 1945 im Lager in J.
Mit Bescheid vom 21. August 2012 hat die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 24. August 2011 abgelehnt. Der Bescheid
vom 24. August 2011 sei nicht rechtswidrig. Nach nochmaliger gründlicher Auswertung der Unterlagen aus dem Entschädigungsverfahren
und den von dem Kläger aktuell gemachten Angaben habe ein Aufenthalt im Ghetto Balta leider nicht bestätigt werden können.
Nach den Unterlagen habe sich der Kläger durchgehend von Juli 1941 bis August 1944 in J aufgehalten. Die Zeit sei nicht in
einem vom Deutschen Reich eingegliederten oder vom Deutschen Reich besetzten Gebiet zurückgelegt worden und könne daher nach
dem ZRBG nicht berücksichtigt werden. Der Ort habe sich auf dem Gebiet Rumäniens befunden. Da in den Entschädigungsakten auch
ausdrücklich immer Rumänien angegeben worden sei, könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um dasselbe Ghetto auch
unter Beachtung von unterschiedlichen Schreibweisen gehandelt habe.
Zur Begründung des am 22. November 2012 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruches trug der Kläger vor, dass durch die
israelische Entschädigungsakte belegt werde, dass der Kläger von 1941 bis 1943 im Ghetto Balta inhaftiert gewesen und erst
danach nach J verbracht worden sei. Aus den übersandten Unterlagen des ITS gehe ebenfalls hervor, dass der Kläger nach Transnistrien
und nicht nach Rumänien deportiert worden sei. Der Kläger sei in J geboren und habe dort auch während des Krieges einige Zeit
verbracht, jedoch sei er nach seiner Erinnerung etwa im Sommer 1941 ins Ghetto Balta verschleppt worden, wo er ca. zwei Jahre
unter den denkbar schlimmsten Bedingungen inhaftiert gewesen sei. Im Jahr 1943 sei er dann zurück nach J gebracht worden,
wo er weiterhin den Judenstern habe tragen müssen. An das Entschädigungsverfahren erinnere sich der Kläger kaum noch. Er habe
seinem damaligen Bevollmächtigten vertraut und sei davon ausgegangen, dass die Entschädigungsanträge der Wahrheit entsprechend
ausgefüllt würden. Er könne nicht sagen, ob seine Verfolgung vollständig aufgenommen worden sei oder ob sein Rechtsanwalt
lediglich J angegeben habe. Der Kläger beherrsche die deutsche Sprache nicht und habe während des Verfahrens praktisch keine
Möglichkeit gehabt, die juristische Arbeit seines Bevollmächtigten zu überprüfen. Bei den Entschädigungsverfahren in den 60er
Jahren habe es sich um Massenverfahren gehandelt, die häufig oberflächlich und nicht mit der erforderlichen Sorgfalt bearbeitet
worden seien. Im vorliegenden Fall sei es sehr wahrscheinlich, dass der damalige Bevollmächtigte das Verfahren habe vereinfachen
wollen, indem er lediglich J angegeben habe. Für das dortige Verfahren sei es gänzlich irrelevant gewesen, ob der Kläger in
einem transnistrischen Ghetto inhaftiert oder in J durch den Zwang des Sterntragens in seiner Freiheit beschränkt gewesen
sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 2013 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Die Begründung entspricht im
Wesentlichen derjenigen in dem angefochtenen Bescheid.
Mit der am 14. Juli 2013 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er
habe in der Zeit von August 1941 bis Dezember 1943 hauptsächlich außerhalb des Ghettos gearbeitet. Er habe auf den Landgütern
in der Umgebung Feldarbeiten verrichtet, bei der Versorgung der Tiere geholfen und Instandsetzungsarbeiten auf den Höfen ausgeführt.
In den Wintermonaten habe er in einer Art Wäscherei gearbeitet und auch Häuser von Privatleuten geputzt. Zwischendurch habe
er immer wieder einige Wochen innerhalb des Ghettos gearbeitet, meist sei er zum Schneeschippen oder zur Durchführung von
Reparaturarbeiten an den Baracken eingeteilt worden. Er habe im Entschädigungsverfahren keine eigene Erklärung abgegeben.
Anders als in den allermeisten anderen Entschädigungsverfahren finde sich in seiner Akte keine eigene, handschriftlich verfasste
Schilderung der Verfolgung. Er habe, da er die deutsche Sprache nicht beherrsche, nicht lesen können, was in den Papieren
gestanden habe, die ihm sein Anwalt vorgelegt habe. Aus heutiger Sicht sei es bedauerlich, dass in den Entschädigungsverfahren
häufig die Verfolgungsgeschichten stark vereinfacht und zum Teil unvollständig und verkürzt dargestellt worden seien. Dies
sollte heute jedoch nicht zu Lasten der Verfolgten gehen.
Der Kläger legte eine eigene eidesstattliche Versicherung vom 27. Juli 2013 vor. Darin gab er an, dass er, als die Verfolgung
durch die Nazis eingesetzt habe, gleich den Judenstern habe tragen müssen. Er sei noch in J für ein bis eineinhalb Monate
geblieben, dann sei er mit Viehwagen nach Transnistrien transportiert und schließlich ins Ghetto Balta gebracht worden. Dort
habe er sich Arbeit gesucht, denn ohne Arbeit würde er diese zweijährige Haft nicht überlebt haben. Er habe durchgehend die
ganze Zeit im Ghetto gearbeitet, weil er sonst verhungert wäre. Der Judenrat habe ihm die Arbeit vermittelt. In den Sommermonaten
habe er den ukrainischen Bauern auf den Feldern bei der Getreide- und Maisernte geholfen. Weil er körperlich kräftig gewesen
sei und habe tischlern können, habe der Judenrat ihn für schwere Arbeiten im Umkreis des Ghettos eingeteilt. Er sei beim Häuserbau
eingesetzt worden. Er habe nicht nur Feldarbeit verrichtet, sondern auch für die rumänische Gendarmerie innerhalb des Ghettos
gearbeitet. Er habe die Räume gereinigt und gestrichen, Möbel getischlert und kleinere Geräte repariert. Manchmal habe er
schwere Lasten tragen müssen. In der Wäscherei, die die deutschen, rumänischen und italienischen Armeen bedient hätte, habe
er den Ofen angeheizt und Wasser gebracht. Für diese Arbeit habe er mehr zu essen bekommen, als bei den Bauern. In Balta habe
er bis Ende des Jahres 1943 bleiben müssen. Danach sei er nach J, Rumänien, zurückgekehrt. Dort habe er weiterhin den Judenstern
tragen müssen. 1949 sei er in Israel eingewandert, wo er bis heute lebe.
Weiter reichte der Kläger eine eidesstattliche Versicherung der Frau P vom 20. Oktober 2013 ein, in der diese angab, dass
sie den Kläger gut kenne, da er ihr Cousin sei. Sie seien zusammen gewesen im Ghetto Balta in Transnistrien von Anfang an,
vom Jahre 1941, bis vielleicht Ende 1943. An genaue Daten erinnere sie sich nicht. Sie könne bestätigen, dass sich der Kläger
im Ghetto Balta aufgehalten habe.
Mit Urteil vom 12. Dezember 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X zur Rücknahme des Bescheides vom 24. August 2011 seien nicht erfüllt. Der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass er sich
in der Zeit von August bzw. Dezember 1941 bis Dezember 1943 in dem Ghetto Balta aufgehalten habe. Der Kläger habe den Aufenthalt
in dem Ghetto Balta vorgetragen und eine eidesstattliche Versicherung von Frau P eingereicht. Nach Überzeugung der Kammer
genügten diese Mittel nicht, um den Aufenthalt des Klägers in dem Ghetto glaubhaft zu machen. Das Gericht sehe das in diesem
Verfahren geschilderte Verfolgungsschicksal als möglich, aber nicht als wahrscheinlicher an, als das in dem Entschädigungsverfahren
angegebene Schicksal des Klägers. Die eidesstattliche Versicherung von Frau P beschränke sich auf die Aussage, dass sie sich
mit dem Kläger zusammen in dem Ghetto aufgehalten habe.
Gegen das am 4. Februar 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 3. Mai 2015 Berufung bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
eingelegt. Er wendet sich in erster Linie gegen die s.E. fehlerhafte Gewichtung der vorgelegten Beweismittel durch das erstinstanzliche
Gericht. Es ergebe sich bei konkreter Gewichtung der Beweismittel eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Deportation
nach Transnistrien. So erkenne der Kläger zwar an, dass die Angaben im Entschädigungsverfahren gegen seinen Vortrag im Rentenverfahren
sprechen würden, das Sozialgericht habe aber die Angaben des Internationalen Suchdienstes und in dem Vordruck der Israelischen
Entschädigungsbehörde nicht ausreichend gewürdigt. Beide belegten die Deportation nach Transnistrien.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Dezember 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 21. August 2012 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24. April 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 24. August 2011 zurückzunehmen
und ihm Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten im Ghetto Balta in der Zeit von August 1941 bis Dezember 1943
und von Ersatzzeiten ab dem 1. Juli 1997 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Dezember 2014 zurückzuweisen.
Sie hat vorgetragen, dass der Kläger im Entschädigungsverfahren auf die explizite Frage nach sämtlichen Aufenthaltsorten während
der Verfolgungszeit angegeben habe, dass er sich bis Oktober 1944 in J aufgehalten, danach einen Monat in Bukarest, acht Monate
in Wien, drei Monate in S und einen Monat in B in Deutschland verbracht habe. Es verwundere schon, dass in dieser ausführlichen
Aufzählung der Aufenthalt in Balta von Dezember 1941 bis Dezember 1943 fehlen sollte. Im Übrigen blieben auch die erheblichen
Zweifel an der behaupteten Beschäftigung im Ghetto bestehen. So habe der Kläger im ersten Antrag auf Zahlung einer Rente im
Jahre 2010 angegeben, er habe im Ghetto Balta Bauarbeiten ausgeführt. Dagegen habe er im Jahre 2012 in seinem Antrag angegeben,
Feld- und Erntearbeiten getätigt zu haben.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Frau P durch den ersuchten Richter bei dem Friedensgericht in R, Israel.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Übersetzung des Protokolls des Friedensgerichts in Ramla vom 24. Januar
2016 verwiesen.
Nach Auffassung der Beklagten verbleiben auch nach der Vernehmung der Zeugin Frau P erhebliche Zweifel an der behaupteten
Beschäftigung im Ghetto Balta. Auch habe die Zeugin bekundet, dass der Kläger die Arbeit nicht freiwillig angenommen habe.
Es habe sich somit um Zwangsarbeit, die nach dem ZRBG nicht berücksichtigt werde, gehandelt.
Der Kläger hat zu der Zeugenvernehmung nicht Stellung genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze der Beteiligten
und den übrigen Akteninhalt verwiesen.
Die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Entschädigungsakten des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg
haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Dezember 2014 und der Bescheid der
Beklagten vom 21. August 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2013 sind rechtmäßig und verletzen den
Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 24. August 2011 gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X und auf Gewährung einer Altersrente. Die genannte Vorschrift lautet:
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder
Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für
die Vergangenheit zurückzunehmen.
Der Bescheid vom 24. August 2011 war, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZRBG durch das
Gesetz vom 15. Juli 2014 (BGBl. I Seite 952) rückwirkend zum 1. Juli 1997 geändert wurde und jetzt rückwirkend zum damaligen Zeitpunkt von dieser Rechtlage ausgegangen
werden muss (sog. geläuterte Rechtsauffassung, vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 44 SGB X, Rdnr. 38), rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente gemäß §
35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) i.V.m. dem Deutsch-Israelischen Sozialversicherungsabkommen (DISVA), da er zwar die Regelaltersgrenze erreicht, jedoch keine
anrechenbaren Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt hat und damit auch nicht gemäß Art. 20
Abs. 2 Satz 1 DISVA die für die Zahlung einer Rente erforderliche Zeit von mindestens zwölf Monaten Versicherungszeiten erreicht.
Für den Kläger liegen keine gemäß §
51 SGB VI anrechenbaren Zeiten vor. Die Zeit, die der Kläger - nach seinen Angaben - im Ghetto Balta in der Zeit von August 1941 bis
Dezember 1943 verbracht hat, ist nicht als Beitragszeit gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG zu berücksichtigen. Diese Vorschrift
lautet:
Dieses Gesetz gilt für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben,
wenn
1. die Beschäftigung
a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,
b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und
2. das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag,
soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird.
Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, dass er in dem Ghetto aus freiem Willensentschluss gearbeitet hat. Eine Tatsache ist
als glaubhaft anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel
erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X).
Der Kläger hat im Entschädigungsverfahren und im Rentenverfahren unterschiedliche Verfolgungsschicksale geschildert. Für den
Senat war keines der beiden Verfolgungsschicksale überwiegend wahrscheinlich. Es sind, worauf das Sozialgericht bereits zutreffend
hingewiesen hat, beide Verfolgungsschicksale möglich, für beide Verfolgungsschicksale liegen eidesstattliche Erklärungen des
Klägers als auch von Zeuginnen vor.
Die Angaben des Klägers im Rentenverfahren, er habe sich im Ghetto Balta aufgehalten und dort eine Beschäftigung ausgeübt,
werden durch die Angaben im Entschädigungsverfahren nicht gestützt. Auch die historischen Erkenntnisse sprechen nicht dafür,
dass sich der Kläger in Balta aufgehalten hat. Erstammt aus J, einem im Landesteil Moldau gelegenen Ort. Es wurden vor allem
die Juden Bessarabiens und der Nordbukowina im Jahr 1941 nach Transnistrien deportiert. Kurze Zeit später wurde diese Maßnahme
auch auf viele Juden der Südbukowina ausgedehnt. Juden in den übrigen Landesteilen (Moldau, Walachei, Dobrudscha, Banat, Südsiebenbürgen
und südliches Kreischgebiet), wurden in der Regel nicht deportiert; Ausnahmen waren Juden, die sich "kommunistisch" betätigten,
die der Pflichtarbeit fernblieben und "Spekulanten" (Geschichte der Juden in Rumänien, "Rumänien und der Holocaust", Wikipedia).
Auch nach den Angaben in "Über den Holocaust, Der Beginn der "Endlösung", Die Ermordung der rumänischen Juden", zu finden
über http://www.yadvashem.org/yv/de/holocaust/about/04/romania.asp, und in Ekkehard Völkl, "Die Tragödie des Judentums", Transnistrien
und Odessa (1941-1944), Schriftenreihe des Osteuropainstituts Regensburg-Passau, Verlag Lassleben, Regensburg 1996, Seite
93, wurden die Juden aus den Gebieten Bessarabien und der Bukowina nach Transnistrien deportiert. Da Jim Landesteil Moldau
liegt, stützen die historischen Erkenntnisse die Angaben des Klägers nicht, es ist allerdings auch nicht ausgeschlossen, dass
auch er nach Transnistrien deportiert wurde.
Die Aussage der Frau P vor dem ersuchten Richter in Israel führt nicht zur Annahme einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit
für den Aufenthalt des Klägers in Balta in der Zeit von 1941 bis 1943. Die Zeugin hat selbst mehrfach angegeben, sich nicht
genau erinnern zu können. Hinzu kommt, dass sie zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Ereignisse selbst erst 13 bis 15 Jahre
alt war. Sie kannte den Kläger, weil er ihr Cousin war. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich an ihn auf Grund von Zusammentreffen
in J und nicht in Balta erinnert. Ihre Aussage steht auch im Gegensatz zu den eidesstattlichen Versicherungen von Frau E und
Frau M, die beide bekundet haben, den Kläger während des Zeitraums Juli 1941 bis August 1944 "ständig" gesehen zu haben. Nur
eine der Angaben kann zutreffen. Für den Senat ergeben sich keine Hinweise, weswegen die Aussage von Frau P zutreffend, die
Angaben von Frau E und Frau M dagegen unzutreffend sein sollten, zumal Frau E und Frau M die Angaben sehr viel zeitnäher zu
den Verfolgungsereignissen gemacht haben. Es ist anzunehmen, dass ihr Erinnerungsvermögen 20 Jahre nach der Verfolgung besser
war als das der Zeugin P 75 Jahre nach den in Rede stehenden Ereignissen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass, wie gesagt,
die Zeugin P während ihrer Vernehmung mehrmals selbst bekundet hat, dass ihr Erinnerungsvermögen an diese Zeit nicht voll
erhalten ist, in dem sie z.B. angab: "Ich erinnere mich nicht. Das Alter tut das seine".
Auch die eigenen Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren und im Rentenverfahren sind unterschiedlich. Während er im
Entschädigungsverfahren, ebenfalls u.a. in einer eidesstattlichen Erklärung, angegeben hat, in der Zeit von Juli 1941 bis
August 1944 unter antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen gelitten zu haben, gibt er nun an, sich während der überwiegenden Zeit
innerhalb dieses Zeitraums in Balta befunden zu haben. Auch wenn die Erklärung des Prozessbevollmächtigten hierzu, es sei
für das Entschädigungsverfahren vollkommen irrelevant gewesen, ob sich der Kläger in J oder in B aufgehalten habe und hier
oder dort verfolgt worden sei und dass er die deutsche Sprache nicht beherrsche und deshalb nicht habe überprüfen können,
was sein damaliger Bevollmächtigter geschrieben hatte, nachvollziehbar ist, so ist doch auffällig, dass zum Teil das Verfolgungsschicksal
im Entschädigungsverfahren sehr detailliert geschildert, ein Aufenthalt in Balta jedoch nicht genannt wurde. So hatte der
damalige Bevollmächtigte gegenüber dem ITS im April 1965 zu Punkt II, Angaben über die Inhaftierung, lediglich angebeben:
"Von Juli 1941 bis 23. 8, 1944 Freiheitsschaden in J-Rumänien (Judenstern)" Da die Deportation nach Balta einer Inhaftierung
sehr viel ähnlicher ist als das Tragen des Judensterns verwundert es, dass diese Angabe nicht getätigt worden sein soll, obwohl
im Folgenden die Aufenthalte nach dem Krieg im einzelnen aufgelistet sind. Nach alldem ist es für den Senat nicht überwiegend
wahrscheinlich, dass sich der Kläger im Ghetto Balta aufgehalten hat, damit ist auch eine Tätigkeit dort nicht glaubhaft gemacht.
Hinzu kommt, dass auch dann, wenn man den Aufenthalt des Klägers in Balta und die Verrichtung von Tätigkeiten dort nach der
Aussage der Zeugin P als glaubhaft gemacht ansehen würde, Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 ZRBG bestünden.
Nach der Aussage der Zeugin P hat der Kläger die Arbeit nicht aus freiem Willensentschluss aufgenommen. Nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichtes (BSG) dient das Merkmal einer aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung der tatsächlichen Abgrenzung zur
Zwangsarbeit. Insoweit kann auf das Gesetz über die Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZStiftG)
zurückgegriffen werden, das in seinem § 11 demjenigen eine Entschädigung wegen Zwangsarbeit zubilligt, der in einem Ghetto
unter vergleichbaren Bedingungen (wie in einem Konzentrationslager) inhaftiert war und "zur Arbeit gezwungen wurde". Diese
Wendung macht auch für das ZRBG deutlich, dass eine Situation, in der jemand (allgemein) zur Arbeit gezwungen "war", nach
dem Gesetz noch keine Zwangsarbeit darstellt. Ein genereller (faktischer oder rechtlicher) Arbeitszwang allein macht die mit
Rücksicht darauf ausgeübte Tätigkeit nicht zur Zwangsarbeit und steht deshalb einer "Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss"
nicht entgegen; eine solche ist vielmehr erst dann nicht mehr gegeben, wenn jemand zu einer (spezifischen) Arbeit gezwungen
"wurde" (vgl. Urteil des BSG vom 03. Juni 2009, Az. B 5 R 26/08 R, juris Rdnr. 19 = SozR 4-2600 § 35 Nr. 3). Im Lichte dessen ist Zwangsarbeit die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem
(hoheitlichem) Zwang, wie z.B. bei Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte
Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Eine verrichtete Arbeit entfernt sich um so mehr von dem
Typus des Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses und nähert sich dem Typus der Zwangsarbeit an, als sie durch hoheitliche Eingriffe
überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann (vgl. BSG, aaO., juris, Rdnr. 20). Ob eine aus eigenem Willensentschluss im Sinne des ZRBG zustande gekommene Beschäftigung oder eine
den eigenen Willensentschluss ausschließende Zwangsarbeit vorlag, ist vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto
zu beurteilen. Dabei sind die Sphären "Lebensbereich" und "Beschäftigungsverhältnis" grundsätzlich zu trennen; ebenso spielen
die Beweggründe zur Aufnahme der Beschäftigung keine Rolle. Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung
liegt vor, wenn der Ghetto-Bewohner noch eine Dispositionsbefugnis zumindest in der Gestalt hatte, dass er die Annahme oder
Ausführung der Arbeit auch ohne unmittelbare Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (vgl. BSG, aaO., Rdnr. 21).
Die Zeugin hat bei ihrer Vernehmung angegeben, dass der Kläger keine Wahl hatte, ob er die Arbeit annimmt oder nicht. Die
Zeugin hat ausgeführt, dass niemand das freiwillig angenommen habe und der Kläger sich auch nicht habe verweigern können.
Keiner habe sich geweigert, und wenn er sich geweigert hätte, wäre das für ihn lebensgefährlich gewesen. Dies hat die Zeugin
bekräftigt durch den Satz: "Und wie das sein Leben gefährdet hätte!". Weiter hat sie angegeben, dass der Kläger zwangsweise
und unter Brechung seines freien Willens zur Arbeit gezwungen wurde. Diese Angaben der Zeugin lassen nur eine Interpretation
dahingehend zu, dass es keine Arbeit aus freiem Willensentschluss gewesen ist. Allerdings braucht dies nicht entschieden zu
werden, da der Senat aus den oben aufgezeigten Gründen bereits einen Aufenthalt und eine Tätigkeit des Klägers in Balta nicht
als überwiegend wahrscheinlich ansieht.
Damit sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht erfüllt.
Auch sind für den Kläger keine Ersatzzeiten zu berücksichtigen. Die Verfolgung und auch die Zeit nach dem Krieg erfüllen zwar
dem Grunde nach Tatbestände des §
250 Abs.
1 SGB VI, der Kläger war bzw. ist jedoch nicht Versicherter. Dafür müsste mindestens ein anrechenbarer Beitrag nach deutschem Recht
zurückgelegt worden sein. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Sie entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) liegen nicht vor.