Bewertung des Grades von Schädigungsfolgen
Zwangsexmatrikulation als traumatisches Ereignis
Kausalzusammenhang
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch über die Gewährung einer Grundrente sowie die Bewertung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS
- der bis 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit [MdE] bezeichnet wurde) nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz
(
VwRehaG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1950 geborene Kläger wurde 1972 durch die H-Universität zu B zwangsexmatrikuliert. Mit Rehabilitierungsbescheid vom 15.
Juni 1999 stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin auf den Antrag des Klägers fest, dass die Exmatrikulation
mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar ist.
Der Kläger beantrage am 30. Juni 2003 bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem
VwRehaG. Der Beklagte veranlasste versorgungsärztliche Begutachtungen des Klägers durch den Facharzt für Innere Medizin Dr. D auf
internistischem, durch die Fachärztin für Chirurgie H auf chirurgischem und durch den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Dr. S auf psychiatrischem Fachgebiet. Auf der Grundlage dieser Gutachten erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 6. Dezember
2007 als Schädigungsfolgen "gelegentliche Alpträume und Wiedererinnerungen", hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen
im Sinne des §
3 VwRehaG, an. Die Gewährung einer laufenden Rente lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, dass der GdS weniger als 25 v.H. betrage.
Ferner stellte er fest, dass für die Schädigungsfolgen ein Anspruch auf Heilbehandlung nach den Vorschriften des BVG bestehe. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. September 2008 zurück.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Anerkennung weiterer psychischer Leiden und die Gewährung einer
Grundrente nach einem GdS von mindestens 40 begehrt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Br vom 24. Mai
2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 4. Oktober 2011 eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers die Auffassung vertreten
hat, bei dem Kläger beständen als Schädigungsfolgen "Angst und depressive Störung, gemischt", die als leichter bis mittelgradig
behindernde Störung mit einem GdS von 20 v.H. zu bewerten seien. Der Kläger ist diesem Gutachten entgegengetreten. Hierzu
hat er eine Stellungnahme des ihn behandelnden Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. Bo vom 29. September
2011 vorgelegt.
Auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2012, bei welcher der Sachverständige Dr. Br sein schriftliches Gutachten erläutert
hat, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen
als Schädigungsfolge sowie auf Gewährung einer Beschädigtenrente.
Der Kläger hat mit der Berufung zunächst die Feststellung von weiteren psychischen Leiden als Schädigungsfolgen sowie die
Gewährung einer Grund- und Ausgleichsrente nach einem GdS von mindestens 50.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie Prof.
Dr. P vom 29. März 2016. Nach Untersuchung des Klägers hat der Sachverständige als Schädigungsfolgen "posttraumatische Belastungsstörung,
Panikstörung" festgestellt und mit einem GdS von 30 bewertet.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 12. Mai 2016 hat der Kläger erklärt, einen Anspruch auf Ausgleichsrente im
vorliegenden Verfahren nichtweiter geltend zu machen. Der Beklagte hat erklärt, dass er bei dem Kläger einen GdS von 30 anzuerkennen
und ihm eine Grundrente entsprechend dieser Höhe zu gewähren wird. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und den
Rechtsstreit im Übrigen fortgesetzt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2012 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 6.
Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2008 zu verpflichten, ihm unter Anerkennung psychischer
Störungen im Sinne von B 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Schädigungsfolgen mit Wirkung ab dem 1. Juni 2003
eine Grundrente nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 v.H. zu gewähren, hilfsweise, durch Einholung eines weiteren medizinischen
Sachverständigengutachtens über die Höhe es Grades der Schädigungsfolgen und insbesondere über das Vorliegen von mittelgradigen
sozialen Anpassungsschwierigkeiten Beweis zu erheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht durch das angenommene Teilanerkenntnis erledigt ist.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Versorgungsamtes Berlin verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers hat, soweit er sie weiter verfolgt, nur zum Teil Erfolg.
Das Sozialgericht hat insoweit die Klage zu Unrecht abgewiesen.
Der Kläger hat Anspruch gegen den Beklagten, ihm unter Anerkennung einer psychischen Störung im Sinne von B 3.7 der Versorgungsmedizinischen
Grundsätze mit Wirkung ab dem 1. Juni 2003 eine Grundrente nach dem
VwRehaG in Verbindung mit dem BVG zu gewähren, und zwar auf der Grundlage des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 12. Mai 2016 nach einem GdS von 30 v.H.
Nach §§
2 Abs.
1,
3 Abs.
1 Satz 1
VwRehaG erhält ein Betroffener, der infolge einer Maßnahme nach §
1 VwRehaG eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf
Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. Diese Versorgung umfasst nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG auch eine Beschädigtengrundrente im Sinne des § 31 Abs. 1 BVG.
Der Kläger war Adressat einer Maßnahme im Sinne des §
1 Abs.
1 VwRehaG. Die Exmatrikulation durch die H-Universität 1972 stellt eine hoheitliche Maßnahme einer deutschen behördlichen Stelle zur
Regelung eines Einzelfalls im Beitrittsgebiet aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 dar. Die Rechtsstaatswidrigkeit
dieser Maßnahme wurde auch - wie §
2 Abs.
1 VwRehaG verlangt - festgestellt, und zwar durch Rehabilitierungsbescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 15.
Juni 1999.
Die weiteren Tatbestandsmerkmale des §
3 Abs.
1 Satz 1
VwRehaG - eine infolge dieser Maßnahme erlittene gesundheitliche Schädigung und die gesundheitlichen Folgen dieser Schädigung - unterliegen,
den Grundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts entsprechend, dem Vollbeweis, während nach §
3 Abs.
5 Satz 1
VwRehaG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge der Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges
genügt.
Die Beteiligten stimmen - zu Recht - darüber ein, dass der Kläger durch die Maßnahme im Sinne des §
1 Abs.
1 VwRehaG eine gesundheitliche Schädigung erlitten hatte. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. P handelt es sich
bei der Zwangsexmatrikulation um ein traumatisches Ereignis.
Diese Schädigung zeitigte bei dem Kläger Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen. Der Sachverständige Prof. Dr. P hat ausführlich
und überzeugend dargelegt, dass der Kläger an einer posttraumatischen komplexen Angststörung leidet, die sich aus einer posttraumatischen
Belastungsstörung und einer Panikstörung zusammensetzt.
Die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen der infolge der Exmatrikulation erlittenen gesundheitlichen Schädigung
und der psychischen Erkrankung des Klägers ist zu bejahen. Hierbei ist die Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung zugrunde
zu legen (siehe Urteil des Senats vom 22. April 2015 - L 13 VU 21/13 -, juris, mit weiteren Nachweisen). Danach gilt als Ursache im Rechtssinn nicht jede Bedingung, gleichgültig mit welcher
Intensität sie zum Erfolg beigetragen hat und in welchem Zusammenhang sie dazu steht. Als Ursachen sind vielmehr nur diejenigen
Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Nach
den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. P, denen sich der Senat anschließt, hatte die Zwangsexmatrikulation von allen
traumatisierenden Ereignissen die größte Belastung des Klägers dargestellt. Panikattacken, Alpträume und Durchschlafstörungen
hatten sich erstmals im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Zwangsexmatrikulation eingestellt. Würde die rechtsstaatswidrige
Maßnahme hinweggedacht werden, hätten die vorangegangenen kleineren Behinderungen in der Schule mit Wahrscheinlichkeit keine
krankheitsentwickelnde Durchschlagskraft gehabt und den späteren Behinderungen hätte der Vorverletzungs-Nährboden für die
Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Panikstörung gefehlt. Insoweit stellt die Zwangsexmatrikulation
im Jahr 1972 das wesentliche Trauma dar, das die anderen Traumata deutlich überragte.
Der Kläger hat nach §
3 Abs.
1 Satz 1
VwRehaG in Verbindung mit § 31 Abs. 1 BVG Anspruch auf eine Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 v.H. Einen höheren GdS kann der Kläger nicht erfolgreich geltend
machen.
Nach § 30 Abs. 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge
anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen.
Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen.
Unter Heranziehung der in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (Vers-MedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" sowie unter Berücksichtigung des Beschlusses der Sektion "Versorgungsmedizin"
des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18./19. März 1998 und der Auskunft
des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 11. Juli 2000 hat der Sachverständige Prof. Dr. P vorgeschlagen, ab
Juni 2003 für die posttraumatische komplexe Angststörung einen GdS von 30 v.H. anzusetzen. Dieser überzeugenden Bewertung
schließt der Senat sich an. Nach den gutachterlichen Ausführungen leidet der Kläger an stärker behindernden Störungen, für
die in Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV ein GdS-Rahmen von 30 bis 40 vorgesehen ist, da aus der posttraumatischen Belastungsstörung, die sich 2000 verschlechterte
und im streitgegenständlichen Zeitraum die geforderten Kriterien vollständig erfüllt, und der Angstsymptomatik, die einen
mittelgradigen Ausprägungsgrad aufweist, eine wesentliche Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit resultiert.
Die höhere Stufe der schweren Störungen ist nicht erreicht. Denn es liegt noch kein schwerer Ausprägungsgrad der Angstsymptomatik
vor, und es bestehen zwar schwere berufliche Anpassungsschwierigkeiten, jedoch keine mindestens mittelgradige Störungen familiärer
oder sozialer Beziehungen. Gründe dafür, die Obergrenze des GdS-Rahmens zu wählen, liegen nach der Überzeugung des Senats
nicht vor.
Der Hilfsantrag des Klägers hat keinen Erfolg. Die Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens über
die Höhe des GdS und insbesondere über das Vorliegen von mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist nicht indiziert.
Denn es ist weder vorgetragen noch sonst erkennbar, dass das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie
Prof. Dr. P vom 29. März 2016 Fehler enthält, unvollständig ist oder maßgebliche Tatsachen bzw. Zusammenhänge ungeklärt gelassen
hat, so dass die eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines Gutachtens auf demselben Fachgebiet nicht gerechtfertigt
ist.
Die nach §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.