Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im
Straßenverkehr).
Der Beklagte hatte bei der 1971 geborenen Klägerin im August 2004, zuletzt bestätigt im Januar 2008, einen Grad der Behinderung
(GdB) von 70 festgestellt.
Am 27. März 2008 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie insbesondere die Zuerkennung des Merkzeichens
"G" begehrte. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten Befundberichte und sonstigen medizinischen Unterlagen
durch den Chirurgen Dr. G und des Chirurgen Dr. D lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 21. August 2008 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2009 ab. Dem legte er folgende (mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB
bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde:
a) Persönlichkeitsstörung mit Intelligenzminderung (50),
b) Folgebeschwerden nach Carpaltunnelsyndrom-Operation beidseits mit Funktionsbehinderungen der rechten Hand (30),
c) Beinfunktionsstörungen bei Coxalgie links und Myositis ossificans der linken Glutaealmuskulatur (30),
d) Schultergelenkfunktionsstörungen (20),
e) Migräne (10),
f) Knorpelschäden am Kniegelenk (10).
Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens "G" weiterverfolgt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der Orthopädin Dr. L vom 5. August 2009 und des Nervenarztes T vom 29. Oktober 2009 eingeholt.
Der Beklagte hat das Gutachten der Versorgungsärztin Dr. B vom 16. April 2010 vorgelegt, welche nach allgemeinmedizinischer
Untersuchung der Klägerin die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verneint hat.
Mit Gerichtsbescheid vom 29. September 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Die Klägerin habe keinen Anspruch
auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten der Versorgungsärztin
Dr. B gestützt.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie unter Vorlage diverser ärztlicher Unterlagen
ihr Begehren weiterverfolgt. Sie trägt u.a. vor, nur wenige Schritte laufen zu können.
Der Senat hat das Gutachten des Orthopäden Dr. E vom 12. April 2011 eingeholt, der keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit
der Klägerin im Straßenverkehr hat feststellen können.
Der Klägerin beantragt ihrem schriftlichen Vorbringen zufolge,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides
vom 21. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2009 zu verpflichten, bei ihr ab März 2008 das
Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin im Termin verhandeln und entscheiden (§
153 Abs.
1 in Verbindung mit §
110 Abs.
1 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz -
SGG-).
Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit der angegriffenen Entscheidung im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten
vom 21. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2009 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin
nicht in ihren Rechten.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens "G" sind bei ihr nicht erfüllt.
Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen
die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
1 und 4
SGB IX). Nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse
des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen -
noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die
in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE
62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke
nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.
Denn Nr. 30 Abs. 3 bis 5 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 2008 bzw. Teil D Nr. 1d der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung
(VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter
Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert
wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem
der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die
Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben,
weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens,
auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise
aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und
die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Die in Nr. 30 Abs. 3 der AHP 2008 bzw. in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Fallgruppen liegen hier nicht
vor.
Die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lässt sich insbesondere nicht auf
eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei der Klägerin weder sich auf die Gehfähigkeit auswirkende
Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50
bedingen (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 1 der AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV), noch Behinderungen an den
unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sind, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung
des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arterielle Verschlusskrankheiten mit einem
GdB von 40 (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 2 der AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV). Denn die Behinderungen
an den unteren Gliedmaßen bedingen nach der Einschätzung durch den Gutachter Dr. E, welcher der Senat folgt, einen GdB von
30.
Der Sachverständige hat nach Untersuchung der Klägerin überzeugend dargelegt, dass folgende Beschwerden sich nachteilig auf
deren Gehvermögen auswirken:
- ein Lendenwirbelsäulensyndrom mit Lumbalgien und Lumboischialgien rechts bei computertomographisch nachgewiesenem Bandscheibenvorfall
sowie erhebliche degenerative Wirbelveränderungen,
- eine rezidivierende Muskel- und Sehnenansatzentzündung an der rechten Hüfte = Periarthrosis cocae und röntgenologisch initiale
Coxarthrose beidseits,
- ein initialer Verschleißzustand am rechten Kniegelenk und Kniescheibengleitlager,
- ein geringer Senkspreizfuß.
Das Wirbelsäulenleiden der Klägerin hat sich nach den Feststellungen des Gutachters seit Antragstellung verschlechtert: Der
im Arztbrief des Dr. R vom 16. Dezember 2010 mitgeteilte Verdacht eines Bandscheibenprolapses hat sich durch das CT der Lendenwirbelsäule
vom 26. Juni 2010 bestätigt. Das Lendenwirbelsäulensyndrom hat, bedingt durch die erheblichen degenerativen Veränderungen,
zu einer erheblich über den altersüblichen Grad hinausgehenden Funktionseinschränkung geführt. Unter Berücksichtigung der
Nervenwurzeleinklemmungserscheinungen und des Bandscheidenvorfalls handelt es sich um Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen
Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, für die nach Nr. 18.9 (Bl. 90) der Anlage zur VersMedV ein Einzel-GdB von 30
anzusetzen sind. In diesem GdB sind die funktionellen Auswirkungen der Beschwerden am rechten Hüftgelenk enthalten, da sie,
wie Dr. E nachvollziehbar ausgeführt hat, im Rahmen des Wirbelsäulenleidens bestehen.
Der beginnende Verschleißzustand der Kniegelenke und der Kniescheibengleitlager mit schmerzhafter Belastbarkeit bedingt einen
Einzel-GdB von 10.
Der von dem Beklagten für den Behinderungskomplex zu c) angesetzte Einzel-GdB von 30 ist nicht gerechtfertigt. Eine Funktionsbehinderung
des oberen Sprunggelenks konnte bei der Untersuchung der Klägerin durch den Gutachter nicht nachgewiesen werden. Auch war
auf den Röntgenbildern der Beckenübersicht eine Myositis ossificans der linken Glutaealmuskulatur nicht erkennbar. Die Beinfunktionsstörung
sind - wie oben ausgeführt - durch das Wirbelsäulenleiden bedingt. Die geringe Fußfehlform im Sine eines Senk-Spreizfußes
beidseits ohne wesentliche Belastungsbeschwerden führt zu keinem GdB.
Die nach §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.